Stern 111: Roman

Buchseite und Rezensionen zu 'Stern 111: Roman' von Lutz Seiler
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4 von 5 (3 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Stern 111: Roman"

Zwei Tage nach dem Fall der Mauer verlässt das Ehepaar Bischoff sein altes Leben – die Wohnung, den Garten, seine Arbeit und das Land. Ihre Reise führt die beiden Fünfzigjährigen weit hinaus: Über Notaufnahmelager und Durchgangswohnheime folgen sie einem lange gehegten Traum, einem »Lebensgeheimnis«, von dem selbst ihr Sohn Carl nichts weiß. Carl wiederum, der den Auftrag verweigert, das elterliche Erbe zu übernehmen, flieht nach Berlin. Er lebt auf der Straße, bis er in den Kreis des »klugen Rudels« aufgenommen wird, einer Gruppe junger Frauen und Männer, die dunkle Geschäfte, einen Guerillakampf um leerstehende Häuser und die Kellerkneipe Assel betreibt. Im U-Boot der Assel schlingert Carl durch das archaische Chaos der Nachwendezeit, immer in der Hoffnung, Effi wiederzusehen, »die einzige Frau, in die er je verliebt gewesen war«.
Ein Panorama der ersten Nachwendejahre in Ost und West: Nach dem mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichneten Bestseller Kruso führt Lutz Seiler die Geschichte in zwei großen Erzählbögen fort – in einem Roadtrip, der seine Bahn um den halben Erdball zieht, und in einem Berlin-Roman, der uns die ersten Tage einer neuen Welt vor Augen führt. Und ganz nebenbei wird die Geschichte einer Familie erzählt, die der Herbst 89 sprengt und die nun versuchen muss, neu zueinander zu finden.

Autor:
Format:Kindle Ausgabe
Seiten:527
EAN:

Rezensionen zu "Stern 111: Roman"

  1. Ein packendes, überzeugendes Leseerlebnis

    „Obwohl sein Leben hinter dem Bombenwäldchen in der Rykestraße 27 vielleicht schäbig und ärmlich aussah (das Matratzenfloß auf den kalten Dielen, ein toter Schwarzweißfernseher als Anlegestelle), hatte er das Wort Armut bisher nie gedacht. Und wenn schon: Ein armer Dichter zu sein, schien nicht verkehrt, wenn man ein Dichter war.“ (Zitat Seite 174)

    Inhalt
    Seine Eltern bitten Carl Bischoff, Student, sechsundzwanzig Jahre alt, nach Hause zu kommen, da sie mit ihm etwas besprechen wollen. Nach Hause, das ist Gera, gerade ist die Mauer gefallen und seine Eltern Walter und Inge, fünfzig und neunundvierzig Jahre alt, teilen ihm mit, dass sie weggehen. Er möge bitte auf die elterliche Wohnung aufpassen. Doch Carl kommt mit der Situation allein nicht zurecht und fährt nach Berlin. „Wie seine Eltern hatte er keine Adresse vor Augen gehabt, er war abgefahren ohne Ziel, nur mit irgendeiner Phantasie im Kopf, bei der man nicht wohnen konnte.“ (Zitat Seite 55). Er schließt sich einer Gruppe von Hausbesetzern an und bezieht selbst eine Wohnung in einem Abbruchhaus. Eine Werkbank, die jemand zurückgelassen hat, wird sein Schreibtisch. Dort verbringt er seine Zeit, schreibt an seinen Gedichten, hofft auf den Durchbruch, träumt davon, sein erstes eigenes Buch in Händen zu halten. Gleichzeitig hilft er mit, das Kellerlokal Assel als Treffpunkt, Kaffeekneipe auszubauen, als Asyl für die unterschiedlichsten Menschen, Außenseiter der Gesellschaft. Die Briefe seiner Mutter berichten ihm von der Reise seiner Eltern auf dem Weg zur Erfüllung eines jahrzehntealten Traumes.

    Thema und Genre
    In diesem Roman geht es um die Nachwendezeit in Deutschland, um viele Facetten von Zusammenhalt, Freundschaft und Liebe, um Hoffnungen, Chancen und Träume, aber auch um die mit den raschen Veränderungen verbundene Unsicherheit und Ängste.

    Charaktere
    Carl hat in diesen Jahren direkt nach dem Wendejahr 1989 sein eigenes Leben noch nicht entdeckt, zutiefst unsicher, zweifelt er an seinem Erfolg als Schriftsteller und die Angst vor Absagen blockiert ihn. Obwohl Carl mit Mitte Zwanzig zu diesem Zeitpunkt längst ein eigenes Leben führt, fühlt er sich als Kind, von seinen Eltern im Stich gelassen. Inge, seine Mutter ist dagegen flexibel, passt sich jeder Situation aktiv an, sie entscheidet operativ (eines ihrer Lieblingsworte), will endlich ihren und Walters Traum verwirklichen. Wir lernen in dieser Geschichte viele unterschiedliche Charaktere kennen und neugierig folgen wir ihnen, gespannt, wohin sie der Weg führen wird. Kurz treffen wir auch Ed und Kruso in Berlin wieder.

    Handlung und Schreibstil
    Es sind zwei Geschichten, die uns der Autor hier erzählt. Die erste, in deren Mittelpunkt Carl, ein angehender, junger Schriftsteller steht, spielt im gerade wieder vereinten Berlin, wo nicht nur die Menschen selbst, sondern auch die Stadt auf der Suche nach einem Weg aus dem Chaos in die Zukunft zu sein scheint. Die zweite Handlung erzählt von den Problemen und der schwierigen Situation jener Menschen, die Ostdeutschland sofort verlassen und im Westen auf einen Neubeginn hoffen.
    Stern 111, der Titel, ist die Marke eines Kofferradios, das damals die erste Anschaffung der jungen Familie Bischoff gewesen ist und die Familie all die Jahre begleitet hat, ein Symbol ihrer Zusammengehörigkeit. Damals waren es die gemeinsam gehörte Musik und Meldungen, nun ersetzt durch die Berichte in den Briefen seiner Mutter. Die Ereignisse in der Gegenwart werden ergänzt durch Erinnerungen. Es sind einzelne Situationen oder Worte, die Carl zurück in seine Kindheit führen, nach Gera und in die Geborgenheit der Familie, die plötzlich im Jahr 1989 zu Ende ist. Als er in Berlin seine Liebe Effi wiedersieht und von einer gemeinsamen Zukunft träumt, ist es daher für Carl nicht einfach für sich selbst zu definieren, wie „zusammen sein“ funktioniert.
    Faszinierend ist auch in diesem Roman die eindrückliche, aber gleichzeitig unglaublich leichte, lebhafte Erzählsprache des Autors.

    Fazit
    Der Autor ist ein großartiger Erzähler, der seinen Figuren auf ihrem Weg viel Freiraum lässt, man hat den Eindruck, er folgt ihnen nicht nur mit Empathie, sondern er ist selbst neugierig, wie und ob sie ihre Konflikte und Probleme lösen können, den eigenen Lebensweg entdecken. Ein ungewöhnlicher, packender Nachwende-Roman, den man mit Begeisterung liest.

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  1. 2
    05. Jun 2020 

    Das Radio

    Sehr kurz nach der Wende machen sich die Eheleute Bischoff auf in den Westen. Das Aufnahmelager schreckt sie nicht. Der Vater kann in ausgefallenen Computersprachen programmieren und hat gute Aussichten auf eine Arbeit. Ihr Sohn Carl soll sich nach Wunsch der Eltern um das Haus in Gera kümmern. Doch Carl möchte den Umbruch nutzen, um nach Berlin zu gehen. Dort hat er zunächst keine Wohnung findet aber Unterschlupf bei einer Gruppe junger Leute, die mit ihren Idealen die Welt verbessern wollen und gleichzeitig ein Lokal betreiben. Eigentlich möchte Carl Gedichte schreiben, doch zunächst steht er mal hinter der Theke.

    Diesem Roman wurde der Preis der leider abgesagten Leipziger Buchmesse 2020 verliehen. Dadurch wird natürlich Interesse geweckt. Und auch die Thematik der Zeit nach der Wende aus Sicht eines jungen Mannes, der sich müht, mit seinen Eltern in Kontakt zu bleiben, obwohl sie quasi ohne Not in den Westen gegangen sind. Das Hörbuch hat der Autor selbst eingelesen und zur Verfügung gestellt wurde es freundlicherweise in der ARD App. Mit Interesse begibt man sich also ans Nachhören der täglich bereitgestellten Kapitel. Leider lässt Carl sich eher durch diese Zeit treiben als ihr aktiv zu begegnen. Von einer Freude des Aufbruchs ist wenig zu spüren. Und die Gründe, die seine Eltern Richtung Westen entführen bleiben lange im Unklaren und wenn sie dann bekannt werden, fragt man sich, was daran nun spektakulär sein soll.

    Vielleicht trennt sich hier im Einzelfall des Hörers die Sicht des aus dem Westen stammenden von der des aus dem Osten Deutschlands kommenden. Was für die Eltern aus Gera ein echter Schritt gewesen sein muss, hätte man im Westen mal eben machen können. Und auch der phlegmatische Carl reißt einen nicht vom Hocker. Er landet zwar in einer gewissen Szene, tut sich aber nicht durch irgendein besonderes Engagement hervor. Eher geht es um seine Gedichte, die nie veröffentlicht werden und um seine Jugendfreundin Effi, wobei er sich unter der gemeinsamen Beziehung anscheinend mehr vorstellt als sie je beinhaltet hat. So bleibt am Schluss die Erkenntnis, dass ein preiswürdiger Roman nicht immer einer ist, der sich beim Lesen oder Hören einschmeichelt.

    2,5 Sterne

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  1. Ein kurzes Jahr, in dem alles möglich zu sein schien

    Carl Bischoff, ausgebildeter Maurer und Student, wird aus Halle am 10.11.1989 zu seinen Eltern nach Gera gebeten. In der elterlichen Wohnung teilen sie ihm mit, dass sie nun in den Westen gehen werden und bitten ihn, in der Wohnung "die Stellung zu halten". Der konsternierte Carl hält dies kaum eine Woche durch und setzt sich dann in den vom Vater liebevoll gehegten und gepflegten Lada Shiguli, um nach Berlin zu fahren, im Gepäck einen Werkzeugkoffer. Dort angekommen, haust er in der Winterkälte im Auto, bekommt Fieber und wird von einer Gruppe von Hausbesetzern aufgenommen und gepflegt. Mit seinem handwerklichen Fähigkeiten und seinen Werkzeugen wird er dort zu Fachmann für die Renovierung besetzter Wohnungen, die in dieser Zeit schlagartig mehr werden. Carl macht mehr aus Dankbarkeit denn aus innerer Überezugung mit, hält ihn doch die Arbeit von seinen Bestrebungen, ein ankerkannter Lyriker zu werden ab. Doch in dieser kurzen und beinahe fantastischen Zeit unmittelbar nach dem Mauerfall, wo im Osten jegliche staatliche Ordnung obsolet geworden ist, scheint alles möglich. Auch für Carl, der nicht nur erste zarte Erfolge als Lyriker verzeichnet, sondern auch überraschend seiner einzigen Liebe Effi begegnet. Er besorgt für sie und ihren Sohn eine Wohnung, sodass sie nach Berlin ziehen kann, und für kurze Zeit sieht es so aus, als ob die privaten und politischen Bedürfnisse Carls ihre Befriedigung finden. Doch mit dem Einzug des Kapitalismus in Ostberlin geraten die zarten Pflänzchen anarchischer Selbstversorgung und politischer Autonomie schnell ins Wanken und auch das private Glück Carls wird durch die Ankunft des Vaters von Effis Kind auf eine harte, letzthin nicht bestandene Probe gestellt. Somit endet diese Zeit für Carl in einem ziemlichen Chaos, während seine Eltern nach einiger Zeit des Suchens beruflich im Westen, am Ende in Kaliforniern, Fuß fassen. Überraschend sind für Carl und auch den Leser die Beweggründe für ihren Entschluss, die DDR zu verlassen, die eine lange Vorgeschichte haben.

    Lutz Seiler schildert in seinem zum Teil autobiographischen Roman "Stern 111" die kurz Phase der Anarchie nach dem Mauerfall. Er bietet dem Leser ein buntes Potpourri schräger Gestalten, die in der sogenannten Szene von Berlin Mitte mit hochtrabenden Plänen einer freien Gesellschaftsordnung starten und, in einem Fall sogar tatsächlich, jäh abstürzen. Was bleibt ist die Erinnerung an ein kurzes Jahr, in dem alles möglich zu sein schien.

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