Tasso im Irrenhaus: Erzählungen

Buchseite und Rezensionen zu 'Tasso im Irrenhaus: Erzählungen' von Ingo Schulze
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4 von 5 (6 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Tasso im Irrenhaus: Erzählungen"

Drei Geschichten über die Kunst, das Leben und die verrückte bürgerliche Gesellschaft Ein Schriftsteller-Dissident flieht aus der Öffentlichkeit, um sein Leben zu retten. In der Installation ›Das Deutschlandgerät‹ findet er ein Muster, um die Gegenwart zu deuten. "Immer wenn man etwas weiß, gibt es gleich wieder etwas, das man nicht weiß." Mit dieser Behauptung verwickelt ein Schweizer Verleger unseren Erzähler vor Delacroix' ›Tasso im Irrenhaus‹ in ein ambivalentes Gespräch, das für einen Moment seltener Klarheit sorgt. Und in einem Berliner Hospiz hält der Maler Grützke fröhlich Hof, womit er die ängstlichen Besucher überrascht und ihnen Stunden von glücklicher Intensität beschert. Die Kunst und das Leben: tragisch und komisch, abgründig und heiter. Wirft uns das eine virtuos aus der Bahn, setzt uns die andere wieder aufs Gleis. Oder ist es umgekehrt?

Autor:
Format:Kindle Ausgabe
Seiten:128
Verlag:
EAN:

Rezensionen zu "Tasso im Irrenhaus: Erzählungen"

  1. Nachhaltige(s) Kunst(stück)

    „Die Kunst ist eine Tochter der Freiheit.“ (Friedrich Schiller)

    Nun. Nun ja. Wir haben es bestimmt alle schon erlebt: man liest ein Buch, diskutiert darüber, findet es spontan „letztlich leider langweilig“, legt es zur Seite und wenn man einige Zeit später dann eine Rezension schreibt – tja, dann merkt man, dass das Buch einen die ganze Zeit über nicht losgelassen, die Gedanken immer wieder dorthin gelenkt hat. Und dann steht der Rezensent auf einmal vor dem Dilemma, seine spontanen 2,5* zu erhöhen und sich plausibel dafür zu rechtfertigen. Puh – schwere Aufgabe.

    „Tasso im Irrenhaus“ war mein Erstkontakt mit Ingo Schulze. Es sind drei Erzählungen, die bereits in anderen Editionen verfügbar sind und für diese Veröffentlichung ediert wurden. Alle drei Texte verbindet die Kunst: mal als Installation (Das Deutschlandgerät), mal klassisch (Tasso im Irrenhaus) und dann relativ modern (Die Vorlesung).

    „Das Deutschlandgerät“ ist ein mehr als 60-seitiger Brief (ein Schelm, wer dabei an Kafka denkt *g*) an eine (fiktive?) Museumsdirektorin und erzählt anhand von Erinnerungen an Begegnungen des Ich-Erzählers mit dem DDR-Dissidenten B.C. (wohl auch ein fiktiver Charakter, der aber stellvertretend für viele Künstlerinnen und Künstler stehen dürfte) dessen Geschichte. Dabei nimmt ein großer Teil die ausführliche Beschreibung der Installation „Das Deutschlandgerät“ von Reinhard Mucha, die 1990 im Rahmen der Biennale in Venedig gezeigt wurde und (in kleinerer Version) noch heute in der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen zu sehen ist, ein. Dieser Teil ist dann auch der, der mir persönlich zu langatmig war. Liegt wohl auch daran, dass ich mit Kunstinstallationen wenig bis gar nichts anfangen kann, da mir dafür einfach die Vorstellungskraft und Phantasie fehlt *g*. Und trotzdem frage ich mich: was macht (moderne) Kunst mit einem? Bekommt man im Lauf der Zeit einen anderen Blick, verändert sich das Werk, bekommt es eine andere Bedeutung? Oder ist es der Mensch, das Individuum, dass sich verändert und sich dadurch der „Blick“ erweitert und die Interpretationsmöglichkeiten erhöhen? Eine durchaus philosophische Frage, über die es sich nachzudenken lohnt…

    Das Gemälde „Tasso im Irrenhaus“ von Eugene Delacroix steht im Mittelpunkt der titelgebenden Geschichte. Der Ich-Erzähler soll einen Vortrag über eben jenes Gemälde halten und schaut es sich im Original in der Schweiz an. Dabei wird er von einem weiteren Museumsbesucher „gestört“, mit dem sich ein (eher einseitiges) Gespräch entwickelt, in dessen Verlauf die geneigte Leserschaft aber einiges (neues) über die Schweiz und ihre ach so tolle und stets propagierte und betonte Neutralität und das Steuerwesen dort lernt. Insgesamt hat mich diese Geschichte am meisten der drei Erzählungen beeindruckt.

    Kann es in einem Hospiz Fröhlichkeit geben? Diese Frage stellt sich nicht nur mir angesichts der „ausgelassenen“ Stimmung im Zimmer des Malers Johannes Grützke. Hier soll der Ich-Erzähler über ein Bild von ihm schreiben. Das Gespräch entwickelt sich ganz anders, als ich es mir vorgestellt habe, war mir (teilweise) inhaltlich auch zu „kunstvoll“ und abgehoben. Und trotzdem lässt mich auch diese Erzählung im Nachhinein nicht los.

    Das alles scheint keine Begründung für die höhere Benotung zu sein und doch: „Tasso im Irrenhaus“ lässt mich seit Wochen nicht los und ich zolle Herrn Schulze meinen Respekt für seine teils kunstvolle, wunderbare Sprache und den nachhaltigen „Giftpfeil“. Und so bleibt mir nichts Anderes übrig, als meine Bewertung zu erhöhen und 4 Sterne zu zücken. Wer weiß, ob irgendwann nicht noch 5 draus werden…

    ©kingofmusic

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  1. 4
    28. Jun 2021 

    Kluge Essays eingebettet in eine narrative Rahmenhandlung

    Die drei hier versammelten Erzählungen sind schon vor Jahren in Literaturzeitschriften erschienen und nun für diesen Band vom Autor überarbeitet und umgeschrieben worden. Im Zentrum einer jeden Geschichte steht ein Kunstwerk , über das ein Schriftsteller einen Essay verfassen, bzw. einen Vortrag halten soll.
    In der ersten und längsten Erzählung geht es um die Installation „ Das Deutschlandgerät“ ( so auch der Titel der Erzählung ) von Reinhard Mucha, die 1990 für den Deutschland- Pavillon auf der Biennale in Venedig aufgebaut und später in Düsseldorf reinstalliert wurde. Dieses Kunstwerk löst bei dem Ich- Erzähler Erinnerungen aus an einen von ihm hoch verehrten Schriftsteller. Dieser sah in der Installation eine Metapher, die ihn selbst betraf. „ ….dass man etwas, was man mal gemacht habe, nicht einfach in einer anderen Zeit und an einem anderen Ort wiederholen könne, sondern es selbstverständlich neu installieren, also auf den neuen Zusammenhang hin befragen müsse.“ Dieser B.C., ein ehemaliger Dissident aus der DDR, hadert mit seiner Rolle im wiedervereinigten Deutschland. Er fühlt sich missverstanden. Außerdem wird von ihm eine bestimmte Haltung gefordert, die er nicht einnehmen kann oder will.
    In der zweiten titelgebenden Erzählung geht es um das gleichnamige Gemälde „ Tasso im Irrenhaus“ von Eugene Delacroix. Es zeigt den italienischen Renaissance- Dichter Torquato Tasso, der in seiner Gefängniszelle von Gaffern bedrängt wird. Der Ich- Erzähler soll darüber einen Vortrag halten und reist deshalb nach Winterthur in das dortige Museum, um sich vor Ort Gedanken zu machen. Dabei wird er von einem älteren Herrn angesprochen, der ihm regelrecht ein Gespräch aufzwingt. Dieser brilliert nun so mit seinem Wissen, dass der Ich- Erzähler ganz eingeschüchtert wird. Danach steigert sich der Fremde noch in eine Wutrede auf die Schweiz hinein, die mit ihren Waffenlieferungen in die Krisengebiete der Welt viel Geld macht und gleichzeitig seine eigene Neutralität betont und mit ihren Bankgeschäften von weltweiten Verbrechen profitiert. Bei seiner Weiterreise mit dem Schiff über den Bodensee fühlt sich der Erzähler wie Tasso auf dem Gemälde von sonderbaren Mitreisenden beobachtet.
    In dieser Erzählung bekommt der Leser nicht nur eine genaue Beschreibung des Bildes, sondern umfangreiche Informationen sowohl zum Maler als auch zum Portraitierten. Das verknüpft Ingo Schulze mit allgemeinen Betrachtungen zur Kunst, der Rolle des Künstlers und zur politischen Weltlage.
    In der letzten Erzählung „ Die Vorlesung“ soll der Ich- Erzähler, ein Schriftsteller namens Ingo Schulze ( „ Schulze, Ingo, er arbeitet in Prosa.“ so wird er in der Geschichte vorgestellt ) über ein Bild von Johannes Grützke schreiben. Dazu besucht er den todkranken Maler in einem Hospiz, eher widerwillig. Fürchtet er sich doch vor der Konfrontation mit einem Sterbenden. Stattdessen erwartet ihn aber ein Zimmer voller Menschen - Verwandte und Freunde des Malers sind zu Besuch. Und es wird gegessen und getrunken, geredet und diskutiert. Es geht in den Gesprächen um abstrakte und gegenständliche Malerei, über die gesellschaftliche Bedeutung von Kunst . Dabei fallen Sätze wie „ Kunst ist nicht modern, sondern immer.“
    In all den Erzählungen beweist Ingo Schulze, dass er schreiben kann. Kunstvoll aufgebaut, ineinander verschachtelt baut er kluge Essays über Kunstwerke in eine narrative Rahmenhandlung. Auch dabei erweist er sich als genauer Beobachter und stilsicherer Autor. Er verbindet immer wieder die Kunstbetrachtung mit Themen, die ihn umtreiben, seien es die Unterschiede zwischen Ost und West oder die Rolle des Schriftstellers bzw. des Künstlers in der Gesellschaft .
    Doch nicht alle Volten , die Ingo Schulze schlägt, nicht jede Verbindung hat mich überzeugen können, manche erschienen mir zu gewollt. Dafür haben mich die Bildbeschreibungen und die zusätzlichen Informationen dazu sehr interessiert. Deshalb würde ich diesen Erzählband wohl eher Lesern empfehlen, die ein gewisses Interesse für Bildende Kunst aufbringen.

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  1. 3
    26. Jun 2021 

    3x Kunst in einem Buch

    Das schmale Büchlein umfasst drei Erzählungen, die bereits getrennt voneinander vor mehreren Jahren erschienen sind. Für diese Ausgabe wurden sie überarbeitet oder umgeschrieben, ganz im Sinne der ersten Erzählung, Das Deutschlandgerät.
    Hier schreibt der Ich-Erzähler einer Museumsdirektorin einen langen Brief in dem er darlegt, weshalb sich seine Arbeit, eine Beschreibung dieser schwarzen Maschine (wie er sie nennt) verzögert und was diese mit einem von ihm bewunderten Schriftsteller zu tun hat, der aus der DDR ausgebürgert wurde. Letztendlich kulminiert das Ganze in der Feststellung, dass nicht das Kunstwerk seiner jeweiligen Umgebung angepasst wird, sondern auch der Mensch und seine Haltung. Über 60 Seiten braucht es zu dieser Feststellung, die auch eine Kunstbeschreibung enthält (empfehlenswert: parallel Bilder und Videos aus youtube dazu anschauen) – wozu jedoch 30 Seiten sicherlich gereicht hätten.

    Die zweite Erzählung befasst sich mit dem titel(bild)gebenden Tasso im Irrenhaus, einem Gemälde von Delacroix‘, das in Winterthur zu besichtigen ist. Hier korrespondiert der ‚Inhalt‘ des Gemäldes mit dem, was der Ich-Erzähler beim Betrachten des Bildes mit einem weiteren Museumsbesucher im Gespräch erfährt. Über die Beschreibung der damaligen Verhältnisse geht es kunstvoll über ehemalige Kolonien zu dem was die heutige Schweiz darstellt – mir war das etwas zu kunstvoll.

    Abschließend steht der Maler Johannes Grützke im Mittelpunkt, der sich zum Zeitpunkt der Erzählung im Hospiz befindet. Er bittet den Ich-Erzähler, über ein Bild von ihm zu schreiben, der sich eher widerwillig darauf einlässt. Bei einem vereinbarten Termin findet er im Hospizzimmer des Malers eine illustre Gruppe von Personen vor, die jenem offenbar nahe stehen. Diese führen ein ’skurriles‘ Gespräch über Kunst, das mir irgendwann zu verworren war. 39 Seiten – 20 hätten mir locker gereicht.

    Zwar war ich vom Inhalt der Geschichten nicht allzu begeistert, dafür umso mehr von der Sprache des Autoren. Wenn ich jetzt noch ein Buch mit einem ansprechenderen Inhalt von ihm lese, dann steht einer Lobeshymne sicherlich nichts im Wege ;-)

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  1. Erzählungen aus der Welt der bildenden Kunst

    Ingo Schulze muss ein Kunstkenner sein. Offensichtlich wird er häufiger um Stellungnahmen, Essays oder andere Auftragsarbeiten aus dieser Branche gebeten. Drei ältere Erzählungen, die ursprünglich in anderem Zusammenhang veröffentlicht wurden, versammeln sich in diesem neu bei dtv erschienenen Band „Tasso im Irrenhaus“.

    Die erste Erzählung „Das Deutschlandgerät“ handelt von einer ursprünglich in Venedig ausgestellten Installationsarbeit, die etwas reduziert in ein Düsseldorfer Museum überführt wurde. Der Ich-Erzähler schildert in seinem Bericht die Installation, schweift in seinen Gedanken aber zu einem von ihm hochverehrten Autor namens B.C. ab, der seiner Ansicht nach der größte Fan des Kunstwerkes ist und es dem Erzähler seinerzeit auch vorstellte. B.C. war ein DDR-Dissident, der das Land in den 1970er Jahren verlassen musste. Im Zuge der Erzählung rückt dieser in den Fokus. Er scheint ein schwieriger Typ zu sein, der wenig von Konventionen und Höflichkeitsfloskeln hält, bei anderen Kollegen genießt er einen schlechten Ruf, zumal er unter Kontrolle seiner Gattin zu stehen scheint. Im Lauf der Jahre hat der Erzähler mehrere persönliche Begegnungen mit B.C., die sein Verständnis für den aus der Heimat vertriebenen und in der BRD nicht recht heimisch gewordenen Mann wecken, dessen Meinung auf einmal nicht mehr en vogue war. Gezeigt werden auch Parallelen mit und Bezüge zum Deutschlandgerät, ebenso wie Interna aus dem Literaturbetrieb.

    Die zweite Erzählung führt den Autor in die Schweiz. Er soll über das Gemälde „Tasso im Irrenhaus“ des Malers Delacroix berichten, das in einem Museum in Winterthur zu sehen ist. Schulze nimmt sich einen Tag Familienauszeit, macht einen Umweg, um das Bild live zu sehen und dokumentiert alles in seinem Notizbuch. Am Ziel angekommen wird ihm der unverstellte Kunstgenuss von einem einheimischen Ausstellungsbesucher getrübt, der Schulze ungefragt in ein Gespräch verwickelt, dem er sich nicht entwinden kann. Dennoch gibt ihm der Mann zahlreiche Denkanstöße, brilliert mit Fachwissen. Erneut werden unterschiedliche Themenbereiche geschickt miteinander verwoben. Auch eine deutliche Kritik an der vermeintlichen Neutralität der Schweiz wird interessant hergeleitet. Abgerundet wird die Erzählung durch die Heimfahrt über den Bodensee, während der sich der Erzähler wie Tasso im Irrenhaus beobachtet fühlt - alles hängt mit allem zusammen.

    Ein Hospiz ist der Handlungsort der dritten Erzählung. Der Maler Johannes Grützke sucht jemanden, der über ein Bild von ihm schreiben soll. Der Autor fürchtet sich vor dem vereinbarten Termin, erwartet er doch einen deprimierten Todgeweihten vorzufinden. Stattdessen trifft er einen lebhaften, gut gelaunten Grützke von höchst eigenwilligen Besuchern umgeben an. Das Zimmer ist voll, es wird gegessen, getrunken und gelacht. Schulze fühlt sich befremdet, hatte er sich doch ein Arbeitsgespräch mit dem Künstler erhofft, das ihm als Grundlage für die bevorstehende Auftragsarbeit dienen könnte… Es macht Spaß, den Dialogen der Besucher zu folgen. Sie foppen sich gegenseitig, spielen die Kunst gegen die Literatur aus, deren Vertreter Schulze ist. Man philosophiert, wirft sich Gedanken zu, führt sie weiter aus, befeuert durch den Kranken. Auch hier gibt es eine Ebene hinter dem Offensichtlichen zu entdecken, mich erinnert die surreale Situation im Hospiz an Grützkes Kunst, der auch mit Vorliebe verzerrte, seltsame Figuren ins Zentrum rückt und nur versteckte Hinweise auf weitere Inhalte zeigt Zudem werden Grützke zugeordnete Aussprüche in den Text eingebaut, was ihm Authentizität verleiht.

    Ingo Schulze versteht es meisterhaft, seine Erzählungen zu entwickeln. Er überrascht mit unvorhergesehenen Verknüpfungen und Entwicklungen. Man darf sich nicht auf das Offensichtliche verlassen, er fordert uns zum Nachdenken auf, zum Interpretieren, zum Blick zwischen die Zeilen auf weitere Ebenen. Kunstliebhaber werden gewiss begeistert sein.

    Ich selbst habe das Buch gelesen, weil ich Ingo Schulze sehr schätze. Ich habe mich zuvor nicht mit der Thematik der gesammelten Erzählungen beschäftigt, was ein Fehler war, weil ich ein bekennender Kunstbanause bin. Die Beschreibungen der eigentlichen Werke sind zwar durchaus gelungen, interessiert haben sie mich nicht. Fesselnder empfand ich das Drumherum, die Geschichten, die sich im Zusammenhang mit der Betrachtung der eigentlichen Werke ergaben. Diese zeugten von großer Beobachtungsgabe, Intelligenz und Menschenkenntnis. Schulze verfügt über große Allgemeinbildung, hat einen wunderbaren Stil und kann viele verschiedene Themen bedienen, was er auch in diesem Erzählband unter Beweis stellt. Er verknüpft die Kunst mit dem Alltäglichen, mit politischer oder gesellschaftlicher Kritik und natürlich mit der Literatur, seiner Profession.

    Obwohl ich anerkennen muss, dass die Erzählungen qualitativ gut gemacht sind, haben sie mich in großen Teilen gelangweilt. Zu fremd ist mir die Welt der Kunst und deren vermeintliche Faszination. Wer sich dort aber mehr zu Hause fühlt, wer gerne in Museen verweilt oder sich Ausstellungen (moderner) Künstler anschaut, wird den Beschreibungen Schulzes bestimmt mehr abgewinnen können und einen leichteren Zugang finden.

    Insofern kann ich persönlich nur eine eingeschränkte Leseempfehlung aussprechen.

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  1. Mit verbundenen Augen Kunst betrachten...

    ... und sich dabei ganz und gar auf den Erzähler verlassen... so fühlte ich mich in den drei Erzählungen von Ingo Schulze.

    Er hat mich nicht vorgewarnt, das war sehr geschickt. Vielleicht hat er aber auch mehr Vorwissen bei mir vorausgesetzt, denn dann hätte ich erkennen müssen, dass der Buchtitel auch der Titel des Gemäldes von Eugène Delacroix ist, ein Ausschnitt davon ist auf dem Schutzumschlag zu sehen. So aber trieb mich, getriggert vom Wort "Irrenhaus", die Neugier für menschliche Abgründe.
    Das kalte Wasser schlug also ungehemmt über mir zusammen, nach meinem Sprung in das unbekannte Nass "Kunst".

    Die erste Erzählung, "Das Deutschlandgerät" rang mit mir um Verständnis. Bei der Beschreibung der künstlerischen Reinstallation eines Geräts zum Wiederaufstellen von entgleisten Zügen von Reinhard Mucha, gingen mir Bilder durch den Kopf, vermischt mit meiner eigenen Aufgabe einer Haushaltsauflösung, die sich im Nachhinein wenig deckungsgleich zum Original zeigten. Dennoch ließen mich Schulzes Ausführungen, verknüpft mit der Geschichte des Ostdissidenten , der in dieser Kunst sein Verständnis mit sich und seinem Werk endlich ergründet zu haben glaubt, mit der Gewissheit zurück, dass auch ich die Sachen nur neu arrangieren muss, damit Altes wieder Sinn macht, ohne gänzlich zu verschwinden. Die ganze Erzählung ist ein einziger Brief, der zugleich eine Versäumnisentschuldigung, Aufgabenerfüllung und Geschichte für den Leser ist.

    "Tasso im Irrenhaus", ist die zweite Geschichte und Auslöser für meine Bereitschaft, das Buch zu lesen. Der Erzähler soll in ein paar Wochen über Delacroixs Tasso eine Rede halten. Die Arbeit daran stockt und so beschließt er, sich das Bild nicht im Katalog, sondern im Original in der Schweiz anzuschauen. Seine Eindrücke und Erlebnisse bei der Anreise, die Betrachtungen im Museum und schließlich die Gespräche mit dem Mann dort, der sich ihm aufdrängt, hält er in seinem Journal (Tagebuch - der Text ist Frank Witzel gewidmet - ein Schelm, wer unschuldige Absicht dahinter vermutet) fest, und so entsteht eine Mischung aus Bildbeschreibung und philosophische Betrachtungen zur Schweiz, die Kunst und Politik dynamisch miteinander verwebt.

    Die letzte Novelle "Die Vorlesung" führt Ingo Schulze ins Hospiz zum sterbenden Maler Johannes Grützke. Aber anstatt einer gedrückten letzten Unterredung unter vier Augen, erwartet Schulze vor Ort eine illustre, heitere Gesellschaft, die sich über Kunst streitet, während der Todeskandidat eine Zeichnung eines vielköpfingen Drachens mit den Gesichtern seiner Besucher anfertigt. Irritiert und verärgert will Schulze sich früh entfernen, wird dann aber doch in diese so ganz und garnicht trauernde Versammlung hineingezogen.

    Die drei wiederveröffentlichten Geschichten von Ingo Schulze kumulieren für mich in der Einsicht, dass wohl nicht alles nach Plan und Vorstellung verläuft, dass so manche Einsicht erst durch das Unvorhergesehene gewonnen werden kann und nur dem, der innehält und nicht gleich fort- oder weiterrennt, sich das Fenster zum Größeren öffnet. Die angedeutetetn Klappen auf dem Titelbild mögen ein Symbol dafür sein. Für mich war es ein Ausszeit aus der Alltagshektik und ein wunderbarer Einblick in die Kunstwelt durch Schulzes Augen. Verführerisch und wohltuend.

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  1. Langweilig für Kunstbanausen und wertvoll für Kenner.

    In dem Bändchen „Tasso im Irrenhaus“ beschreibt Ingo Schulze eloquent drei besondere Kunstwerke. Am besten ist es, man hat sie schon einmal irgendwo gesehen, die Namen der Künstler sind einem geläufig oder man sollte zumindest gerne in Museen für gestaltende und bildende Kunst gehen. Oder sich danach sehnen, so ein Kunstwerk zu besitzen.

    Für alle Leute, die sich nicht für Kunst interessieren, ist das Büchlein eher nichts. Es ist auch kein sogenanntes Einsteigerbuch.

    Aber wenn man sich dafür interessiert und vielleicht sogar einen Bezug zu den vorgestellten Künstlern oder ihren Kunstwerken hat, dann sind die drei Essays eine großartige schriftstellerische Leistung, die man durchaus mit Gewinn und Genuss lesen kann. Eigentlich handelt es sich ja um eine Zusammenführung von beiden Genres. Die Beschreibungen sind Essays und das Drumrum, ihre Einbindung in eine Begebenheit, machen die drei Texte zu Erzählungen. Aber Essay ist drin.

    Die erste Erzählung widmet sich einer sogenannten Installation. Akribisch beschreibt Schulze Reinhard Muchas (geb. 1950) Konzeptkunstwerk „Das Deutschlandgerät“.

    „Sein erstes Kunstwerk war 1978 kein Bild und keine Skulptur, sondern eine Mauer aus Hohlblocksteinen. Niemand identifizierte sie als Kunst, zumal Kommilitonen dort ihre eigenen Sachen aufhängten. Damals wie heute beobachtet Mucha die Besucher: "Sie denken, das sei keine Kunst. Es sieht eben nicht sofort wie Kunst aus. Das ist die Schwierigkeit. Ich spiele mit der Grenze zwischen Ästhetik und Realität." sagte Mucha. (Helga Meister, Artikel in: Westdeutsche Zeitung, 2009)

    Weiter schreib Helga Meister: „Warum aber nennt er sein Werk Deutschlandgerät? Seine Antwort: "Deutschlandgerät ist ein hydraulisches Werkzeug, um schwere Lasten anzuheben oder Schienenfahrzeuge wieder auf die Gleise zu stellen. In der Umbruchzeit nach 1989 war der Titel eine Anspielung auf die politische Situation in Deutschland."

    Warum zitiere ich hier Helga Meister anstatt Ingo Schulze, der so ausführlich darüber schreibt, während Helga Meisters Text eine veranschlagte Lesezeit von 2 Minuten aufweist?

    Weil ich Helga Meisters Beitrag sofort verstehe, aber Ingo Schulzes ellenlange Beschreibung mich fast zu Tode langweilt. Allerdings, und das macht die Kunstbeschreibung zur Erzählung, stellt Schulze dem Kunstwerk Muchas den DDR-Flüchtling B.C. entgegen oder zur Seite, der dieses Kunstwerk liebt und ihm, Schulze erklärt. B.C. ist selber ein Künstler, freilich einer, der unter der Fuchtel seiner Frau Elizabeta steht. So erscheint es. Aber der erste Blick täuscht. Man muss einen zweiten Blick werfen. Dann erkennt man das Wesentliche. So mag es auch mit dem Ausstellungsgegenstand „Das Deutschlandgerät“ sein. Man riskiere einen zweiten Blick. Allerdings ist Konzeptkunst wirklich Geschmacksache.

    Die zweite Darstellung eines Kunstwerks fesselt mehr. Es handelt sich um ein Gemälde von François Delacroix, dessen Titel „Tasso im Irrenhaus“ gleichzeitig titelgebend für Schulzes Buch ist.

    Wiederum beschreibt Ingo S. das Werk akribisch, was einen durchaus wieder langweilen könnte. Man kanns aber auch im Internet angucken.

    Gleichzeitig zu dem Gemälde namens "Tasso im Irrenhaus" zieht Schulze Parallelen zu anderen antiken Künstlern, zu Torquino Tasso, einem italienischer Dichter von anno dunnemal und zu Giacomo Leopardi, das ist ebenfalls ein italienischer Literat von anno dunno. Wohlwollend nehmen diverse Leser die Schließung ihrer Bildungslücken an.

    Im dritten Bespiel widmet sich Ingo S. wieder der Neuzeig, einem zeitgenössischen Künstler, dem Maler Johannes Grützke. Die Beschreibung des Kunstwerks ist Essay, der Besuch im Hospiz und die Gespräche des Sterbenden mit seinen Eleven über Kunst, ist wieder Erzählung. Das Kunstwerk ist betitelt mit "Die Vorlesung".

    Für Kunstverständige und Bildungsbürger also, schreibt Ingo S. Für dieses Mal. Muss auch mal sein und wird honoriert. Für Kunstbanausen ist das Bändchen grauenhaft langweilig. So what? Lesen wir derweil etwas anderes von Ingo S. Er kann unterhaltsame Sachen, die nicht weniger brillant sind.

    Fazit: Feinsinnig, bildungsintensiv. Die Zusammenführung von Essay und Erzählung ist brillant. Auf seine eigene Art genial.

    Kategorie: Kunst. Essays. Erzählung.
    Verlag: dtv. 2021

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