Stories

Rezensionen zu "Stories"

  1. Über ver-rückte Wirklichkeiten und den Reiz des Wahnsinns

    Etwas gezögert habe ich, ob Joy Willams' Buch "Stories" etwas für mich sein könnte. Normal lese ich seltenst Kurzgeschichten, und doch wurde ich durch die Lobeshymnen sehr neugierig auf dieses Buch und wollte mir letztlich selbst eine Meinung bilden. Wie würde mir wohl das vom literarischen Quartett als "spektakuläre Entdeckung" mit den Miniaturen und "Albtraumgrotesken vom Feinsten", um mal nur eine der begeisterten Stimmen zu zitieren, gefallen?

    Die Autorin Joy Williams war mir bis dato unbekannt. In den USA längst gefiert für ihr umfangreiches Werk von Romanen, Kurzgeschichten, Essays und einem Reiseroman, galt die Autorin bei uns zulande vor Veröffentlichung dieses Erzählbandes als unbeschriebenes Blatt. Dies änderte der DTV Verlag nun mit der Herausgabe des 13 Kurzgeschichten umfassenden Werkes. Sicher ist dies nur der erste Schritt, die deutsche Leserschaft mit dem Werk Joy Williams' vertraut zu machen.

    Möglicherweise sollte man das Buch mit einer Triggerwarnung vermarkten, denn es sind allesamt sehr düstere, skurile Geschichten von Sonderlingen, Einzelgängern, Versagern und Lebensmüden, die der Erzählband vereint. Allesamt auch Geschichten, die sich einem unmittelbaren Verstehen und Aha-Erlebnis entziehen. Man muss sich auf Deutungsspiele einlassen, Schicht um Schicht freilegen, um zu entdecken, worum es jeweils im Kern geht. Man muss sich auf die Lektüre einlassen können, aber dann, so ging es zumindest mir, ist der Weg frei für die ein oder andere Entdeckung.

    Immer wieder sind es recht alltägliche Situationen, in denen plötzlich ein Schockerlebnis Einzug erhält. Es gibt wiederkehrende Motive und Themen, insbesondere Einsamkeit, Leere und Sinnlosigkeit, Tod und Verlust durchziehen die Geschichten wie ein roter Faden. Dahinter steckt vielleicht die Erkenntnis, dass die Welt, in der wir leben eine ver-rückte ist, in der gängige Grenzziehungen zwischen Wahnsinn und Vernunft an ihre Grenzen stoßen. Man könnte die Geschichten auch lesen als Erinnerung an die Verantwortung, die wir alle in der Welt haben: Es reicht nicht, nur von Liebe zu träumen. Es ist keine Lösung, sich Problemen nicht zu stellen, oder sie in Alkohol zu ertränken. Nicht immer hilft es, auf die Möglichkeit eines Neuanfangs, der sich quasi wie von selbst darbietet, zu vertrauen. Jeder Einzelne muss Verantwortung übernehmen und die Welt zu einem annehmbaren Ort machen, in der ein von gemeinsamer Wertschätzung und Respekt getragenes Zusammenleben möglich wird. Und dies gilt auch mit Blick auf die Tierwelt. Vielleicht erkennt man hierin den Grund, weswegen die Autorin in den USA als eine der eindrücklichsten ökologischen Stimmen gilt.

    Von all dem und viel mehr erzählen die Geschichten, von denen selbst ich ganz bewusst nichts verrate. Möge der Leser/die Leserin das Williams-Universum selbst entdecken und dabei hoffentlich nicht an der mühsamen Deutungsarbeit verzweifeln, sondern Freude daran haben, wie herrlich skuril und ver-rückt hier über Themen geschrieben wird, die uns alle bewegen. Ein Geheimtip, in jedem Fall!

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  1. Der Mensch passt nicht in diese Welt

    Joy Williams liefert in ihren Stories harten Tobak: Optimismus, positive Weltsichten und eine lebensbejahende Einstellung sucht man hier vergebens. Stattdessen sind ihre Figuren einsame, gescheiterte Existenzen mit teilweise sehr abstrusen Charakterzügen, seltsamen Eigenschaften oder merkwürdigen Interessen: Sonderlinge, die an ihrer Gegenwart verzweifeln oder an denen das Leben vorbeiläuft.

    Williams zeigt die Welt nicht, wie sie ist, sie macht sie zu einem noch schlechteren, düstereren Ort, sodass die Lektüre mehrerer Geschichten am Stück durchaus aufs Gemüt drücken kann. Nichtsdestotrotz sind ihre Stories von großer Qualität, sie beinhalten Subtexte und Anspielungen, die sich mitunter aber nur mit größerer Anstrengung enthüllen lassen. Verbunden werden alles Stories (bis auf eine) durch eine große erzählerische Distanz. Fast teilnahmslos und ohne Empathie werden die verschiedenen Figuren durch ihre Geschichte verfolgt, Sympathie seitens des Lesers wird allein durch diese Haltung schon verhindert. Ein weiteres verbindendes Element der Geschichtenauswahl sind der starke Naturbezug und der wiederkehrende Gebrauch von Tieren, sei es lebendig, als ausgestopftes Museumsexemplar oder als Dekorationsobjekt. Da Williams immer wieder auf den Niedergang der Natur durch den Menschen, die (begrenzte bis unsinnige) Kontrolle der Natur und Tiere durch Menschen (als Beispiel sei die Haltung einer Schlange als Haustier genannt, die hier ähnlich wie eine Katze domestiziert werden soll) zurückgreift, kann man die Stories in der Tradition des Ecocriticism verorten. Gerade in dieser Hinsicht sind die Geschichten in ihrer Aussage sehr stark – auch, wenn es bei weitem nicht die einzige Lesart sein sollte.

    Joy Williams Stories sind eine gewinnbringende Lektüre für Leser, die keine Furcht vor unbequemen Themen, Skurrilitäten, pessimistischen Blicken auf die Welt und fordernden Texten haben. Williams bietet die Aussage ihrer Werke nicht auf dem Silbertablett an, man muss sich in ihren Stil und ihr Darstellungen einlesen und selbst dann gibt es keine Garantie dafür, dass man sie zufriedenstellend entschlüsselt. Mir persönlich gefällt der Anspruch und auch die Aussage eines Teils der Geschichten, vor allem auch, weil sie sich zunehmend nach Beendigung der Texte erst eröffnet, die Düsternis und Negativität, die sich durch den Band zieht, ist allerdings teilweise schwer zu ertragen.

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  1. "Früher war nie so viel von Rost und Verrottung die Rede ..."

    Joy Williams, geboren 1944, ist eine US-amerikanische Autorin, die u.a. fünf Romane und etliche Erzählungen veröffentlicht hat. Hierzulande scheint sie jedoch kaum jemand zu kennen; mir war sie kein Begriff. Das ändert sich nun durch diesen Band mit dem schlichten Titel "Stories", der dreizehn Erzählungen versammelt, erstveröffentlicht zwischen 1972 und 2014. Sie sind kurz genug, dass man jede in einem Rutsch lesen kann, und - ein wesentliches Charakteristikum - sie sind so verdichtet und voll mit ungewöhnlichen Details, dass man oft gleich nach dem letzten Punkt wieder von vorne beginnen möchte.

    Ausgangspunkt in diesen Erzählungen, in denen fast immer eine Frau, ein Mädchen, eine junge oder ältere Mutter im Mittelpunkt steht, ist eine Grenzsituation: Eine todkranke Frau versucht ihre letzten Lebenswochen zu gestalten. Eine Frau hilft einer abgebrannten Familie und verschuldet sich selbst dabei. Eine Gruppe Mütter, die der Umstand eint, dass ihre Kinder Morde begangen haben, trifft sich regelmäßig zum Gespräch. Eine Frau verliebt sich in eine aus Tierhufen gebastelte kleine Lampe (meine persönliche Lieblingsgeschichte). Das Umfeld all dieser Personen ist bizarr, ihr eigener Zugang zur Realität ungewöhnlich und manchmal kaum nachvollziehbar, selbst wenn man einige Skurrilitäten dem "american way of life" zuschreibt. Joy Williams selbst kommentiert ihre Geschichten nicht, gibt keine Deutungen vor und fällt keine Urteile über ihre Figuren. Ihre Charakterisierungen sind bruchstückhaft und oft nicht leicht nachzuvollziehen: "Tommy (ein neunjähriger Junge) fand Seile gut. Manchmal aß er Dreck. Gewitter begeisterten ihn. (...) Oft verstrichen Wochen, in denen er kein Stück wuchs."

    Der Erzählton dieser schwer zu fassenden Texte bringt es mit sich, dass die Leserin in jeder prominent erscheinenden Einzelheit ein quid pro quo erkennen möchte: ein erschossener Hase, eine abgelegte Schlangenhaut oder die erwähnte Lampe aus Tierhufen. Eine zweite und dritte Erzählebene scheint diffus durch das berichtete Geschehen und will gedeutet werden, wie bei den 3D-Bildern, bei denen man die Augen bewusst neu einstellen muss. Ein Beispiel dieser Erzähltechnik, die ständig den Blick in dahinter liegende Räume zu öffnen scheint - über den Prediger Jones, dessen Frau an einer tödlichen Blutkrankheit leidet: "Jones' Frau (wird) im Rollstuhl zum Wagen gebracht. Sie ist dünn und wunderschön. Jones ist dankbar und verwirrt. (...) Sind wirklich so viele Jahre vergangen? Ist das nicht seine Frau, seine Liebe, die gerade ein Kind zur Welt gebracht hat? Fängt nicht jetzt erst alles an? In Mexiko schlendert seine Tochter gleichgültig durch ein Juweliergeschäft. wo sie ein kleines silbernes Ei in die Hand nimmt. Es öffnet sich an einem Scharnier, und im Innern sind zwei Figuren, eine Braut und ein Bräutigam." Solche Gedankengänge klingen versöhnlich, manchmal tröstend. Charakteristischer für Williams' Geschichten ist jedoch die Feststellung eines TV-Briefkastenonkels, den sie den Antwortmann nennt: "Der Wein dieser Welt hat nur Übersättigung verursacht. (...) Abwesenheit, Sterilität, Trauer, Entbehrung und Trennung nehmen im ganzen Land überhand." Was auch immer die Autorin uns sagen will, ihr Grundton ist pessimistisch. Das gilt für fast alle Erzählungen in diesem Buch.

    Joy Williams' Stories kann man nicht nebenher zur Unterhaltung lesen, und ich habe nicht zu allen Zugang gefunden. Wenn man sich aber darauf einlässt, wird man das Buch immer wieder einmal in die Hand nehmen.

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  1. 4
    15. Mai 2023 

    Amerikanischer Alltag skurriler Gestalten

    Joy Williams ist eine bei uns weitgehend unbekannte US amerikanische Schriftstellerin, von der der dtv-Verlag nun eine Reihe von Stories unter eben diesem Titel veröffentlicht hat. Der Titel deutet damit schon an, dass es in den Stories nicht unbedingt um eine Einheit geht, die irgendwie unter ein Thema oder eine Thematik zusammenzufassen sind, sondern jede Story steht für sich selber. Und zusammen ergeben sie eher ein Bild, das aus verschiedenartigen Steinchen zusammengesetzt ist, als ein Gebäude, das planvoll zusammengesetzt erscheint.
    Was den Erzählstil und die Auswahl der Figuren betrifft, ergibt sich in den Stories aber doch eine Art roter Faden. Joy Williams sucht sich die eher skurilen Figuren im amerikanischen Alltag aus und beobachtet sie für eine gewisse Zeit detailliert in ihrem Alltag. Sie zoomt sozusagen in den amerikanischen Alltag und präsentiert nicht alltägliche Figuren. Sie tritt dabei unvermittelt in deren Leben und begleitet sie ein Stück ihres Weges, berichtet viele Details über sie, bevor sie sie dann wieder unvermittelt und ohne wirklich das Ende einer Geschichte erreicht zu haben, verlässt. Die Figuren werden dabei nicht unbedingt sympathisch beschrieben. Da ist zum Beispiel der zynische Vater in der Story „Im Zug“, der zu dem Mädchen, das über den Sommer in der Familie aufgenommen wurde, über das Leben seiner eigenen Tochter sagt:
    „Jane wird keine Freunde haben. Jane wird Ehemänner, Feinde und Anwälte haben.“
    So fließt das Leben in den Stories dahin und vermittelt dem Leser eine amerikanische Welt, die irgendwie austauschbar erscheinende Möglichkeiten bietet. Wie die Karte „für Schreibfaule“, die Mr Muirhead in der Story „Im Zug“ in die Finger bekommt:
    „Man kreuzt einfach an, was man sich wünscht… Bist du zufrieden () einsam () glücklich () traurig () pleite () im siebten Himmel ().“
    Joy Williams Sprache vermittelt diese herangezoomten amerikanischen Situationen und Figuren auf sachliche, dabei aber auch packende Art und Weise, und ihre Sprache ist es neben der besonderen Figurenauswahl, was den Reiz dieses Buches ausmacht. Jede Story für sich ist ein kleines Kleinod aus dem amerikanischen Alltag, das dem Leser nicht immer gefallen muss und kann, das aber eine ganz spezifische Stimmung einfängt und wiedergibt kann.

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  1. 3
    11. Mai 2023 

    Verstörend und kryptisch

    Die 1944 geborene Joy Williams ist eine in den USA sehr geschätzte Autorin, vor allem Schriftstellerkollegen schwärmen von ihr und bewundern ihre Art des Schreibens. Von ihr sind fünf Romane und fünf Erzählbände erschienen, außerdem ein Essay und ein Reiseführer. In Deutschland ist sie bisher eine Unbekannte. Um das zu ändern, hat der dtv- Verlag nun eine Sammlung ihrer Geschichten herausgebracht unter dem schlichten Titel „ Stories“. Darin versammelt sind 13 Short Stories aus vier Jahrzehnten; die älteste ist von 1972, die jüngste aus dem Jahr 2014. Dass man ihren Geschichten ihre Entstehungszeit nicht anmerkt, spricht für ihre Zeitlosigkeit.
    Erstaunlich, dass eine Story mit dem Titel „ Letzte Generation“ schon 1990 veröffentlicht wurde. Hier freundet sich der neunjährige Tommy, dessen Mutter vor kurzem verstorben ist, mit der „ abservierten“ Freundin seines großen Bruders an. Die beeinflusst den einsamen Jungen mit ihren morbiden Gedanken zum Ende der Welt. „ …und jetzt leben wir im einundzwanzigsten. Dem Jahrhundert der Zerstörung. Die Erde gibt es seit vier Komma sechs Milliarden Jahren, und es dauert vielleicht nur noch fünfzig Jahre, um sie auszulöschen.“ „ Wir sind die letzte Generation.“
    Allerdings ist die an den Anfang gesetzte Story „ Liebe“, die schon 1972 erschienen ist, die für mich eingängigste und versöhnlichste. Vielleicht schrieb Joy Williams in ihren Anfängen noch verständlicher.
    Hier nimmt mich schon der erste Satz für den Protagonisten ein. „ Jonas, der Prediger, hat sein Leben lang geliebt.“ Und er ist auch hier für seine Nächsten da. Er kümmert sich fürsorglich um das Baby seiner Tochter, als die aufbricht, um sich in Mexiko auf einen Selbstfindungstrip zu begeben. Dabei hat er gerade genug Probleme, denn seine Frau ist todkrank. „ Im Krankenhaus harrt seine Frau ihrer Verwandlung, von einer Frau, der Frau, die er liebt, in einen bloßen Zustand.“ Er bringt ihr jeden Tag eine Rose ans Krankenbett, samstags kauft er zwei, weil der Blumenladen sonntags geschlossen hat. Das Leben aber hat ihn, den Gottesmann, von Gott entfremdet. „ Er ist ausgemergelt vom Glauben.“ Trotz dieser Traurigkeit, die über der Geschichte liegt, endet sie voller Liebe. Zu Weihnachten darf seine Frau nach Hause und Jonas hat alles vorbereitet für ein letztes gemeinsames Weihnachtsfest.
    Es sind meist deprimierende Geschichten, die uns Joy Williams hier erzählt. Es geht um Beziehungen, schwierige Verhältnisse zwischen Eltern und Kindern, um gestörte Kommunikation, um Verlust, Krankheit und Tod, oft aus der weiblichen Perspektive geschildert.
    Immer wieder auch stehen Kinder im Mittelpunkt, Kinder, die nicht auf elterliche Fürsorge hoffen können. So z.B. die 10jährige Danica, die den Sommer bei ihrer Freundin verbringt, weil ihre Mutter sich mit ihrem zweiten Ehemann neu einrichtet. In ihrer Einsamkeit schreibt das Mädchen Postkarten an ihren Hund.
    Oder in der letzten Story dieses Bandes mit dem Titel „ Auswege“ sucht die alkoholkranke Mutter der jungen Ich- Erzählerin ihr Heil bei einem Zauberer. Und obwohl sie der Platzanweiser auf ihre Verantwortung als Mutter hinweist, wird sie weiter trinken. Nur die Tochter „ fand einen Ausweg, aber es dauerte Jahre.“
    In sehr vielen Geschichten spielen Tiere eine wichtige Rolle, Tiere als Begleiter, Tiere, deren Schönheit unvermittelt ausgelöscht wird, Tiere, die ausgestorben oder ausgestopft sind.
    Viele Geschichten beginnen im realen Alltag, um dann eine surreale Wendung zu machen. In „ Kongress“ wird eine Lampe aus Tierhufen für eine Frau zum Ersatz für ihren Ehepartner, der ihr abhanden kam.
    Manche Geschichten erscheinen von Anfang an nicht realistisch .In „ Rost“ geht es um das ungleiche Ehepaar Lucy und Dwight . Dwight trifft mit 25 Jahren das Baby Lucy und verspricht, sie zu heiraten. Viele Jahre und einige Liebschaften später sind sie verheiratet und Dwight überrascht seine Frau mit dem Kauf eines Thunderbird. Das Auto sieht zwar toll aus, doch erweist es sich bald als völlig verrostet. Nicht mehr zu retten. Da es für die Straße nicht mehr taugt, wird der Wagen ins Wohnzimmer gestellt. Das Auto ein Symbol für ihre Ehe.
    Einen originellen Ausgangspunkt hat die Story mit dem doppeldeutigen Titel „ Die Mutterzelle“. Hier treffen lauter Mütter aufeinander, deren Kinder zu Mördern geworden sind. Sie tauschen sich aus, doch Erlösung kann es für sie keine geben.

    Hätte ich im Vorfeld die Adjektive „ skurril“, „ grotesk“ und „ phantastisch“ gelesen, hätte ich mich nicht von den positiven Kritiken zur Lektüre überreden lassen. Ich bin kein Freund von solcher Literatur. Dementsprechend schwer fiel mir der Zugang zum Buch.
    Die Texte sind ungeheuer dicht und auf irritierende Weise rätselhaft. Dialoge wirken absurd, Szenen verstörend, Protagonisten seltsam absonderlich. Es ist eine unbehagliche und verstörende Welt, in die uns Joy Williams entführt.
    Es gibt zwar immer wieder einzelne Sätze, die herausstechen und mich begeistern konnten. „ Sie …sah aus wie der Inbegriff eines Menschen, der seit kurzem nicht mehr geliebt wird.“
    Auch wenn ich den Grundgedanken meist fassen konnte, wenn auch nicht unbedingt beim ersten Lesen, und einige Bilder sich mir entschlüsselt haben, so blieb mir doch vieles zu kryptisch. Vielleicht sollte man einfach Joy Williams folgen, sich ihren kuriosen Szenen und ihren traumähnlichen Bildern hingeben. Aber das kann ich nicht. Wer sich aber darauf einlässt, sollte den Austausch mit anderen suchen. Denn jeder Leser findet einen anderen Zugang .
    Unbestritten ist Joy Williams eine ungewöhnliche Autorin, doch ich bin nicht ihre Zielgruppe.

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  1. Skurrilitäten in Moll

    Da gibt es den Prediger, der seiner sterbenskranken Frau nicht von der Seite weicht. Oder die beiden Mädchen, die durch einen Zug stromern und dabei einen Haufen merkwürdiger Menschen treffen. Und natürlich auch die Mütter verurteilter Mörder:innen, die sich an einem Ort irgendwo in den USA niedergelassen haben. Sie alle eint eine große Einsamkeit, der sie trotz aller Bemühungen offenbar nicht entfliehen können. Und sie alle sind Protagonist:innen der "Stories" von Joy Williams, die kürzlich in der deutschen Übersetzung von Brigitte Jakobeit und Melanie Walz bei dtv erschienen sind.

    In den Feuilletons der deutschen Tageszeitungen und im Literarischen Quartett des ZDF wurden die "Stories" fast schon überschwänglich besprochen, und auch auf der Rückseite des Buches huldigen zahlreiche zeitgenössische amerikanische Erzähler:innen Joy Williams. Umso überraschender, dass es sich bei dem Erzählband tatsächlich um die erste auf deutsch erscheinende Veröffentlichung der fast 80-jährigen Autorin handelt. Man kann bereits jetzt voraussagen, dass es nicht die einzige bleiben wird. Insgesamt 13 Kurzgeschichten umfasst die Ausgabe, die damit ein breites Schaffensspektrum der Autorin von 1972 bis 2014 abdeckt.

    Ein kluger Schachzug des Verlags ist es, mit "Liebe" die wohl zugänglichste von ihnen ganz an den Anfang zu stellen und zudem als Leseprobe anzubieten. Nicht nur wegen des gewaltigen Titels, sondern auch, weil sie im Vergleich mit den meisten anderen Stories trotz des tieftraurigen Grundthemas einer krebskranken Frau und der unbändigen Liebe ihres Ehemannes fast schon etwas Hoffnungsvolles ausstrahlt. Eine Hoffnung, die vielen anderen Geschichten eher abgeht. Ohnehin wirkt die Reihenfolge in der deutschen Ausgabe - wie bei einem stimmigen Album der Rock- oder Popmusik - alles andere als beliebig, auch wenn sie sich nicht an die Chronologie des amerikanischen Erscheinens hält. So kann es wohl auch kein Zufall sein, dass uns Joy Williams mit der letzten der gesammelten Erzählungen "Auswege" aufzeigt. Auswege, die Protagonistin Lizzie ergreifen möchte, die aber auch die Leserschaft mit einer gewissen Erleichterung zur Kenntnis nehmen dürfte, denn Joy Williams' "Stories" sind alles andere als Wohlfühllektüre. Zieht man erneut die Musik als Vergleich heran, ist die Grundtonart eindeutig mehr Moll als Dur. Oder vielleicht auch eher Tschaikowsky als Händel.

    Der rote Faden aller Erzählungen ist wohl die Einsamkeit der Hauptfiguren. Sei es der kleine Tommy, der in "Letzte Generation" nacheinander seine Mutter, seinen Bruder und seine beste Freundin verliert. Oder der 13-jährige Bomber Boyd in "Die blauen Männer", dessen Vater hingerichtet wurde, weil er einen Hilfssheriff und dessen Hund erschoss. Hinzu kommt eine gehörige Portion an Skurrilität, die sich in einigen Geschichten bis ins Groteske hineinsteigert, so zum Beispiel in den Dialogen zwischen Gwendal und Gloria in "Der kleine Winter" oder in der bereits kurz angerissenen Geschichte "Im Zug", in der die beiden Mädchen einem Haufen Irrer ausgesetzt zu sein scheinen. Zumindest auf den ersten Blick. Denn blickt man hinter die Fassade des Wahnsinns, offenbart sich dem Leser erneut ein zutiefst einsames Kind.

    Dies ist ein Kritikpunkt, den man den insgesamt lesenswerten Stories machen könnte. Sie sind thematisch recht eindimensional. Fast überall lauern irgendwelche Abgründe, fast überall drückt die Einsamkeit der Figuren aufs Gemüt. So sind sie vielleicht eher häppchenweise als am Stück zu ertragen. Hinzu kommt, dass mich nicht alle Geschichten gleichermaßen überzeugen konnten. Während mich beispielsweise "Letzte Generation", "Die blauen Männer" oder auch "Besuchsrecht" sehr berührten, ließen mich "Rost", "Kongress" oder "Der Geliebte" eher kalt. Zentral für Williams sind jedoch immer die zwischenmenschlichen Beziehungen, die auf irgendeine Art in "Stories" durchgehend gestört sind.

    Noch eine kleine Anekdote zum Schluss: Freunde seltsamer Namen und Alliterationen kommen in "Stories" ganz wunderbar auf ihre Kosten. Denn Bomber Boyd, Gloria und Gwendal sind nur der Anfang...

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  1. Das Absurde im Alltäglichen

    Mein Lese-Eindruck:

    Dreizehn Geschichten aus unterschiedlichen Jahren werden hier zusammengefasst. Die älteste wurde schon 1972 veröffentlicht, aber keine einzige dieser Geschichten ist überholt oder antiquiert, weder inhaltlich noch sprachlich.

    Joy Williams stellt ihrem Leser Menschen aus der amerikanischen Mittelschicht vor. Ihre Figuren stehen immer in Beziehung zu anderen Menschen, meist anderen Familienmitgliedern, und diese Beziehungen werden zu Beginn der Geschichte immer klar gezeichnet. Damit beginnen ihre Geschichten relativ harmlos, bis dann ein verstörender Satz fällt, der den Leser verschreckt und ihn verunsichert. Denn dieser Satz verweist auf eine Wirklichkeit, die hinter dem eingangs gezeigten Bild steht und die sich hier plötzlich öffnet. Es ist, als ob man als Leser in eine Fallgrube stürzt, und zwar eine Fallgrube, die der Alltag bereithält.

    Die erste Geschichte des Sammelbandes ist auch die älteste, und diese Geschichte setzt bereits die Akzente für die kommenden Geschichten. In erster Linie thematisch: Immer wieder geht es um Kinder, die von ihren Müttern verlassen werden, auf welche Art auch immer. Es geht um Einsamkeit in Beziehungen, um Entfremdungen, um Ausgrenzungen, um Schuld, um Tod und Verlust. Es geht um Alkohol, um abgetakelte Existenzen, um Niedergang.
    Immer wieder beschreibt sie die Verletzlichkeit der Menschen, und es geht um den Verlust von Illusionen. Und dazu gehört auch die Negation jeder Transzendenz bzw. der Glaube an eine schützende göttliche Kraft. Williams Figuren sind zurückgeworfen und beschränkt auf ihre Diesseitigkeit – eine bemerkenswerte Lebensauffassung für eine Pfarrerstochter wie Williams!

    Immer wieder geht es auch um das zerstörte Verhältnis des Menschen zur Natur bzw. des Menschen zum Tier. Dafür schafft Williams ein besonders eindrückliches Bild: das Bild einer Leselampe, die ein Mann seiner Frau aus den präparierten Hufen eines Hirsches gebastelt hat und die schließlich zum neuen Lebenspartner seiner Frau wird.

    Überhaupt sind es die Bilder, die mir in Erinnerung bleiben: immer kräftige Bilder, teilweise bizarr wie die Boa als Haustier. Ihre Bilder sind durchaus realistisch, aber einige bewegen sich an der Grenze zum Absurden wie z. B. das rostige Auto im Wohnzimmer in der Geschichte „Rost“. Andere wiederum wirken so surreal, als entstammten sie Traumsequenzen.

    Williams betrachtet ihre Figuren wie mit einer Lupe, immer distanziert, und sie stellt die Verletzlichkeit der Menschen in einer Sprache vor, die beim Leser keine Empathie hervorruft, sondern die ihn ebenfalls auf Distanz hält. Ihre Sätze sind knapp, glasklar, ohne jedes überflüssige Wort. Gelegentlich blitzt Humor durch, sodass man als Leser den Eindruck hat, dass Williams zwar bestechend klar, aber auch nitleidig- verwundert auf ihre Mitmenschen schaut und im Alltäglichen bzw. dem vermeintlich „Normalen“ das Bizarre, das Verwunderliche, das Absurde entdeckt.

    Das Cover, eine Fotografie von William Eggleston, passt hervorragend: es zeigt desillusioniert deutlich das Alltägliche, so wie die Stories auch.

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    08. Mai 2023 

    Die Absurdität des Alltags

    Die Geschichten der im deutschsprachigen Raum neu entdeckten Autorin Joy Williams, die aber mit einem Alter von fast 80 Jahren schon seit Jahrzehnten in den USA Geschichten veröffentlicht, drehen sich allesamt um meist höchst absurde Szenen im Alltag von amerikanischen Menschen.

    Die erste Geschichte der hier versammelten insgesamt 13 Erzählungen stellt dabei noch die eingängigste dar. Ein Prediger muss sich während der schweren Erkrankung seiner Frau nicht nur um diese im Krankenhaus, sondern auch noch um seine erst sechsmonatige Enkeltochter und den Hund der eigenen Tochter kümmern. Die im Deutschen mit „Liebe“ überschriebene und im Englischen mit „Taking Care“ betitelte Kurzgeschichte beleuchtet nach klassischem Kurzgeschichtenmuster kurz das Leben eines Mannes, der sich unversehens in einer ungewöhnlich belastenden Situationen wiederfindet und damit zurechtkommen muss. Ganz anders sieht es in der Geschichte „Kongress“ aus, in welcher eine Frau die Pflege ihres Mannes dessen Verehrer in die Hände gibt und selbst durch einen Roadtrip in einem obskuren Museum für präparierte Tierkadavar landet, in welches tagtäglich eine Unmenge an Besucher:innen aus dem ganzen Land pilgert, um den Präparator einmal persönlich sprechen zu können.

    Immer wieder steigen wir unvermittelt ein in das scheinbar alltägliche Leben amerikanischer Bürger:innen, meist in der (unteren) Mittelschicht angesiedelt. Wenn man einmal den Erzählstil von Williams erkennt, wartet man dann schon auf den Einzug der Skurrilität in diese Blitzlichter des Lebens. Das ist sehr speziell und mag Leser:innen, die sich an der ersten Geschichte dieser Sammlung orientieren, zunehmend abschrecken. Wer jedoch Freude an klassischen amerikanischen Kurzgeschichten hat, die aber immer auch mit krudem Humor und Kuriositäten gespickt sind, wird diese Geschichtensammlung wirklich sehr mögen. Man kann sich immer wieder in die Welt, die nur auf den ersten Blick durchschnittlich erscheint, fallen lassen, muss gar nicht viel heruminterpretieren – kann man, muss man nicht – , sondern bekommt ein Feuerwerk an kreativen Ideen für Plotentwicklungen geliefert. Was für die Figuren meist vollkommen "normal" zu sein scheint, ist von außen betrachtet mitunter höchst merkwürdig. Das stellt auch den Clou jeder Geschichte dar. Während des Lesens entdeckt man die Skurrilität. Was eher untypisch für Kurzgeschichten ist: Diese hier enden kaum mit einem Knall. Meist liegt der Clou am Ende einer Kurzgeschichte versteckt, Joy Williams lässt ihre Geschichten meist eher ruhig "auslaufen". Eins haben die Geschichten Williams jedoch definitiv gemein: Es tauchen immer wieder kuriose Momente auf, in denen – mal mehr, mal weniger stark – Tiere eine Rolle spielen. Achtet man darauf, wird man immer fündig.

    Im Großen und Ganzen gefallen mir diese Art von Geschichten, ich lese sie gern, mag es Kleinigkeiten zu entdecken und mich von den Absurditäten überraschen zu lassen. Wie fast immer bei Kurzgeschichtensammlungen, gefällt nicht jede Geschichte gleich gut, nicht zu jeder findet man einen Zugang. Hier hat mir aber der überwiegende Teil sehr gut gefallen, weshalb ich auf solide 4 Sterne komme.

    Joy Williams, eine späte Entdeckung, die aber weitere Aufmerksamkeit verdient.

    4/5 Sterne

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  1. Pessimistische, teils surrealistisch anmutende Kurzgeschichten

    In Kürze: Sammlung typisch amerikanischer Kurzgeschichten: absurd bis surrealistisch, pessimistisch und hoffnungslos

    Joy Williams, eine fast achtzig Jahre alte US-amerikanische Schriftstellerin, die bisher in Deutschland kaum bekannt ist, wird in ihrem Land von Autorenkollegen und Kolleginnen hochgelobt. Ich empfinde das als übertrieben ('Joy Williams ist einfach ein Wunder') und kann dem ganz und gar nicht folgen.

    Die Gestaltung des Buches gefällt mir: schwarze und rote Schrift auf dem Cover, rotes Lesebändchen, ein modernes Foto, das jedoch bei näherem Hinschauen Zeichen des Verfalls und der Verwahrlosung zeigt. Das passt hervorragend zu den dreizehn Kurzgeschichten, diesen typischen amerikanischen Short Stories, deren Themen Krankheit und Tod, Suche nach Liebe und Einsamkeit, Ziellosigkeit im Leben und ähnliche triste Themen sind.

    Wer sich auf diese kurzen, teilweise absurden oder surrealistisch anmutenden Short Stories einlassen will, sollte sich über einiges VORHER im Klaren sein: Es sind Kurzgeschichten und keine Erzählungen und sie unterliegen bestimmten Strukturmerkmalen, die dieser Erzählform zu eigen sind: unmittelbarer Einstieg, offenes Ende, Alltagsthemen und -sprache. Vieles ist symbolisch und man sollte nicht mit realistischen Voreinstellungen herangehen. Außerdem wird immer empfohlen, eine Geschichte mehrmals zu lesen.

    Das ist eigentlich eine reizvolle Angelegenheit für jemanden, der gern rätselt oder mitdenkt, für jemanden, der etwas herausfinden will, der unter die Oberfläche einer Geschichte gucken möchte.

    Aber leider hat mich an dieser Sammlung von Geschichten einiges gestört: sie sind zutiefst trostlos, hoffnungslos und pessimistisch, zudem teilweise absurd und fast surrealistisch. Konnte ich der ersten Geschichte 'Liebe' noch einiges abgewinnen, fand ich die Personen und Handlungen zunehmend verstörend trotz aller Bemühungen, sie und ihr Verhalten nicht mit realistischen Maßstäben zu messen.

    Da finden wir dümmliches Geschwätz, Fragen und Antworten, die nicht zusammenpassen, obwohl das Aneinandervorbeireden im Alltag gang und gäbe ist. Männer kommen schlecht weg und die Autorin legt ihren Personen männerfeindliche Äußerungen in den Mund. Es gibt auch interessante Sätze, die zum Nachdenken anregen könnten, aber sie wirken auf mich etwas zusammenhanglos eingestreut:

    'Das Leben war wie ein Spiegel, der nicht wusste, was er reflektiert.'

    'Wir sollten nichts wissen und nichts wollen und nichts sein, aber gleichzeitig sollten wir alles wollen und alles wissen und alles sein.' (184)
    'Mönche leben in einem kühlen, kristallinen Halbdunkel von Geist und Herz...' 193

    Und die Sprache! Auch wenn ich weiß, dass sie in Kurzgeschichten einfach und alltäglich ist, hat mich gestört, wie monoton manches durch die immer gleiche Satzstellung oder durch den häufigen Verzicht auf Pronomen klingt.

    Fazit

    Ich kann guten Gewissens sagen: ich habe mir viel Mühe mit diesen Geschichten gegeben, habe manche zweimal gelesen, mich noch einmal über die besonderen Merkmale der Kurzgeschichte informiert (positiver Nebeneffekt), mir Gedanken über die Abgrenzung zu Erzählungen gemacht – aber es ist und bleibt so, dass ich die Lobeshymnen nicht nachvollziehen kann. Selbst wenn ich mir die Mühe mache, eine Short Story mehr als einmal zu lesen, wenn ich mir Gedanken über einzelne Sätze und mögliche Symbole mache, finde ich nicht wirklich einen Zugang, möglicherweise auch, weil ich das allzu pessimistische Weltverständnis von Joy Williams nicht nachvollziehen kann. Sie hat zwar nicht unrecht mit gesellschaftskritischen Anmerkungen, die durchaus zu finden sind, aber ich mag ihre Geschichten weder inhaltlich noch stilistisch und es sind mir zu viele verrückte, einsame, gestörte Personen.

    Wenn auch mir das Buch nicht gefallen hat, kann ich mir durchaus vorstellen, dass andere das Morbide, Rätselhafte reizvoll finden oder Spaß daran finden, die analytischen Fähigkeiten bezüglich Kurzgeschichtenverständnis zu trainieren.

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  1. Die unschönen Seiten des Lebens.

    Kurzmeinung: Ich mochte Kurzgeschichten - dann eine Zeitlang gar nicht - jetzt mag ich sie wieder!

    Joy Williams, Shortwriterin, geb. 1944 in den USA, ist hierzulande kaum bekannt. Ihre Shortstories sind jedoch in den Staaten mit Preisen ausgezeichnet worden. Bei der Veröffentlichung mag geholfen haben, dass ihr Ehemann selber Autor und Herausgeber gewesen ist, somit hatte sie einen Fuß in der Tür zum Literaturbetrieb. Was mich betrifft, zweifle ich daran, dass ihre Geschichten es auch ohne Beziehungen in das Licht der Welt beziehungweise in das Licht der Öffentlichkeit geschafft hätten. Aber wer weiß.
    Ihre Geschichten sind exzentrisch und morbide. Sie handeln von Menschen, die in ungewöhnlichen Konstellationen leben oder ungewöhnliche Dinge tun, jedoch beginnen sie stets in einem Kontext, der durchaus der Realität entsprechen könnte.

    Inhalt: (1) Eine Liebe, die sich in Fürsorge erschöpft; (2) eine unheilbar Kranke weiß nicht mit ihrer Krankheit umzugehen und sucht Zuflucht bei einem Hund, den sie stiehlt und der schnell auf der Straße landet, also im Verderben wie sie selbst; (3) ein Schulmädel wird den Sommer über bei „Freunden“ geparkt, die weder Freunde sind noch sprachfähig; (4) eine nach außen hin glamouröse und romantisch beginnende Liebesbeziehung erweist sich als von Anfang an rostzerfressen; (5) ein altes Ehepaar hält eine Boa constrictor als Haustier; (6) eine kleine Gruppe von Müttern, deren Kinder grausame Morde begangen haben, haben nur noch einander; (7) ein Jäger macht alles tot und ein Museum behauptet, nur ein totes Tier ist ein gutes Tier; (8) ein mutterloser Junge kann keine Beziehung zum verbleibenden Vater aufbauen; (9) die Mutter eines Insassen im Todestrakt sorgt sich um dessen Garderobe auf dem heißen Stuhl, was ja immerhin einem öffentlichen Auftritt gleichkommt; (10) auf der Psychiatrie ist es nicht ganz klar, wer die Kranken sind, die Besucher oder die Patienten; (11) eine Mitleidige wird gnadenlos ausgenutzt und zerstört; (12) eine junge Frau definiert sich durch Männer und vernachlässigt dafür ihr Kind; (13) eine alkoholkranke Mutter wünscht sich, ein Zauberer würde ihr Elend wegzaubern.

    Die Dialoge der Protagonisten sind oft bizarr, „Miriam hatte Menschen, die verschwanden, gern, auch wenn sie persönlich keinen kannte“. Joy Williams Geschichten haben einen harten kantigen Zungenschlag. Sie sind alles, bloß nicht positiv oder optimistisch.

    Das große Plus:
    Warum ich die Kurzgeschichten trotzdem gerne gelesen habe? Wegen ihres sarkastischen Untertons und wegen ihres gesellschaftskritischen Anteils. Und weil ich nach wenigen Stories darauf gespannt gewesen bin, was mir die Autorin bei der nächsten Geschichte wieder Unwahrscheinliches und Schockierendes servieren würde. Joy Williams hat ohne Zweifel ein Gespür für ungewöhnliche Konstellationen. Ihre Geschichten, so hart sie manchmal klingen, lösen sich immer in surrealistischem Nebel auf. Der Surrealismus ist für Joy Williams Hoch-Zeit des Schaffens und ihre Lebenszeit der Zeitgeist schlechthin und mag ein Grund für deren Erfolg gewesen sein.

    Fazit: Bizarr bis kalt, schockierend und überraschend. Aber auch nebulös, fluid und unwirklich. Ein interessanter Einblick in den gesellschaftskritischen schreiberischen Surrealismus der Nachkriegszeit. Bildungsbürgertumtauglich.

    Kategorie: Kurzgeschichten (nicht für Jedermann)
    Verlag: dtv, 2023

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