Tage ohne Cecilia

Buchseite und Rezensionen zu 'Tage ohne Cecilia' von Antonio Muñoz Molina
4.65
4.7 von 5 (9 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Tage ohne Cecilia"

Handwerker beaufsichtigen, die Wohnung einrichten, mit dem Hund die Stadt erkunden: Voller Vorfreude erwartet ein Mann die Ankunft seiner Frau in Lissabon. Während Cecilia, eine Forscherin, die Verlegung ihres wissenschaftlichen Projekts vorantreibt, organisiert er den Umzug. Das Paar, so erfahren wir aus seiner Schilderung, lässt ein Leben in New York hinter sich, das durch die Ereignisse des 11. September nachhaltig erschüttert wurde. Umso verheißungsvoller scheint die Zukunft in einer hübschen Wohnung und einem ruhigen Viertel der südländischen Stadt. Doch je länger der Mann wartet und aus der gemeinsamen Vergangenheit erzählt, desto mehr drängt sich ein Verdacht auf, der seine friedlichen Routinen und die idyllische Ruhe in ein anderes Licht rückt. Mit »Tage ohne Cecilia« ist Antonio Muñoz Molina ein spannendes psychologisches Kammerspiel gelungen: Sein Roman zeigt eindringlich, wie Erinnerungen und Angst unser Erleben bestimmen – und wie unsere Realität bei näherer Betrachtung dem nicht standhält, was wir uns über unser Leben einreden.

Format:Gebundene Ausgabe
Seiten:280
EAN:9783328602002

Rezensionen zu "Tage ohne Cecilia"

  1. Warten auf Cecilia

    Ein Mann freut sich auf das Wiedersehen mit seiner Frau Cecilia, während er Vorbereitungen für ihr gemeinsames neues Zuhause in Lissabon trifft. Vorbei ist ein Lebensabschnitt in New York, der von traumatischen Erinnerungen an den 11. September geprägt war. Er treibt den Umzug voran, während Cecilia die Verlegung ihres wissenschaftlichen Projekts in der Hirnforschung zu Gedächtnis und Angst organisiert.

    „Ich habe mich in dieser Stadt niedergelassen, um dort auf das Ende der Welt zu warten. Die Bedingungen könnten nicht besser sein.“

    Tage ohne Cecilia heißt der neue Roman von Antonio Munoz Molina. Der lange namenlose Protagonist verbringt den Großteil des Tages mit Warten. Bis auf die Haushaltshilfe und den Handwerker, der sich um die Renovierung der Wohnung kümmert, hat der Mann kaum Kontakt mit der Außenwelt

    Er will bis ins kleinste Detail auf die Ankunft seiner Frau vorbereitet sein Aber die idyllische Zuflucht und die penible Routine wirken zunehmend beunruhigend. Ein unbehaglicher Verdacht einer unbestimmten Bedrohung drängt sich auf. Immer mehr wagt man Zweifel an der Existenz Cecilias und am Verstand des Mannes anzumelden

    Tage ohne Cecilia ist ein psychologisch eindringlicher Roman, in dem Erinnerung, Vernunft und Angst die Wirklichkeit durchsetzen. Sprachlich weiß der Autor zu bezaubern. Bis auf einen Durchhänger in der zweiten Hälfte des Buches liest sich dieses Buch eingängig und bleibt nachdrücklich bemerkenswert.

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  1. Psychologisches Kammerspiel erster Güte

    "Tage ohne Cecilia" ist der zweite Roman des spanischen Autoren Antonio Munoz Molina, den ich las. Ich ahnte jedoch nicht, welch gewaltiges und einzigartiges Leseerlebnis mir dieses Mal beschert werden würde. 

    Der Titel ist Programm. Wir lesen von einem über weite Strecken des Romans namenlos bleibenden Erzähler, der den Sprung in ein ein neues Leben gewagt hat und nun in Lissabon der Ankunft seiner Frau Cecilia entgegen fiebert. Doch von Beginn an liegt eine düstere Atmospäre über dem Geschehen. "Ich habe mich in dieser Stadt niedergelassen, um dort auf das Ende der Welt zu warten" - so lautet der erste Satz des Romans. 

    Wir begleiten den Protagonisten dabei, wie der die Wohnung mit Hilfe des Handwerkers Alexis herrichtet- nicht irgendwie, sondern quasi als detailgetreue Spiegelung der vorherigen Wohnung in New York. Selbst die Lage der Wohnung weist mit der Nähe zum Fluss Parallelen zur vorherigen Bleibe in New York auf. Während der Mitfünfziger auf seine Frau Cecilia wartet, erinnert er sich. Wir lernen Cecilia kennen: die erfolgreiche Neurobiologin, die für ihren Beruf lebt und ihm die spannenden Details kognitionswissenschaftlicher Forschungen berichtet. Er erinnert sich an die gemeinsame Zeit in New York. Die Terroranschläge im September 2001 haben tiefe, einschneidende Wunden hinterlassen. Angst und Schmerz mischen sich in die Erinnerungen unseres Protagonisten. Erinnerungen spielen ihm mitunter einen Streich, wiederholt wirkt er orientierungslos. Was ist mit ihm eigentlich los? 

    Munoz Molina streut immer wieder sehr kenntnisreich politische und kulturelle Bezüge ein, ebenso faszinieren die Berichte über kognitionswissenschaftliche Studien. Irgendwann beginnt man als Leser zu erahnen, dass er gerade die Details neurobiologischer Forschungen über Besonderheiten der Erinnerung nicht rein zufällig einstreut. Was wäre, wenn man diese Erkenntnisse konsequent auf die Erzählung selbst anwenden würde? Währenddessen wartet der Mann auf seine Cecilia und wartet und wartet und wartet...

    Die Geschichte hat mich von Beginn an begeistert, ist nicht nur die Thematik spannend, sondern auch in sehr meisterhafte, brilliante Sprache verpackt. Man spürt von Beginn an eine gewisse Schwere, die über dem Geschehen im schönen Lissabon liegt. Der Schreibstil von Munoz Molina ist sehr bildhaft und atmosphärisch sehr dicht. Zunehmend zog mich der Autor in den Bann der Erzählung. Ich wartete gemeinsam mit unserem Protagonisten auf das Auftauchen seiner Cecilia und stöberte mit ihm in den Erinnerungsstücken, staunte über die gemeinsam aufgebaute Bibliothek als Produkt aus Anreichern und Weggeben, bis ich mit dem Protagonisten in all den Erinnerungsfetzen versank und zunehmend drohte, selbst die Orientierung zu verlieren. 

    Habe ich jemals an das Auftauchen von Cecilia geglaubt? Ich bin mir rückblickend nicht sicher. Fakt ist jedoch, dass der Roman mit einem Paukenschlag endet: Wir erfahren Genaueres über den Zustand des Protagonisten und hören mit ihm eine AB-Nachricht Cecilias ab. Gleichzeitg passiert oder passiert etwas nicht, während der Mann immernoch auf Cecilia wartet..

    Auf welche Gewissheiten können wir uns letztlich verlassen oder sind wir am Ende der meisterhaften Konstruktion dieses brilliant komponierten psychologischen Kammerstückes komplett auf den Leim gegangen? Was wäre, wenn wir am Ende mit den gewonnenen Erkenntnissen den Roman rereaden und die Grundkonstellation hinterfragen würden? Wird Cecilia auftauchen? Wartet ihr Mann tatsächlich in Lissabon auf sie? Leben sie überhaupt - Beide? Man mag es als Schwäche, oder in meinen Augen als besondere Stärke des Romans bezeichnen, dass das Ende letztlich völlig konträre Intepretationen zulässt, die alle gleichermaßen plausibel erscheinen können. Genial! So macht Literatur Spaß. Ich erwische mich immer wieder dabei, wie ich auch einige Wochen später noch über das Ende nachdenke und auf eine Eingebung warte, welche Interpretation nun die zutreffende ist. 

    Von meiner Seite eine unbedingte Leseempfehlung für alle mutigen Leser, die sich auf Experimente einlassen können und nicht verzagen, wenn der Roman sie selbst in das Geschehen mit hineinzieht und dadurch für Verwirrung sorgt. 

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  1. 4
    09. Okt 2022 

    Psychologisches Kammerspiel...

    Handwerker beaufsichtigen, die Wohnung einrichten, mit dem Hund die Stadt erkunden: Voller Vorfreude erwartet ein Mann die Ankunft seiner Frau in Lissabon. Während Cecilia, eine Forscherin, die Verlegung ihres wissenschaftlichen Projekts vorantreibt, organisiert er den Umzug. Das Paar, so erfahren wir aus seiner Schilderung, lässt ein Leben in New York hinter sich, das durch die Ereignisse des 11. September nachhaltig erschüttert wurde. Umso verheißungsvoller scheint die Zukunft in einer hübschen Wohnung und einem ruhigen Viertel der südländischen Stadt. Doch je länger der Mann wartet und aus der gemeinsamen Vergangenheit erzählt, desto mehr drängt sich ein Verdacht auf, der seine friedlichen Routinen und die idyllische Ruhe in ein anderes Licht rückt. (Klappentext)

    Der bis kurz vor Ende namenlos bleibende Ich-Erzähler entführt den Leser/die Leserin in die Tiefen seiner Gedanken. Er ist vor Kurzem von New York nach Lissabon gezogen, wo er und seine Frau Cecilia eine Wohnung gekauft haben. Während seine Frau noch beruflich eingespannt ist - sie arbeitet als erfolgreiche Neurowissenschaftlerin und hat einen eng getakteten Zeitplan zwischen den Aufgaben im Labor und Vorträgen auf Tagungen und Kongressen - kümmert sich der Endfünfziger um die Einrichtung der Wohnung.

    Dabei legt er viel Wert auch auf kleinste Details, und in dem Bemühen, aus der Wohnung in Lissabon ein Spiegelbild der Wohnung in New York zu machen, scheut er auch keine Kosten. Ein talentierter Handwerker steht ihm dabei zur Seite, und tatsächlich ist dieser zusammen mit einer Zugehfrau der einzige Umgang, den der Ich-Erzähler in Lissabon pflegt. Aber er fühlt sich nicht einsam, ganz im Gegenteil.

    Er genießt beim Warten auf Cecilia die Ruhe seines Frührentner-Daseins, liest ausgiebig in seinem Lieblingssessel, streift mit seiner betagten Hündin durch die hochsommerlichen Straßen Lissabons, schaut sich interessante Dokumentationen im Fernsehen an - und denkt nach. Er verliert sich in Erinnerungen, springt in Gedanken immer wieder in die Zeit in New York zurück, auch zu den Geschehnissen um die Terroranschläge am 11. September, vergleicht die beiden Städte und findet immer wieder Gemeinsamkeiten, denkt an Begegnungen zurück, an Szenen zwischen ihm und Cecilia.

    "Ich habe mich in dieser Stadt niedergelassen, um dort auf das Ende der Welt zu warten." (Erster Satz, S. 7)

    Neben den Erinnerungen fließen auch aktuelle Themen in die Gedankenwelt des Erzählers ein, neue Erkenntnisse aus der Neurowissenschaft beispielsweise, der Blick auf alte Kulturen oder aber auch die drohenden Gefahren unserer Zeit wie etwa die zunehmend beunruhigenden Folgen des Klimawandels oder das Zerbrechen der Demokratien. Zunächst wartet man gerne und geduldig mit dem Ich-Erzähler, dann aber wächst die eigene Unruhe. Es melden sich Zweifel, Verwirrung, Fragezeichen. Der Erzähler selbst weiß zwischendurch nicht mehr wo er ist und verläuft sich, er kennt plötzlich sein Geburtsjahr nicht mehr, Zeit und Erinnerungen drohen ihm zu entgleiten. Können wir seinen Erinnerungen vertrauen wenn er selbst es womöglich nicht kann? Und wo bleibt denn nun Cecilia?!

    Das psychologische Kammerspiel lullt den Leser/die Leserin ein, angenehm zu lesen in einem stilvoll-eleganten Schreibstil, dem Bildungsstand des Ich-Erzählers angemessen. Doch die Fragen, die sich zunehmend beim Lesen aufdrängen, sorgen für eine unerwartete Spannung. Sehr gespannt wartete ich daher auf das Ende des Romans, und mit einem besonderen und vollkommen unerwarteten Kniff lässt Antonio Muñoz Molina schließlich die Bombe platzen. Das Ende selbst ist offen angelegt und lässt Interpretationsspielräume zu, die ich zu meiner Zufriedenheit genutzt habe.

    Wir basteln uns die Welt, wie-de-wie-de-wie-sie-uns-gefällt. Wer wissen will, wie das geht: lesen!

    © Parden

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  1. 5
    13. Sep 2022 

    Intensives Warten

    Spanien ist das diesjährige Gastland der Frankfurter Buchmesse und einer der wichtigsten Gegenwartsautoren Spaniens ist Antonio Munoz Molina. Er wird neben Irene Vallejo ( „ Papyrus“ ) die Festrede zur offiziellen Eröffnung halten. Molina, 1956 geboren, erhielt für sein Werk zahlreiche Preise und leitete bis 2006 das spanische Kulturinstitut in New York.

    „ Ich habe mich in dieser Stadt niedergelassen, um dort auf das Ende der Welt zu warten.“ So beginnt Antonio Munoz Molina seinen 2019 im Original erschienenen Roman „ Tage ohne Cecilia“.
    Diese Stadt ist Lissabon „ eine Stadt der Schönheit und der Schwermut, der Pracht und des Verfalls“.
    Hierher zieht der Ich- Erzähler Bruno, ein Mann Ende Fünfzig, um für sich und seine jüngere Frau die neue Wohnung einzurichten. Beide wollen weg aus New York, das ihnen nach 9/11 keine Sicherheit mehr bietet. Das Einstürzen der Zwillingstürme, das sie aus nächster Nähe erleben mussten, hat vor allem bei Cecilia ein Trauma ausgelöst. „ Mit einem Schlag konnte alles zusammenbrechen, sich in schwarzen Rauch auflösen und zu Asche werden,…“
    Bruno hat Zeit, denn er befindet sich im vorzeitigen Ruhestand. Im Verlaufe der Lehman-Pleite hat er von einem Tag auf den anderen seinen ungeliebten Finanzjob verloren. Seitdem kümmert er sich darum, das Heim für Cecilia so angenehm wie möglich zu gestalten, während sie als erfolgreiche Neuro- Wissenschaftlerin unentwegt im Labor arbeitet oder auf Tagungen und Kongressen weltweit unterwegs ist. Ihr Spezialgebiet ist die Angst und welche Spuren sie im Gehirn hinterlässt.
    In Lissabon wollen sie nun gemeinsam ein neues Leben beginnen.
    Doch der Ich- Erzähler wartet, wartet auf die Ankunft von Cecilia. Er wartet, während er die neue Wohnung mit den mitgebrachten Möbeln und Gegenständen einrichtet, ein genaues Abbild ihres früheren Zuhause. Er wartet, während er liest. („ Lesen verträgt sich mit Warten. Lesen ist Müßiggang ohne Langeweile“)
    Er wartet, während er mit seinem Hund durch die Straßen von Lissabon streift und er wartet, während er vor dem Fernseher oder im Internet Nachrichten über das Ende der Welt sieht. Warten ist seine vorherrschende Beschäftigung.
    Als Leser lässt man sich gerne darauf ein. Folgt dem Erzähler zurück in die Vergangenheit, in die gemeinsamen Jahre in New York, flaniert mit ihm am Fluss Tejo entlang oder durch kleine Gassen von Lissabon. Man liest interessiert von neuen Erkenntnissen aus der Neurowissenschaft oder vom Zeitbegriff in alten Kulturen. Man teilt die Angst vor den Anzeichen der drohenden Apokalypse, sei es der Klimawandel, der sich in ausgetrockneten Flüssen, brennenden Wäldern oder Überschwemmungen zeigt, sei es das Zerbrechen von Demokratien.
    Doch zunehmend wird dem Leser bewusst, dass man dem Ich- Erzähler nicht blind vertrauen kann. Irgendetwas stimmt nicht mit ihm. Er wird immer mehr zum sonderlichen Einzelgänger, hat kaum mehr Kontakte zur Außenwelt. Er verliert die Orientierung beim Joggen, kann sich plötzlich nicht mehr an sein Geburtsjahr erinnern. Und was ist eigentlich mit Cecilia? Weshalb lässt sie so lange auf sich warten? Warum gibt es kein einziges Lebenszeichen von ihr? Weshalb deckt Bruno den Tisch für Zwei, obwohl er alleine ist?
    Der anfangs ruhige Erzählton ändert sich. Gespannt fiebert man der Auflösung entgegen. Das Ende ist unglaublich gut gemacht, wirft aber weitere Fragen auf und lässt Raum für eigene Deutungsmöglichkeiten.
    Molina überzeugt nicht nur mit einer spannenden Geschichte, sondern auch mit seiner eleganten Sprache, dem Psychogramm eines Mannes und der eindrucksvollen Beschreibung zweier Weltstädte. Kluge Zustandsbeschreibungen der Gegenwart und Reflexionen über Themen wie menschliche Wahrnehmung, Erinnerung und die Zeit sind ein zusätzlicher Gewinn.
    „ Tage ohne Cecilia“- ein intensives Leseerlebnis, das lange nachwirkt und eine unbedingte Leseempfehlung

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  1. 5
    12. Sep 2022 

    Warten auf G..., nein, auf Cecilia

    In “Tage ohne Cecilia” spielt der Autor Antonio Munoz Molina mit den Lesern ein Verwirrspiel, aus dem sie bis zum Ende des Romans nicht herauskommen. Das macht das Buch zu einer interessanten und spannenden Leseerfahrung.
    Wir treffen den Ich-Erzähler Bruno zu Beginn des Romans in Lissabon an. Dort ist er gerade mit all seinen Sachen und Koffern angekommen, um dort zu bleiben und eine Wohnung zu beziehen. Er lässt die Wohnung von lokalen Handwerkern herrichten und richtet sie akribisch mit den aus New York mitgebrachten Möbeln und Ausstattungsstücken ein. Das tut er vorgeblich, um alles so vorzubereiten, damit es für seine Frau Cecilia, die noch nicht in Lissabon angekommen ist, angenehm ist und eine möglichst gewohnte Umgebung bilden kann. Langsam wird alles fertig, aber das Warten auf Cecilia hält an. Es erscheint dem Leser immer mehr wie ein Beckettsches „Warten auf Godot“, bei dem die Wartenden/der Wartende den Wartestatus nicht verlassen kann, aber dabei immer zweifelhafter erscheint, ob Godot, hier Cecilia, jemals kommen wird. Von Cecilia erfahren wir unterdessen, dass sie eine erfolgreiche Neurowissenschaftlerin ist, eher unappetitliche Tierversuche im Labor durchführt und mit den Ergebnissen ihrer Forschung weltweit auf Konferenzen auftritt. In New York hat sie mit dem Erzähler Bruno zusammengelebt, seitdem sie ihre eigene Wohnung durch den Terroranschlag des 11. September verloren hat. Bruno verlor dann seinen Job in der Finanzbranche plötzlich und unerwartet im Zuge der Lemann Brothers Pleite 2008 und hat seitdem keine neue Arbeit mehr aufgenommen, sondern sich entschieden, der Finanz- und Arbeitswelt den Rücken zu kehren. Er erscheint zunächst als Hausmann, der in souveräner und selbstbewusster Weise diese Rolle im Leben für sich gewählt hat, um der Arbeitswelt zu entfliehen und seine erfolgreiche Frau stark zu unterstützen. Doch dann kommen im Laufe des Romans immer mehr Zweifel an dieser Version des Lebens und der Lebenssituation der beiden auf. Brunos mentaler Zustand ist nicht ohne Einschränkungen, immer mehr Gedächtnislücken und Ausfälle werden deutlich und von Cecilia fehlt weiterhin jede Spur und jedes Lebenszeichen. Wird sie irgendwann auftauchen? Als Bruno überraschend Besuch von einem Freund aus New York bekommt, wird erkennbar, dass er die Abwesenheit von Cecilia vor dem Freund verbergen muss und er selbst also längst erkannt hat, dass da etwas nicht stimmt. Hat er es wirklich erkannt? Im nächsten Augenblick dann ist er schon wieder vollkommen in seiner Rolle des Wartenden aufgegangen, vertreibt sich die Zeit in Lissabon nur irgendwie und hält alles für Cecilia bereit. Das Buch entwickelt in weiten Teilen eine ungeheure Spannung auf eine Auflösung des „Rätsels“ um Cecilia. Molina schafft es, diesen Spannungsbogen weitestgehend aufrechtzuerhalten und doch gleichzeitig die Zweifel (an fast allem) bei den Lesern wachsen zu lassen. Und so ist es am Ende nicht erstaunlich, dass dem Leser eine Version der wirklichen Geschichte präsentiert wird, die wieder nur angezweifelt werden kann. Hat Cecilia Bruno schon in New York per Mitteilung auf dem Anrufbeantworter verlassen ??? Wer kann das sagen. Und so wird Bruno weiter warten. Er kann einfach nicht anders. So wird das Spiel mit dem Leser bis zum Ende durchgehalten und hält ihn in Atem. Das ist sicherlich die Stärke des Buches, dem ich 5 Sterne gebe.

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  1. 4
    10. Sep 2022 

    Warten auf Godot… ähm Cecilia

    Der Titel von Becketts Theaterstück ist mittlerweile zur Redewendung geworden, meinend ein Zwang zu langem und vergeblichem Warten. Unser Ich-Erzähler in dem Roman von Molina ist ein älterer Mann, der aus New York mit dem gesamten Hausstand nach Lissabon umgezogen ist. Jetzt fehlt eigentlich nur noch seine Frau, Cecilia, die als anerkannte Neurowissenschaftlerin ständig im Labor oder auf Tagungen unterwegs ist. Vielbeschäftigt, weshalb sie, laut dem Ich-Erzähler, erst verspätet in Lissabon, dem gemeinsamen Altersruhesitz, ankommen wird. Die Tage vergehen und gehen ineinander über, man verliert beim Lesen das Zeitgefühl, aber dieses scheint der Erzähler auch verloren zu haben, wie so einiges anderes.

    Sprachlich ganz herausragend bietet Molina hier die psychologische Studie eines Verstandes, der im Warten zergeht. Stolz erzählt der Protagonistin von den Forschungen seiner Frau und weiteren neurologisch-psychologischen wissenschaftlichen Erkenntnissen, aber auch von dem während des Wartens aus der Hausbibliothek angelesenen Wissens. So vertieft sich der Erzähler in der Autobiografie („Alone“) von Richard E. Byrd, der fünf Wintermonate allein in einer antarktischen meteorologischen Station verbrachte und scheinbar ähnliche Angstsymptome zeigte, wie auch unser Erzähler. Denn das sind die Themen, die sich durch die Gedanken des Erzählers und die Arbeit seiner Frau ziehen: Angst, Trauma, Krisensituationen. Der Erzähler überlebte mit seiner Frau 9/11 und schnell wird klar, dass sich seitdem in seinem Leben immer mehr verschiebt.

    Moline erzählt dieses Kammerspiel dabei mit einer ruhigen, gefassten Stimme, nimmt sich Zeit für Beschreibungen und erhöht damit nur umso mehr die Spannung welche sich von Seite zu Seite steigert. Was ist mit Cecilia los, will man im Laufe des Buches immer dringender erfahren. Bevor sich der Autor zum fulminanten Finale aufmacht, stockt jedoch die Erzählung zu Beginn des letzten Drittels ein wenig. Zu ausufernd wird eine Szenerie geschildert, die später - meine Erachtens - keine tiefgreifende Rolle mehr spielt. Auch sprachlich erschient mir diese Passage weniger reizvoll wie der Rest des Buches. Der Autor findet jedoch zu seiner alten Stärke zum Schluss noch einmal zurück. Atemlos liest man die letzten Seiten und steigt vollends in die Psyche des Protagonisten ein. Das Ende lässt viele Deutungen zu, erscheint mir - so wie ich es deute - jedoch nicht komplett plausibel für die Lesenden. Dass das Denken des Protagonisten nicht immer plausibel und ihm auch nicht immer zu trauen ist, wissen wir zu diesem Zeitpunkt schon lange.

    Dieser absolut lesenswerte Roman entführt seine Lesenden in die Psyche eines Mannes und in dessen Lissabonner Wohnung gleich mit. Bei kleineren Abstrichen zum Plot entscheide ich mich für die 4-Sterne-Bewertung bei insgesamt 4,5 Sternen. Ein wirklich feinfühliger Roman, der ganz anders als „Warten auf Godot“ nicht „nur“ zur Redewendung verkommen sondern definitiv auch tatsächlich gelesen werden sollte.

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  1. Verloren in Raum und Zeit

    "Ich habe mich in dieser Stadt niedergelassen, um dort auf das Ende der Welt zu warten." (S. 7)

    So beginnt der Ich-Erzähler seinen Bericht über eine Zeit des Wartens auf seine Frau Cecilia. Erst im vorletzten der 52 kurzen, wie Gedankenschnipsel durch Raum und Zeit schwebenden Kapitel erfahren wir seinen Namen: Bruno. Während einer Reise hatte das Paar sich in die Stadt Lissabon verliebt, eine Wohnung gekauft und sich nun zum Umzug entschlossen. Bruno ist vorausgefahren, beaufsichtigt die Renovierungsarbeiten, packt Kisten aus. Denn während er sich nach dem Verlust seines verhassten Jobs als Frührentner nur noch um Cecilias Wohlergehen kümmern will, arbeitet sie als Forscherin im neurologischen Labor eines Nobelpreisträgers in New York und möchte vor ihrem Wechsel in ein entsprechendes europäisches Institut ihre derzeitige Arbeit abschließen. Gerade sie, die an Ratten die Mechanismen von Erinnerung und Angst erforscht, leidet seit den Anschlägen vom 11. September 2001 unter Albträumen, die in Lissabon der Vergangenheit angehören sollen.

    Realität oder Wunschtraum?
    So plausibel Brunos Erzählung zunächst klingt, so schnell schleicht sich bei der Lektüre Misstrauen ein. Während er zunächst mit den Arbeiten an der Wohnung beschäftigt ist und wenigstens mit dem vielseitigen Handwerker Alexis und der gesprächigen Putzfrau Cándida Umgang pflegt, kapselt er sich zunehmend in seiner mittlerweile fertigen Wohnung ein, einzig in Gesellschaft seiner Hündin Luria und seiner Bücher. Doch warum muss das neue Zuhause dem alten bis ins kleinste Detail gleichen? Wo ist Cecilia, für die er bei den Mahlzeiten ein Gedeck auflegt, wie ist es um ihre Beziehung wirklich bestellt? Warum gibt es keine Telefonate und vor allem: Wann kommt sie? All dies entfachte bei mir ein Kopfkino mit den aberwitzigsten Erklärungsvarianten, was dieses ruhige, fast lethargische Buch zumindest für mich zum psychologischen Spannungsroman machte. Je sicherer ich mir über die Unzuverlässigkeit des einsamen, immer stärker in Zeit und Raum desorientierten Ich-Erzählers wurde, desto drängender wurden meine Fragen.

    Das Ende
    Während ich Bruno bei Joggingrunden am Tejo, im Lesesessel bei der Lektüre ähnlich isolierter Protagonisten, auf einer aberwitzigen Party, beim Verfolgen apokalyptischer Weltnachrichten oder beim Zitieren von Cecilias Wissen zur Hirnforschung begleitete, wuchs meine Sorge, ob es überhaupt eine Auflösung geben würde. Umso beglückter war ich, als das Ende meine offenen Fragen zu beantworten schien – jedenfalls so lange, bis sich in meiner Leserunde ganz andere Interpretationsvarianten auftaten… Aber ist es nicht genial, wenn verschiedene, wohlgemerkt begründete Schlüsse möglich sind, über die sich trefflich diskutieren lässt? Ich jedenfalls bleibe bei meiner Auslegung, die ich hier natürlich nicht preisgebe, obwohl mich der spanische Originaltitel "Tus pasos en la escalera" (Deine Schritte auf der Treppe) erneut ins Grübeln brachte…

    Zwei Städte, zwei Flüsse, zwei Kulturen
    Der 1956 in Andalusien geborene Antonio Muñoz Molina zählt zu den wichtigsten Gegenwartsautoren seines Landes und macht Lust auf den Gastlandauftritt Spaniens bei der Frankfurter Buchmesse 2022. Sein Roman "Tage ohne Cecilia" von 2019, zu diesem Anlass nun von Willi Zurbrüggen übersetzt, hat mich durch den intensiven Erzählstil, Besessenheit und Kontrollverlust des Protagonisten, mitreißende Beschreibungen der sich allmählich zu einem Ort verdichtenden Städte Lissabon und New York, ironische Sicht auf zwei Kulturen, Widersprüche, Rätsel und Deutungsmöglichkeiten, elegante Sprache und einen raffinierten Spannungsbogen überzeugt.

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  1. Weltuntergang, kleinteilig.

    Kurzmeinung: Für geduldige Leser!

    Die Tage in Lissabon ohne Cecilia sind wahrhaftig lang, dem einen oder dem anderen könnten sie sogar zäh vorkommen.

    Der Protagonist wartet. Während er wartet, erinnert er sich an die Zeit vor dem kürzlich erfolgten Umzug von New York nach Lissabon. Mit seiner Partnerin oder Ehefrau, das wird nicht ganz klar, erlebte er 9/11 in New York. Das hat Spuren hinterlassen, vielleicht verliert er deshalb manchmal die Orientierung sowohl in Zeit wie auch im Raum. Mit dem Protagonisten, wartet auch der Leser … auf Cecilia, auf das Ende des Buches, we don’t know yet, ach doch, ja, der Protagonist tut es im ersten Satz kund: „Ich habe mich in dieser Stadt niedergelassen, um auf das Ende der Welt zu warten.“

    Der Kommentar:
    Was bezaubert sind die in wunderschöner Sprache verfassten Beschreibungen der beiden Städte Lissabon und New York. Die beiden Flüsse, der Hudson und der Tejo sind Laufstrecken des Protagonisten bzw. joggt er an ihnen entlang. Mit ihm gehen wir auf eine Party, führen seinen Hund aus, denken in ironischem Unterton über verschiedene paradoxe und dekadente Ausflüsse der Gesellschaft nach und warten. Das Warten fällt nicht schwer, da die Erzählung Schönheit, Ruhe und Harmonie verströmt.

    Dieser Ruhe kann man verfallen. Aber irgendwann einmal muss ein Ende her und wenn es tatsächlich der Weltuntergang wäre. Was der Autor als Ende anbietet, ist nicht schlecht, aber zu vieldeutig. Nachdem so lange gewartet wurde, bräuchte man ein paar Indizien mehr. Ich habe für mich eine sinnvolle Interpretation gefunden, aber ob es „die richtige“ ist? Qui sait?

    Fazit: Superschöne Sprache, gute Gedanken, aber ein offenes Ende, das die Türen viel zu weit offen lässt. Sperrangelweit. Enden sind wichtig, meine Damen und Herren Autoren und unrunde Enden können einen ganzen Roman versauen. Hier führt es zu einem Stern Abzug.

    Kategorie: Literatur mit Anspruch. Spanische Literatur.
    Verlag: Penguin, 2022

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  1. Komplex, eindringlich und rätselhaft

    „Im Traum bin ich in New York, doch diese Gewissheit entspricht überhaupt nicht dem, was ich sehe. Ich bin irgendwo in Lissabon und weiß nicht, wie ich dorthin gelangt bin.“ (Zitat Seite 230)

    Inhalt
    Ein Mann ist gerade von New York nach Lissabon gezogen. Während seine Frau Cecilia, eine Forscherin, zwischen dem Abschluss ihrer wissenschaftlichen Arbeit in New York und Kongressen pendelt, hat er Zeit, die Umzugskartons auszupacken und die Wohnung einzurichten, denn er ist schon im Vor-Ruhestand. Begeistert erzählt er, dass man aus den Fenstern der Wohnung wieder auf einen Fluss blickt, früher war es der Hudson, jetzt ist es der Tejo. So entsteht in einem ruhigen Viertel von Lissabon ein schönes neues Zuhause. Während er wartet, leistet die Hündin Luria dem Mann Gesellschaft und beide warten voll Vorfreude auf die Ankunft von Cecilia. Die Tage vergehen …

    Thema und Genre
    Der Schwerpunkt in diesem Roman sind psychologische Fragen zu Kernthemen wie die eigene Erinnerung an in der Vergangenheit erlebte Situationen und die Unberechenbarkeit dieser Erinnerungen, Ängste, der schmale Grat zwischen Realität und Scheinwelt.

    Charaktere
    Der Ich-Erzähler fühlt sich in Lissabon wohl und ist froh, New York verlassen zu haben, freut sich auf die Ankunft seiner Frau. Doch je länger der Mann wartet, desto mehr verliert er das Gefühl für Raum und Zeit, seine Gedanken pendeln zwischen den vielen Erinnerungen an die Zeit in New York und seiner neuen täglichen Routine in Lissabon. „Das jetzt ist in die Ferne gerückt. Die damalige Vergangenheit ist von mächtigerer Beschaffenheit als die Gegenwart.“ (Zitat Seite 212)

    Handlung und Schreibstil
    Die Geschichte kommt mit wenigen Personen aus. Im Mittelpunkt der Handlung steht der Mann, der nach einer Übersiedlung darauf wartet, dass seine Frau, eine erfolgreiche und vielbeschäftigte Wissenschaftlerin, in die neue gemeinsame Wohnung nachkommt. Er teilt mit uns seine Erinnerungen an die Zeit und Ereignisse in New York, aber auch die Bücher, die er gerade liest und denkt auch über aktuelle Themen nach. So breitet der Autor die an sich einfache Situation, ein Mann und seine Hündin warten auf seine Frau, weit aus, wie einen bunten Fächer, facettenreich, eindrücklich, beklemmend. Mit dem Mann warten wir auf Cecilia und mit jedem Detail fragen wir uns, ob die Geschichte, die er uns da erzählt, tatsächlich so ist, wie von ihm geschildert. Es sind die Gedanken und Zweifel, die diesem Roman die Spannung geben. Gleichzeitig nimmt sich der Autor Zeit für eindrückliche Schilderungen von Lissabon, des ruhigen Stadtteils, in dem die neue Wohnung liegt, aber auch für prägende Szenen in der turbulenten Stadt New York. Es ist mit die Sprache, die uns beim Lesen sofort in den Bann dieser Geschichte zieht.

    Fazit
    Eine intensive Geschichte mit vielen Facetten zwischen dem Lebensgefühl in der bunten Stadt Lissabon, aber auch den drängenden Themen und Problemen unserer Zeit, zwischen Liebe, Erinnerungen, Traum und Wirklichkeit.

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