Summer: Roman

Rezensionen zu "Summer: Roman"

  1. Alles fließt ...

    "Die, die ich am meisten liebte, lösten sich ohne irgendeine Erklärung in Luft auf, aber das Leben nahm gleichgültig seinen Lauf, wie ein primitiver, aus einer leeren Hülle und Wasser bestehender Organismus, der irgendwohin treibt, wo ebenfalls nichts als Wasser ist."

    Wasser ist das bestimmende Element in dem kurzen Roman, der am Genfer See spielt. Der Erzähler Benjamin, schon zweite Hälfte dreißig, entstammt einer betuchten Anwaltsfamilie, die er in seiner Kindheit - so erinnert er sich - über alles geliebt hat: die elegante Mutter, den erfolgreichen Papa, die schöne und fröhliche Schwester mit dem ungewöhnlichen Namen Summer. Nur Benjamin selbst, linkisch, langsam und von nervösen Tics geplagt, war gleichsam aus der Art geschlagen. Seine Schwester war ihm, wie es im Klappentext heißt, "sein Fixstern, die einzige Chance auf ein verheißungsvolles Leben". Mit neunzehn Jahren - Benjamin ist sechs Jahre jünger - verschwindet Summer bei einem Versteckspiel im Garten. Die Polizei startet eine Suchaktion, der See wird abgefischt, die Mutter tritt gramgebeugt im Fernsehen auf. Doch vierundzwanzig Jahre später - zu diesem Zeitpunkt setzt die Erzählung ein - fehlt von Summer immer noch jede Spur.

    Um den Verlust zu verarbeiten, hat Benjamin eine Reihe von Therapien gemacht, ohne selbst an einen Erfolg zu glauben. Seine Erinnerungen an die große Schwester, an die Spiele mit ihren Freundinnen, an denen er damals teilnahm, ist unzuverlässig: "ein Regenschleier liegt über diesem Jahr" heißt es, und "die Erinnerungen wurden fortgespült wie die Wiesen am Ufer, wenn im September der Regen kam". Der dreihundert Meter tiefe Genfer See, stellt Benjamin fest, ist "ein Abbild unserer Welt": "Sie (die Menschen) vergessen völlig, dass sie in einer riesigen, fauligen Lache schwimmen, dass alles, was sie hineinwerfen, für immer dort bleibt und nichts von der Strömung fortgespült, gereinigt oder zersetzt wird. Alles lagert sich im Schlamm ab und türmt sich mit der Zeit zu imposanten Gebilden."

    Der Vergleich einer verschütteten Erinnerung mit einer unter Wasser (bzw im Grundschlamm) versunkenen Welt ist nicht neu, aber bewundern muss die Leserin doch, wie Monica Sabolo bei jeder Gelegenheit neue Wassermetaphern aus dem Genfer See zu fischen weiß. Wer bereit ist, sich auf eine eigentümlich schwammige Erzählweise einzulassen, bei der die Zeitebenen ineinanderwachsen und der Erzähler selbst oft nicht recht weiß, was er wirklich erlebt hat oder im nachhinein falsch gewichtet oder zusammenphantasiert, kann das Buch mit Vergnügen lesen. Um das klarzustellen: das Rätsel um Summers Verschwinden wird aufgeklärt, und letztlich ist es sogar der anfangs recht larmoyant wirkende Benjamin, der die entscheidenden Schritte dazu tut. Die letzten Seiten kündigen sogar verhalten einen Weg in ein neues, aktiveres Leben an: "Mir ist, als würde ich durch einen Spiegel treten" bemerkt Benjamin auf der vorletzten Seite - und mit ihm atmet die Leserin auf.

    Alles fließt. Fische-Geborene geben 4 Punkte (ein Punkt Abzug für den schwerfälligen, beinahe stotternden Beginn, der wirkt, als solle er die Leser verjagen, und das wenig sympathische Upperclass-Milieu).

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