Stürzen Liegen Stehen: Roman

Buchseite und Rezensionen zu 'Stürzen Liegen Stehen: Roman' von Jon McGregor
5
5 von 5 (8 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Stürzen Liegen Stehen: Roman"

Drei Männer reisen zur Station K auf Alexander Island in der Antarktis: zwei junge Geowissenschaftler, die die veraltete Kartografierung auf den neuesten Stand bringen sollen, sowie Robert Wright, der Stationsleiter. Als die drei auf einer Exkursion in einen schweren Sturm geraten, kommt es zur Katastrophe. Die Männer verlieren im dichten Schneetreiben Sichtkontakt, plötzlich ist jeder auf sich allein gestellt. Zunächst schafft es nur Robert zurück zur Station. Dort angekommen, reagiert er nicht auf die Funksprüche der beiden anderen und fordert auch keine Hilfe bei der Basisstation an, so wie es das Notfallprotokoll zwingend vorsieht … Als Robert schließlich evakuiert und in ein Krankenhaus in Santiago de Chile gebracht wird, reist seine Frau Anna nach Südamerika, um ihn nach Hause zu begleiten. Fortan muss sie ihre eigene Karriere zurückstellen und sich um ihren Mann kümmern. Der hat infolge der dramatischen Ereignisse sein Sprachvermögen verloren. Niemand scheint zu wissen, was genau sich zugetragen hat auf Station K. Nur Robert könnte darüber Aufschluss geben.

Autor:
Format:Gebundene Ausgabe
Seiten:336
Verlag: Liebeskind
EAN:9783954381425

Rezensionen zu "Stürzen Liegen Stehen: Roman"

  1. Sprache und Kontrolle

    Station K auf Alexander Island in der Antarktis. Zwei junge Geowissenschaftler, Thomas und Luke, sollen unter der Leitung des versierten Stationsleiters Robert neue Landvermessungen vornehmen. Bei einer Exkursion geraten die drei Männer in einen unvorhergesehenen Schneesturm und verlieren den Kontakt zueinander. Nur Robert schafft es zunächst zur Station zurück, unfähig einen Notruf abzusenden.

    Der erste Teil in Jon McGregors Roman „Stürzen Liegen Stehen“ lässt sich noch wie ein Abenteuerroman an. Mittendrin in dem unbarmherzigen Schneetrieben verfolgen wir nah die Anstrengungen der drei Männer sich in Sicherheit bringen zu wollen, nehmen Teil an ihrer aufkeimenden Panik und bemerken, dass mit Robert etwas ganz und gar nicht mehr stimmen kann.

    „Arme halten. Heben. Stimme, redet. Luke redet. Redet Unsinn. Aufstehn. Jetzt reiß dich zusammen, Mann. Steh selbst jetzt jetzt. Zusamm Reißmann komm komm. Mann Reißmann jetzt komm jetzt…….
    …Stürzen“

    Mit dem Perspektivenwechsel im zweiten Teil des Buchs steht Anna, Roberts Ehefrau im Fokus. Sie muss ihr gut eingerichtetes Leben, ihre Karriere hintenanstellen, um sich um Robert zu kümmern, der aufgrund seines Schlafanfalls pflegebedürftig wurde. Wir spüren auch hier ihre Emotionen, ihre plötzliche Geworfenheit in eine Rolle, die sie nicht ausfüllen möchte, ihre Zerrissenheit zwischen Pflichtbewusstsein und Selbstbestimmung. Robert hingegen leidet vor allem unter dem Sprachverlust und das auf Hilfe angewiesen zu sein, macht ihn unduldsam.

    Unsere menschliche Natur neigt wohl dazu, alles kontrollieren zu wollen. Wir schützen und verteidigen unsere Territorien, die wir uns angeeignet haben. Es hat Folgen, lässt sich so ein Territorium nicht kontrollieren. Sei es das geografische Territorium Antarktis, dass sich vielleicht kartografieren lässt, der Mensch aber der Naturgewalt hilflos gegenübersteht. Auch unsere Fähigkeit mit Worten, Wortgebilden, Sätzen, grammatikalisch strukturiert zu kommunizieren ist ein menschliches Territorium. Wie gehen wir um miteinander, wenn wir der Sprache verlustig werden.

    Was als Abenteuer in diesem Roman beginnt wird ein Kunststück über den Verlust von Sprache, Verständigung, Kommunikation außerhalb von Worten. Hier gebührt nicht nur dem Autor Jon McGregor Lob, sondern auch Anke Caroline Burger, die den Text aus dem Englischen in die deutsche Sprache übersetzt hat.

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  1. Multiperspektivisches, themenreiches Sprachkunstwerk

    Schon im ersten Absatz wird man mitten hinein in die tragische Handlung katapultiert. Robert Wright ist jedes Jahr für ein paar Monate in der Antarktis. Er leitet die kleine Station K seit Jahren, die Mitarbeiter wechseln. Dieses Mal wird er von den zwei jungen Geowissenschaftlern Thomas und Luke begleitet, die die Kartografierung des Gebietes erneuern sollen. Alle Expeditionsteilnehmer werden laufend geschult, alle wissen um die Gefahren der Naturgewalten in dieser besonderen Gegend, deren Ruhe und Schönheit trügerisch sein können.

    An einem sonnigen Tag lassen sich die drei Mitarbeiter von Station K dazu verleiten,  die eingemeißelten Verhaltensregeln zu missachten: Thomas, ein begeisterter Hobbyfotograf, geht mit seinem Stativ aufs Eis, Robert entfernt sich nur ein paar hundert Meter, um das Foto perspektivisch zu optimieren.  Da passiert es. Ein plötzlicher Sturm zieht auf, Temperatursturz, schwarze Wolken. Man kann nichts mehr sehen, das Eis kracht, die Orientierung wird unmöglich. Jeder der drei Männer ist auf sich allein gestellt in seiner Not, jeder versucht, sich an trainierte Routinen zu erinnern in einer Situation, für die es kein Vorbild gibt. McGregor transportiert diese Panik, diese Angst direkt zum Leser, indem er ihn wechselweise in die Köpfe und Gedanken seiner Protagonisten schauen lässt. Dadurch fühlt man unmittelbar mit, die Spannung steigt enorm. Es ergeben sich Komplikationen. Entscheidungen unter Stress müssen getroffen werden. Was ist mit dem Campleiter los? Wieder fühlen wir die Ängste unmittelbar und verlassen den unwirtlichen Ort ebenso plötzlich, wie wir ihn betreten haben.

    Im zweiten und dritten Teil des Buches wechseln die Protagonisten, die Unmittelbarkeit der Perspektiven bleibt aber bestehen. Robert hat einen Schlaganfall erlitten, liegt in Santiago de Chile im Krankenhaus. Seine Frau Anna wird gebeten, sofort zu kommen. In den kommenden Wochen wird von ihr ein kompletter Wandel ihres Lebens erwartet. Sie war völlig selbständig, hat als Professorin Karriere gemacht. Die Krankheit ihres Mannes zwingt sie nicht nur in eine neue Rolle, sondern auch zur Reflexion über ihre Ehe. „Wir werden eine statistische Anomalie sein“, lautete einst der Plan, von dem nichts mehr übrig ist, seitdem Robert ihre Hilfe braucht.

    Weiterhin erleben wir das Geschehen aus den Perspektiven der handelnden Personen, sehr direkt und hautnah. Es gelingt dem Autor auf beeindruckende Weise, die verschiedenen Sichtweisen, Konflikte, Emotionen und Gedanken erleb- und nachvollziehbar zu machen. Ich habe selten ein dermaßen intensives Leseerlebnis gehabt. Darüber hinaus versteht es McGregor, seine Handlungsschauplätze mit Liebe zum Detail auszugestalten, so dass man sie sich wunderbar vorstellen kann. Er benutzt zahlreiche Stilmittel (das einfachste dürfte die Wiederholung sein) dermaßen gekonnt, dass sie ihre Wirkung nicht verfehlen. Wie er im dritten Teil Roberts therapeutische Sitzungen abbildet, wie er die unterschiedlichen Krankheitsmuster und Charaktere in Szene setzt, wie er den Weg der mühsamen Heilung erlebbar macht – das grenzt für mich an eine schriftstellerische Meisterleistung. Über all dem schwebt natürlich auch noch die Frage, was eigentlich genau an jenem verhängnisvollen Tag in der Antarktis passiert ist, wie es dazu kam, dass ein junger Mann starb. Was kann man Robert vorwerfen im Angesicht seines Gesundheitszustands? Wer trägt die Verantwortung?  Eine parallel laufende Untersuchungskommission soll Licht ins Dunkel bringen.

    Dieser Roman ist eine Wundertüte und ein Sprachkunstwerk. Im Grunde sollte man ihn ohne Berücksichtigung irgendwelcher Rezensionen und Klappentexte einfach lesen. Nur dann kann die Überraschung ihre volle Wucht entfalten. Man bekommt weit mehr als einen Abenteuerroman. Es geht auch um Schuld und Verantwortung, um Krankheit und Heilung, um Ehe und Familie. Viele Fragen, Ambivalenzen und Gedankenanstöße werden aufgeworfen, sie verstärken den Bezug zur packenden, ergreifenden Handlung. Man mag das Buch nicht aus der Hand legen.

    Bei „Stürzen Liegen Stehen“ handelt es sich um ein Sprachkunstwerk. Der Autor nutzt die Ausdrucksmöglichkeiten der Sprache vollumfänglich, um Krankheitsbilder höchst authentisch zu zeigen, Kommunikation zu ermöglichen und Gefühle zu transportieren. In diesem Zusammenhang muss man sich vor der Übersetzerin Anke Caroline Burger regelrecht verneigen, der es gelungen ist, diesen besonderen Text ohne Reibungsverluste ins Deutsche zu übertragen.

    Ein grandioser, facettenreicher, sehr lesenswerter Roman. Dringende Leseempfehlung!

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  1. 5
    14. Mär 2022 

    Mehr als ein Abenteuerroman!

    Jon McGregor schildert uns in dem Roman „Stürzen Liegen Stehen“ das Schicksal eines Antarktisforschers, der nach langjährigen Erfahrungen in der kalten Einsamkeit einer Antarktisstation dort einen körperlichen Zusammenbruch erlebt und dabei die bisher so konsequent eingehaltene Kontrolle verliert. Dieser Kontrollverlust führt dazu, dass das Leben einer seiner zwei Kollegen verloren geht und der Leser erwartet im Laufe des Romans eigentlich, Aufklärung dazu zu erhalten, ob hier ein schuldhaftes Verhalten von Doc, dem Protagonisten, vorliegt und dies ihm zur Last gelegt werden wird. Aber – ganz konsequent biegt der Autor im Roman nach Docs körperlichem Kollaps auf eine ganz andere Spur ein. So wie der Kollaps (vermutlich ein Schlaganfall) von jetzt auf gleich ein Leben und alle damit verbundenen Erwartungen von jetzt auf gleich auf den Kopf stellt, stellt auch der Autor den Roman auf den Kopf und reißt den Leser heraus aus der Abenteueratmosphäre der Antarktis und wirft ihn hinein in die Ödnis des Zuhauses in gesundheitlich sehr eingeschränkter Verfassung. Der Protagonist ist gestürzt (/) und wir kommen in die Phase des Liegens (_). Eine Phase, in der Anna, Docs Ehefrau im Mittelpunkt der Handlung steht, denn ihr Leben ist durch diesen Vorfall ähnlich stark aus der Bahn geworfen worden wie das von Doc. Als ambitionierte und talentierte Wissenschaftlerin hat sie die Freiräume ihrer Ehe mit monatelangen Auszeiten dazu genutzt, sich selbst eine Karriere aufzubauen, die sie nun als notwendige Stütze ihres siechen Ehemannes komplett aufgeben muss. Ihr Leben wird nur noch geprägt durch das „Müssen“, das ihr der Alltag mit Doc auferlegt. Ihre Bedürfnisse gelangen auch nicht wieder mehr in den Fokus, als es Doc langsam, langsam besser zu gehen scheint. Alles ist auf seine Bedürfnisse zugeschnitten und auf das Bemühen, ihn aus dem Status „Liegen“ herauszuholen. Davon handelt dann der dritte Teil des Romans „Stehen“ (I), der noch einmal komplett die Perspektive wechselt und Docs Therapiebesuche in der Gruppentherapie von Amira in den Mittelpunkt stellt. Mit unkonventionellen Mitteln, von denen selbst sie nicht immer ganz überzeugt zu sein scheint, versucht sie, Patienten wie Doc eine Kommunikationsmöglichkeit über das Spielen zu eröffnen. Nach viel Zögern und Zaudern macht sogar Doc mit bei dieser herausfordernden Aufgabe und eröffnet sich dadurch wieder ein bisschen „Stehen“ nach dem „Liegen“.
    McGregors Roman ist eine echte Wundertüte. Die Erwartung des Lesers auf einen Abenteuerroman bleibt nach dem ersten Teil komplett unerfüllt. Die Sprache zeigt ein Wechselspiel von genialen Ausdrucksformen, die sich den jeweiligen Teilen und deren Atmosphären wunderbar anzupassen verstehen. Und so friert man mit Doc und seinen Kollegen ungemein in Teil 1, man schuftet mit Anna und fühlt fasst körperlich die Schwere ihrer Tage in der neuen Rolle unter dem permanenten „Ich muss“ und macht die abenteuerliche Reise und Suche nach neuen Ausdrucksformen in den Therapiesitzungen mit, hadert und zaudert mit den Anforderungen, sich körperlich zur eigenen Lebensgeschichte ausdrücken zu sollen.
    Mein Fazit: Diese Wundertüte hat mich komplett gepackt. Die sprachliche Kraft des Autors trägt durch den Roman und über nicht erfüllte Erwartungen hinweg. Das trifft insbesondere auf die Teile 1 und 2 zu, während Teil 3 deutlich dahinter zurückfällt. Im Gesamtpaket aber ist das ein Roman voller Sprachkraft und Emotionen, die durch Sprache auf hervorragende Weise heraufbeschworen werden. Ich kann dem Roman nur viele Leser wünschen und werde den Autor nicht mehr aus den Augen verlieren! 5 Sterne

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  1. Eindrucksvoll und bewegend

    Drei Männer wollen in der Antarktis nur ein paar besondere Fotos machen. Doch die Antarktis ist unberechenbar und es kommt zu einer Katastrophe. Die drei werden getrennt und verlieren im dichten Schneetreiben den Sichtkontakt und auch der Funk fällt immer wieder aus. Der Stationsleiter Robert Wright schafft es zurück zur Station, aber er reagiert nicht auf die Funksprüche von Luke und Thomas und setzt auch keinen Hilferuf zur Basisstation ab. Robert wird gerettet, doch er ist nicht mehr der Alte. Er kann sich auch nicht verständlich machen. Was ist da in der Antarktis geschehen?
    Ich war mir aufgrund des Klappentextes nicht ganz sicher, was mich bei diesem Roman erwarten würde. Doch ich hatte auf einen Abenteuerroman getippt, denn die Antarktis ist ein ganz besonderer Erdteil, der es den dort Beschäftigten bestimmt nicht leicht macht. Doch dann geschieht etwas, dass dem Roman eine ganz neue Richtung gibt. Auch wenn meine Erwartungen sich nur teilweise erfüllt haben, so hat mich dieser Roman doch überzeugt. Die Sprache ist einfach grandios. Dem Autor Jon McGregor ist es zudem hervorragend gelungen, nicht nur die schwierigen Bedingungen in der Antarktis darzustellen, sondern auch die unterschiedlichen Probleme von Robert und seiner Frau Anna nach der Rückkehr aus der Antarktis. Ausdrücklich erwähnen möchte ich aber auch die geniale Übersetzung von Anke Caroline Burger.
    Robert hat langjährige Erfahrung mit dem Leben in der Antarktis, denn immer wieder hat es ihn dorthin gezogen. Daher fühlt er sich verantwortlich für das, was geschehen ist, denn er hätte es besser wissen müssen. Als er zurück zur Station kommt, ist er nicht mehr er selbst. Er wird gerettet, doch ihm steht ein langer Kampf bevor, bei dem er auf die Hilfe seiner Frau Anna angewiesen ist. Viele Jahr hat Anna ihr Leben eigenverantwortlich gestaltet, da ihr Mann nur sporadisch zu Hause war. Sie hat die Kinder großgezogen, Haus und Garten in Ordnung gehalten und hat sich einen Namen als Wissenschaftlerin gemacht. Doch das soll sich nun alles ändern und sie muss Robert pflegen. Damit ist sie total überfordert, denn ihr bleibt keine Minute zum Verschnaufen. Robert dagegen kämpft für seine Rückkehr ins Leben. Er hat nicht nur motorische Probleme, sondern kann sich auch kaum verständlich machen. Dass nicht alles immer so geht, wie er es möchte, macht ihn oft verzweifelt und wütend.
    Mich hat dieser außergewöhnliche und tiefgründige Roman total beeindruckt. Absolute Leseempfehlung!

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  1. Weiße Stille - hilflose Sprachlosigkeit

    Ein Rätsel vorneweg, das wir auch in der Leserunde nicht lösen konnten, ist die deutsche Übersetzung des englischen Originaltitels, die die Reihenfolge der Verben abgeändert hat. Seltsamerweise passen die deutschen Verben jeweils besser zu den drei Abschnitten als das englische Original - vielleicht hat man es aus inhaltlichen Gründen vertauscht.

    Zum Inhalt:

    "Als der Sturm unerwartet losbrach, wurde Thomas Myers auf die Knie geworfen." (9)

    Thomas befindet sich gemeinsam mit Luke Adebayo in der Antarktis. Die beiden sind Geoinformationswissenschaftler und sollen Fehler in der Vermessung des Küstenverlaufs beheben und das mit modernster Technik. Ihnen zur Seite steht Robert Doc Wright, der seit vielen Jahren Campleiter in der eisenoxidroten Station K ist. Zwei junge Hüpfer ein alter Hase.

    "Robert >>Doc<< Wright hatte den Sturm kommen sehen, aber keine Zeit gehabt, die andern zu warnen. Der Nachmittag war nach Beendigung der GPS-Messungen des Tages Freizeitaktivitäten gewidmet gewesen. Die Abfahrt von der Schutzhütte Station K. war um 1300 erfolgt, und sie waren mit zwei Motorschlitten hinunter zur Küste gefahren, vorwiegend mit der Abschied, Thomas´ fotografischem Hobby nachzugehen." (21)

    Weil man die Dimensionen in der Antarktis kaum auf Bildern festhalten kann, klettert Doc auf den Priestley Head, ein Unterfangen, das in der Art und Weise im Protokoll so nicht vorgesehen ist. Zudem befindet sich Luke, als der Sturm losbricht, an den Motorschlitten, so dass jeder auf sich allein gestellt ist.

    Aus der jeweiligen personalen Perspektive der drei Figuren erleben die Leser:innen zu Beginn mit, wie unbarmherzig der Sturm die Männer an ihre Grenzen bringt. Im Bestreben das Richtige zu tun, fällt ihnen auf, dass es Widersprüche in der Ausbildung gibt. So ganz eindeutig sind die Routinen nicht, wenn ein Ernstfall Eintritt.

    "Unterschlupf finden oder bauchen, sich nicht vom Fleck rühren, mit den Teamkollegen Kontakt aufnehmen, in Bewegung bleiben, Ruhe bewahren." (10)

    Verzweifelt versuchen sie untereinander Funkkontakt aufzubauen und Station K wieder zu erreichen. Als Leser:innen tauchen wir jeweils in die Gedanken der Protagonisten und das so intensiv, dass man beim Lesen eine warme Wolldecke braucht. Gleichzeitig beschreibt McGregor aber auch die unglaubliche Schönheit der endlose, weißen Stille.

    Innerhalb des ersten Abschnittes "STÜRZEN" wird auch im Rückblick von der gemeinsamen Zeit in Station K. erzählt. Die Männer vertreiben sich mit Kinderspielen die Zeit und Robert erzählt Anekdoten aus vergangenen Zeiten. Immer wieder wird deutlich, dass sich verschiedene Generationen gegenüberstehen. Erhellend ist der Dialog über die Manfood Box. In Roberts Augen sind Frauen nur dann akzeptabel, wenn man keinen Unterschied merke, sie seien dann „Männer ehrenhalber“ (58). Da spricht die alte Generation.

    Während Luke und Thomas Fehler in der Vermessung korrigieren möchten, hatte Doc "ihnen mitgeteilt, das Wort Fehler gefalle ihm nicht. Jeder gibt hier sein Bestes, hatte er gesagt. Die Arbeitsbedingungen sind nicht die einfachsten." (56)

    Statt dessen will er den Begriff Anomalien verwenden, der im 2.Abschnitt "LIEGEN" seine eigene Beziehung beschreibt. Seine Frau Anna, eine Professorin für Klimaforschung, sieht in ihrer Ehe ebenfalls eine statistische Anomalie, denn sie geht nach der Heirat und mit Kindern weiter ihrem Beruf nach und bewältigt den Alltag überwiegend alleine, während Robert die meiste Zeit des Jahres in der Antarktis verbringt.

    Im 2.Abschnitt ändert sich der Fokus und erzählt wird aus Annas Sicht, die mitten in der Nacht vom Institut angerufen wird.

    "Es geht um Robert. um Ihren Mann. Es tut mir leid, dass ich Sie geweckt habe. Sie müssen bitte kommen."(101)

    Wir erfahren, wie sie nach Santiago fliegt, Robert vorfindet, der nicht mehr sprechen kann und dessen motorischen Fähigkeiten stark eingeschränkt sind. Seltsamerweise hält sich das Institut sehr bedeckt, was die Ereignisse in der Antarktis betrifft und ein Teil des Romans geht der Frage nach, was wirklich dort geschehen ist und ob jemand Schuld an den Ereignissen trägt. Der Fokus verschiebt sich jedoch hin zu Roberts Unfähigkeit zu kommunizieren, sich verständlich zu machen. Es gelingt McGregor dies sprachlich so umsetzen, dass man förmlich selbst nach Worten ringt. Beeindruckend schildert er, wie auch Anna versucht mit den veränderten Lebensumständen zurecht zu kommen. Den letzten Abschnitt "STEHEN" fand ich zwar schwächer als die vorherigen, auch aufgrund der häufig wechselnden Perspektiven.
    Insgesamt jedoch ein lesenswerter Roman, der als Abenteuergeschichte beginnt und dann völlig die Richtung ändert. Die Protagonisten sind authentisch und sensibel gezeichnet, ihre Handlungen nachvollziehbar, ihr Charakter differenziert ausgestaltet. Man leidet mit ihnen.

    Ein echtes Lesehighlight, das neben der grandios erzählten Geschichte vor allem aufgrund der außergewöhnlichen Sprachvirtuosität begeistert.

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  1. Eine Wucht!

    Jon McGreogrs Roman entfaltet eine sprachliche Wucht, die die eigentliche Geschichte fast in den Hintergrund treten lässt. Erwartet hatte ich einen recht klassischen Abenteuerroman, bei dem die Aufklärung eines Unglücks in einer Forschungsstation aufgeklärt werden soll, bekommen habe ich eine mitreißende, atemlose Ausgangssituation, eine Mittelsequenz, die ein Frauenschicksal zentral setzt und dabei auch die Geschichte einer Ehe erzählt, und einen Schlussteil, der vom Kampf zurück ins Leben berichtet. Über allem schwebt Robert Wrights Schlaganfall, seine Bedingungen, seine Auswirkungen, sein Heilungsweg.

    So wenig ansprechend vielleicht die Story einer Erkrankung im Roman sein mag, dieser Roman verdient es gelesen zu werden – aber eben gerade nicht wegen seiner Handlung. Die ist nämlich (abgesehen vom ersten Teil) gar nicht mal besonders interessant, aber das was McGregor daraus macht, ist erstens ein Geschenk an alle Leser und zweitens ganz große Handwerkskunst. Der Roman brilliert auf der sprachlichen Ebene und sorgt für eine fabelhafte Symbiose zwischen Inhalts- und Diskursebene. Hier passt die erzählerische Vermittlung so gut zum Inhalt, dass nicht einmal mehr das sprichwörtliche Blatt Papier dazwischen passt.

    McGregor fächert seine Erzählweise multiperspektivisch auf, er springt von Fokalisierungsinstanz zu Fokalisierungsinstanz, ohne auch nur an einer Stelle den Leser zu verwirren. Das ist abwechslungsreich zu lesen, mitreißend, faszinierend und lässt einen ganz nah am Geschehen teilhaben. Er versteht das Spiel mit den Gedanken, besonders im Mittelteil, wenn Annas Perspektive sehr lange im Fokus steht, gelingt ihm dies außerordentlich gut. Die Limitierung des eigenen Lebens durch die Krankheit eines Angehörigen wird hier perfekt dargestellt, dazu schafft er es auch glaubhaft die überforderte Gefühlslage auf sehr zurückgenommene Weise für den Leser spürbar, wenn nicht sogar erfahrbar, zu machen. Texte schaffen es nicht oft, so überzeugend Gefühle zu transportieren. Dabei gibt es bei McGregor keinen sprachlichen Überfluss, jedes Wort sitzt und entfaltet seine Wirkung.
    Auch die Imitation der kognitiven Einschränkungen Roberts gelingt dem Autor hervorragend. Der allmähliche Verlust der Ausdrucksfähigkeit, das Leben im Schweigen und die mühsame Rückeroberung des Verstandenwerdens durch andere Formen der Kommunikation ist begeisternd, überzeugend und bis ins letzte Detail durchdacht.

    Die Figuren sind, auch wenn sie manchmal nur kurz auftreten, allesamt gut gezeichnet. Selbst wenn man von einigen nur eine Seite der Persönlichkeit kennenlernt, ist diese schon weitreichend und authentisch angelegt. Jede Figur bekommt von McGregor Leben eingehaucht.

    Ein großartiger, sprachlich faszinierender, einfach fabelhafter Roman, interessant und mitreißend, der zeigt, was Sprache kann.

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  1. 5
    10. Mär 2022 

    Lesen Lesen Lesen!!!!

    Der Roman „Stürzen Liegen Stehen“ des englischen Autoren Jon McGregor beginnt für den Leser mit Frostbeulen.
    Ohne Klappentext oder Buchbeschreibung zu kennen, scheint es ein Abenteuerroman zu sein, der in einem Expeditionslager der Antarktis spielt und mit dramatischen Geschehnissen beginnt.
    Der Leser wird von Beginn an gepackt, zum Einen durch die ungeheure Spannung, die durch die Ereignisse entsteht, zum Anderen überträgt Jon McGregor mit der Kraft seiner Worte eine Stimmung auf den Leser, die nur an diesem ganz besonderen Ort auf dieser Welt vorherrschen kann.
    Die klimatischen Bedingungen sind unbarmherzig, die Kulisse ist atemberaubend, drei Männer kämpfen mit den Naturgewalten.
    Das Expeditionsteam besteht aus drei Teilnehmern: Luke und Thomas – die Frischlinge des Teams - sowie Campleiter Robert, der auf mindestens 20 Jahre Expeditionserfahrung in der Antarktis zurückblicken kann. Dieses Team wird über mehrere Monate in der Forschungsstation K ihren Forschungen nachgehen.
    Die drei Männer werden während eines Außeneinsatzes von einem Schneesturm überrascht. Nur zwei werden überleben, wovon einer – Robert - mit den schweren Folgeschäden an seiner Gesundheit zu kämpfen hat.
    Wieder zuhause in Cambridge betrachtet der Roman den Verlauf seiner schweren Erkrankung und begleitet den Protagonisten während den Anfängen seiner Genesung. Die gesundheitlichen Schäden, die er davongetragen hat, sind enorm, so dass er zu einem Pflegefall wird. Die Pflege übernimmt seine Ehefrau Anna, eine ambitionierte Wissenschaftlerin, die von jetzt auf sofort in die Rolle der selbstlosen Partnerin gedrängt wird, die ihre eigenen Bedürfnisse, Ambitionen, Wünsche und Träume zu Gunsten ihres pflegebedürftigen Partners aufgibt und dabei an ihre seelischen Grenzen kommt.
    Vom Beginn des Romans bis zu seinem Ende steht immer wieder die Frage im Raum, wie es zu den unglücklichen Ereignissen in der Antarktis kommen konnte, und wer den schrecklichen Ausgang zu verantworten hat.

    Ich gebe zu, ich habe mich von der Covergestaltung des Buches und dem Stichwort „Abenteuerroman“, der in der Verlagsbeschreibung zu finden ist, verleiten lassen und einen solchen erwartet.
    Doch mit Verlagerung des Schauplatzes auf Cambridge wurde ich eines Besseren belehrt – im wahrsten Sinne des Wortes. Haben mich Handlung, Schauplatz und Sprache des Romans bereits im ersten Abschnitt beeindruckt, hat Jon McGregor mit der weiteren Entwicklung noch einen draufgesetzt.
    Dies ist ein Roman, der nichts anderes außer Lobeshymnen verdient hat.

    In Anlehnung an den Titel, gibt es drei Kapitel in diesem Roman. Innerhalb jedes Kapitels wird die Geschichte aus den unterschiedlichsten Perspektiven erzählt, die sich aus Protagonisten und Nebencharakteren zusammensetzen.
    Durch die unterschiedlichen Perspektiven bietet sich ein vielschichtiges Bild der Hauptfiguren Robert und Anna sowie ihrem Umgang mit Roberts Krankheit und deren dramatische Auswirkungen auf das bisher gewohnte Leben.
    Die Sprache ist dabei ein wichtiges Element in diesem Roman, die nicht nur intensive Stimmungen auf den Leser überträgt, sondern auch stellenweise als "gestörte Sprache" daherkommt. Jon McGregor versucht die Sprachstörung wiederzugeben, genauso wie die damit verbundenen Kommunikationsprobleme. Der einfachste Satz wird für alle Beteiligten zu einer Herausforderung, verbunden mit Frustration und Enttäuschung. Der Autor geht also das Wagnis ein, den Leser mit der Sprache Roberts zu konfrontieren, einem Buchstaben- und Wörtersalat, der mehr Unsinn als Sinn ergibt und hinter dem dennoch Roberts Gedankengut steckt. Denn die gesundheitlichen Schäden haben sein Sprachvermögen, aber nicht sein Denkvermögen beeinträchtigt. Der Leser hat also mit denselben Kommunikationsproblemen zu kämpfen, wie die Menschen, mit denen Robert zu tun hat und spürt am eigenen Leib, welche Hilflosigkeit und Ungeduld bei allen Beteiligten durch diese Versuche der verbalen Verständigung hervorgerufen wird.

    Etwas bedrückend war der Einblick in das englische Gesundheitswesen, den uns Jon McGregor am Beispiel der Behandlung von Robert gewährt. Man kann nicht umhin, Parallelen zu unserem deutschen System zu sehen. Die größten Probleme entstehen durch fehlende finanzielle Mittel. Geld spielt leider eine Rolle – insbesondere im Gesundheitswesen.

    Fazit
    Ein Abenteuerroman entwickelt sich zu einer fesselnden Geschichte über Sprache, Kommunikation und den Kampf mit einer schweren Erkrankung.
    Jon McGregor gelingt dabei, Stimmungen zu produzieren, die den Leser mit allen Sinnen mitfühlen, aber auch mitleiden lassen.
    Ein faszinierender Roman.
    © Renie

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  1. 5
    06. Mär 2022 

    Abenteuer Sprache

    Als ich „Stürzen Liegen Stehen“ von Jon McGregor aufschlug erwartete ich einen anspruchsvollen Abenteuerroman. Bekommen habe ich einen facettenreichen Roman über ein menschliches Unglück an einem unwirtlichen Ort, die Geschichte eines Menschen, der durch eine Schlaganfall die Sprache und Teile seiner Motorik verliert, einer Ehefrau, die sich ihr Leben ganz anders vorgestellt hat und nun zur häuslich-pflegenden Angehörigen wird und den Kampf aller Beteiligten zurück in ein nun neues, aber lebenswertes Leben.

    Für mich stellt „die Sprache“ das eigentliche Abenteuer des vorliegenden Romans dar. Mit anbetungswürdigem Können nutzt McGregor Sprache, um nicht nur einen Defekt des Gehirns authentisch darzustellen, sondern auch, um Ereignisse von verschiedenen Blickwinkeln zu beleuchten, Beziehungen punktgenau mit nur wenigen Worten auszuleuchten und unvorstellbare Belastungen herauszuarbeiten. In jedem der drei Abschnitte des Buches (logisch: Stürzen /, Liegen _, Stehen | ) verwendet der Autor verschiedene personale Erzählperspektiven, um die verschiedenen Persönlichkeiten in ihren Eigenarten sowie unterschiedliche Wahrnehmungen von ein und derselben Situation darzustellen. Das überrascht von Kapitel zu Kapitel und hält stets die Spannung und das Interesse am Plot hoch. Allein im letzten Abschnitt waren es mir ein bisschen zu viele neue Figuren, zu viele personale Erzählperspektivwechsel, was der beeindruckenden Gesamtlektüre jedoch keinen Abbruch tut.

    Die Recherchearbeit, die hinter diesem Roman steckt, muss enorm gewesen sein und ich finde, McGregor hat es im besten Sinne hinbekommen, dass man trotzdem als Leser:in nur so in den Roman hinein gezogen wird. Äußerst nah an der Realität bewegt sich der Autor gekonnt zwischen den angesprochenen Themengebieten hindurch. Von Antarktismission mit katastrophalen Folgen, über medizinische Behandlung und Diagnostik, zu häuslicher Pflegesituation, hin zu dem ganz individuellen Kampf zurück in ein anderes, neues Leben. Besonders die häusliche Pflegesituation und daraus unweigerlich entstehende Überforderung war für mich besonders aufwühlend dargestellt. Auch hier sprachlich in ganz eigener Art und Weise.

    Meines Erachtens sollte an dieser Stelle von Anke Caroline Burger gesondert hervorgehoben werden. Wie sie mit der Vorlage des Autors umgegangen ist, könnte man virtuos nennen.

    Wer also bei diesem Buch allein einen Abenteuerroman erwartet, wird keineswegs enttäuscht mindestens überrascht, nein, sogar begeistert mitgerissen werden in eine zunächst ungewöhnliche und später sehr menschlich tiefgründige Geschichte. Meine Begeisterung für diesen Roman ist so groß, dass ich eine Lektüre nur dringend empfehlen kann.

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