Spinner (detebe)

Buchseite und Rezensionen zu 'Spinner (detebe)' von Benedict Wells
4.4
4.4 von 5 (5 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Spinner (detebe)"

»Ich habe keine Angst vor der Zukunft, verstehen Sie? Ich hab nur ein kleines bisschen Angst vor der Gegenwart.« Jesper Lier, 20, weiß nur noch eines: Er muss sein Leben ändern, und zwar radikal. Er erlebt eine turbulente Woche und eine wilde Odyssee durch Berlin. Ein tragikomischer Roman über Freundschaft, das Ringen um seine Träume und über die Angst, wirklich die richtigen Entscheidungen zu treffen.

Format:Taschenbuch
Seiten:320
Verlag: Diogenes
EAN:9783257243840

Rezensionen zu "Spinner (detebe)"

  1. Von der Schwierigkeit des Erwachsen-Werdens...

    Benedict Wells hat mit "Vom Ende der Einsamkeit" meinen absoluten Lieblingsroman geschrieben und weil mir dieser so gut gefiel, musste ich auch endlich mal etwas anderes von ihm lesen, weshalb "Spinner" und ich zueinander gefunden haben.

    In der Geschichte geht es um den 20 jährigen Jesper, der eine Woche lang orientierungslos durch Berlin wandert. Das Leben ist kein Ponyhof, jede Entscheidung muss gut durchdacht sein. Ist Schreiben das Richtige für den Zwanzigjährigen? Oder sollte er doch wieder ein Studium aufnehmen?

    Das Buch ist in sieben Teile untergliedert, von Montag bis einschließlich Sonntag und Jesper führt uns als Ich- Erzähler durch die Handlung. Er erlebt reichlich in der Hauptstadt und nicht alles ist leicht zu verdauen.

    Das Besondere an Jesper ist wahrscheinlich, dass man sich als Leser nicht so recht entscheiden kann, ob man ihn mag oder nicht. Oft ist man genervt von seinen Gedankengängen und möchte ihn des Öfteren schütteln, damit er endlich mal aus der Hüfte kommt. Doch im Verlauf der Geschichte spürt man, dass mit ihm etwas nicht stimmt und daran ist der Tod seines Vaters nicht ganz unschuldig. Seine nicht vorhandene Entscheidungsfreude führt ihn gerade deswegen immer tiefer in den Untergang seiner selbst, da sein Leben stagniert und er einfach nicht vorankommt.

    Auch wenn die Darstellung von Depressionen sehr verwirrend, mitunter bedrückend und beängstigend ist, so ist sie genauso wie der Autor sie beschreibt: wirr und kaum zu begreifen. Gerade die Halluzinationen der Hauptfigur erschrecken beim Lesen ein ums andere Mal.

    Jespers Freunde Gustav und Frank haben zwar auch ihre Päckchen des Lebens zu tragen, wirken auf den Leser aber vergleichsweise normal und nicht ganz so verzweifelt wie ihr Freund.

    Das Lesen des Romans ist mir oft nicht leicht gefallen, eben weil die Handlung nicht gerade leichte Kost ist. Das machte es für mich auch schwer zu entscheiden, wie gut mir das Geschriebene gefallen hat oder eben nicht.

    Jaspers Leben ist etwas für Leser, die sich von der Düsternis des Lebens nicht abschrecken lassen und auch in der Trauer einen tieferen Sinn sehen. Leser, die selbst Erfahrungen mit Depressionen gemacht haben, in welcher Form auch immer, könnten von der Handlung zu sehr in eine negative Stimmung gesogen werden.

    Fazit: Traurige Lektüre, für die man als Leser gemacht sein muss. Keine leichte Kost. Ich kann daher nur bedingt eine Leseempfehlung aussprechen. Mir erschien alles um Jasper etwas zu düster und wenig lebensbejahend.

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  1. In Selbstmitleid suhlend und notorisch lügend

    In vorliegendem Roman geht es um den 20-jährigen Jesper Lier, der seit ungefähr zwei Jahren in einer Berliner Kellerwohnung haust. Wir erleben hierin eine Woche seines Lebens mit, die allerdings ganz und gar keine gewöhnliche ist, sondern eine, die sich "gewaschen" hat. Denn es passieren Dinge, also Jesper gerät in Situationen, die entweder sehr beschämend oder unfassbar, richtig traurig, gefährlich, aber irgendwie auch lustig sind. Ja, es passiert in meinen Augen sogar so viel in diesen sieben Tagen, dass es von den aufwühlenden Gefühlen her bestimmt auch für ein ganzes Jahr gereicht hätte.

    Einer, der an seine Träume glaubt

    Den Protagonisten Jesper Lier zu beschreiben, fällt mir ziemlich leicht, da der Autor ihm recht eigene Charakterzüge zugeschrieben hat. Erstens fällt mit zunehmender Seitenzahl auf, dass Jesper gerne und viel lügt. Schnell erkennt man auch, dass er ein von Wehmut geplagter Typ mit Komplexen ist, der eine große Portion Unsicherheit (Frauen gegenüber) mit sich herumschleppt. Jesper ist Einzelgänger und beschreibt sich selbst als langweilig und traurig. Er verabscheut Menschen, die mutlos sind, ihre Träume aufgegeben haben und nur mehr dem Geld hinterherjagen; Traum- und Phantasielosigkeit kann und will er nicht akzeptieren.

    ~ Alle hatten Angst vor Lücken in ihrem Lebenslauf. Aber niemand schien Angst davor zu haben, seine Träume zu verraten. ~
    (S. 99)

    Jespers Alltag und sein aktuelles Leben wirkten auf mich wirklich sehr deprimierend und negativ. Der Protagonist war auch recht gut darin, gewisse Dinge zu ignorieren und einfach wegzuschauen, wenn es um seine Gesundheit und seinen Körper ging, was ein deutliches Zeichen dafür ist, dass er sich selbst überhaupt nicht wichtig nimmt. Erhärtet wird das durch Situationen, in denen er deutlich sein Selbstmitleid und seinen Selbsthass ausspricht - nein, nicht nur ausspricht, sondern sogar ausschreit, so sehr, dass es sogar mir als Leserin weh getan hat.
    Und obwohl er den (für mich absolut nachvollziehbaren und wundervollen) Traum hegt, als Autor sein Geld zu verdienen, und mit »Der Leidensgenosse«, an dem er gut zwei Jahre gearbeitet hat und von dem er vollkommen überzeugt ist, bereits etwas vorzuweisen hat, habe ich für den jungen Mann trotzdem kaum Sympathie aufbringen können. Denn ich empfand Jesper einfach nur als bemitleidenswertes armes Würstchen. Nein, nicht mal liebenswert fand ich ihn, auch nicht zum Ende hin ...

    ~ Wie so viele vor mir hatte ich versucht, in meinem Leben das zu tun, was ich mir am meisten wünschte, und wie so viele vor mir war ich damit gescheitert. ~
    (S. 268)

    Ich habe mich, besonders das erste Drittel, gefragt, was mir der Autor mit Jespers kläglichem Dasein eigentlich vermitteln will. Worum genau soll es in dieser Geschichte denn gehen? Worauf soll das Ganze hinauslaufen? Nun, Jespers Leben wird von Ängsten und Niederschlägen eingenommen und es kristallisiert sich nach und nach heraus, dass es um nachhaltige Lebensveränderungen gehen soll, die getroffen und angegangen werden müssen, denn ansonsten droht ihm der vollständige Bachhinuntergang seines Lebens ...
    Ob und wie Jesper sein Leben endlich in die Hand nimmt, will ich an dieser Stelle nicht vorweg nehmen, aber so viel sei gesagt: das, was in weiterer Folge passiert, hat mich auf alle Fälle wieder etwas versöhnlicher gestimmt, was die Hauptfigur betrifft.

    ~ Doch es gibt Fehler, die notwendig sind. Manchmal muss man ein kleines bisschen sterben, um wieder ein wenig mehr zu leben. ~
    (S. 314)

    Jespers Person umgibt soviel Negativität und immer wieder, in den unterschiedlichsten Situationen, hatte ich ein ganz unheilvolles Gefühl, dass ganz bald etwas Schlimmes passieren wird ... Es hängt fast über der gesamten Geschichte dieses Nachdenkliche, ein wenig Depressive und das hat das Buch für mich nicht gerade zum Highlight gemacht. Nichtsdestotrotz kommt der eine oder andere komische Auflockerungs-Satz ebenfalls vor, sodass das Lesen zu einer ziemlich erträglichen Angelegenheit geworden ist.

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  1. 5
    19. Dez 2016 

    Ein junger Mensch auf der Suche nach sich selbst ...

    Nun bin ich durch mit Wells, und das Buch hat mir sehr gut gefallen, sodass ich beschlossen habe, ihn zu meinen LieblingsautorInnen zu küren. Das war jetzt mein drittes Buch von ihm und alle drei fand ich sehr interessant.

    Die Handlung ist eigentlich schnell erzählt, und gebe zur Erinnerung nochmals den Klappentext rein:

    »Ich habe keine Angst vor der Zukunft, verstehen Sie? Ich hab nur ein kleines bisschen Angst vor der Gegenwart.«Jesper Lier, 20, weiß nur noch eines: Er muss sein Leben ändern, und zwar radikal. Er erlebt eine turbulente Woche und eine wilde Odyssee durch Berlin. Ein tragikomischer Roman über Freundschaft, das Ringen um seine Träume und über die Angst, wirklich die richtigen Entscheidungen zu treffen.

    Im Nachwort konnte entnommen werden, dass der Buchtitel ursprünglich eine andere Fassung hatte und hieß Der Traumfänger, wobei mir der alte Titel besser gefallen hat, da ich Jesper Lier keineswegs für einen Spinner gehalten habe, auch wenn der Titel komikhaft gemeint ist. Ein junger Mensch, der auf der Suche ist, seinen Lebensweg als Schriftsteller zu finden, der auch in der Liebe seinen Halt sucht, und er nirgends richtig anzukommen scheint.

    Aus meiner Sicht hat Jesper Lier alles richtig gemacht, denn er hat die Erfahrungen gebraucht, die er eben gemacht hat. Auch wenn er später in eine schwere und schmerzvolle Krise verfällt und so manches bereut. Krisen sind immer eine Chance, sich aus dem tiefsten Inneren selbst zu finden, und Verhaltensmuster über Bord zu werfen, die nicht zu einem passen. Jesper hat mit zwanzig Jahren die Erfahrung gemacht, die manch andere erst in der Mitte ihres Leben machen. Wenn überhaupt.

    Auch ist es ein Buch über Freundschaft, die in der Krise schwere Zeiten durchstehen muss, und erst am Ende jener Krise zeigt sich, wie stark diese Freundschaft tatsächlich ist.

    Nach dem Abitur verlässt Jesper das Elternhaus in München und zieht in die Hauptstadt Berlin, in eine sehr unattraktive Souterrainwohnung. Jesper befindet sich auf der Suche nach seiner Identität. Er möchte unbedingt Schriftsteller werden, und so manches Mal vermischt er Fiktion und Realität. Und in der Zwischenzeit, bis er sich selbst gefunden hat, belügt er seine Umwelt. Seiner Mutter erzählt er, was er alles in Berlin treiben würde. Studium und feste Partnerschaft … Seiner Tante, die permanent fragt, ob er einen Verleger gefunden habe, so erwidert er ihr mit einer positiven Antwort.

    Jesper hat zudem noch mit dem Verlust seines Vaters zu kämpfen, der vor mehreren Jahren tragisch verstorben ist. Auch wenn Jesper auf cool macht und so tut, als würde ihn der Tod seines Vaters wenig ausmachen, so ist das nur die Flucht, sich mit der Trauer auseinanderzusetzen. Dabei sind sich beide sehr ähnlich. Vater und Sohn hatten nicht die beste Beziehung. Aber was wusste Jesper schon von den Problemen seines Vaters? …

    Jesper verliert nicht nur seinen Vater, sondern auch einen wichtigen Freund, der 72 Jahre alt ist und pensionierter Germanistikprofessor war. Dieser Freund sollte Jespers Manuskript lesen, sein erstes Buch in einem Umfang von über tausend Seiten mit dem Titel Leidensgenossen …

    Auch sein Freund Gustav liest das Manuskript, allerdings nur quer:

    Zitat:
    "Du hast dein erstes scheiß Telefonbuch geschrieben."

    Zudem befasst sich Wells auch in diesem Buch wieder mit der Einsamkeit, in die nicht nur alte Menschen getrieben werden können. Damit zeigt mir der Autor, wie viel menschliche Reife er selbst in seinen jungen Jahren schon besitzt. Wer sie nicht besitzt, kann auch nicht darüber schreiben. Er beschreibt eine Episode über einen alten Menschen, der schon zwei Wochen tot in der Wohnung lag. Niemand hatte ihn vermisst. Es lag an dem Verwesungsgestank, der die Nachbarn dazu trieb, den Hausmeister zu rufen. Was für ein trauriger Fall und wie arm die Mitwelt doch ist. Jesper stimmt dies sehr betroffen und identifiziert sich als ein einsamer junger Mensch mit diesem Schicksal des alten Menschen. Er weiß, dass dies jedem Menschen passieren kann, der alleine lebt. Seine Mutter, die in München lebt, besitzt nicht einmal die Festnetznummer, da Jesper vorgegeben hat, kein Telefon zu besitzen.

    Die Todesthematik bezieht Jesper auch auf sich und malt sich seinen eigenen Tod aus. Wie würde sein Umfeld darauf reagieren, wer würde davon überhaupt erfahren?

    Zitat
    "Die fünfzehn, zwanzig wichtigsten Menschen aus deinem Leben erfahren sofort davon. Aber der Rest? Der Rest weiß erstmal gar nichts von deinem Schicksal. Dein alter Schulfreund, der jetzt in Kanada lebt? Fehlanzeige. Auf eine seltsame, falsche Art bleibst du dort noch lebendig, bis die Nachricht deines Ablebens auch die entlegensten Ecken der Welt erreicht hat. Erst dann bist du richtig tot." (2016, 141)

    Mit der Beziehung scheint es auch nicht voranzugehen. Jesper wirkt sehr ernst für sein Alter, kommt bei den Menschen, verglichen zu seinem Freund Gustav, nicht wirklich gut an, was aber eher an seiner Unsicherheit liegt, weshalb er nicht authentisch wirkt.

    Seiner neuen Bekanntschaft Miriam, in die er sich unglücklich verliebt, stellt er sich als einen Menschen vor mit einem traurigen Verstand und einer lächelnden Seele, als Miriam ihn darauf anspricht, dass er zu ernst für sein Alter wirken würde.

    Jespers Suche nach seinem Weg erweist sich nicht als ganz einfach. Er weiß, dass er nicht so enden möchte wie die meisten, spießigen Erwachsenen:

    Zitat;
    "All diese miesen kleinen Kreaturen mit ihren sicheren Einkommen, ihren sauberen Wohnungen und ihrem vergeudeten, leeren Leben. Mir war heiß." (253)

    Wobei Jesper selbst unter dieser Leere leidet. Aber er ist blutjung, und muss sich noch finden. Sein Traum, Schriftsteller zu werden, lässt ihn einfach nicht los, bis er seinem Chef einer Zeitung, in der er als Jobber angestellt ist, sein Manuskript für eine kritische Beurteilung vorlegt …

    Jesper verfällt immer mehr in eine Krise, als er hört, was er gar nicht hören möchte, doch am Ende schöpft er daraus wichtige lebenswichtige Erkenntnisse:

    Zitat;
    "Doch es gibt Fehler, die notwendig sind. Manchmal muss man ein kleines bisschen sterben, um wieder ein wenig mehr zu leben." (314)

    Mein Fazit?

    Ich habe zu Beginn meiner Besprechung schon gesagt, dass die Geschichte eigentlich schnell erzählt ist, aber das Spannende liegt vielmehr darin, was zwischen den Zeilen passiert. Zudem habe ich auch in diesem Buch die Sprache als recht einfach, aber doch sehr bildhaft erlebt. Sie drückt viel Symbolkraft aus, was mich sehr angesprochen hat.

    Ich habe mir nur einzelne Szenen rausgepickt, die mich besonders angesprochen haben, und habe versucht, sie so zu beschreiben, dass ich nicht zu viel verrate. Das ist nicht immer leicht. Aber ein Buch bis zur letzten Seite zu lesen und es wieder zuzuklappen scheint mir zu wenig zu sein. Ich habe es gerne, mir gute Handlungen und gute Gedanken rauszuschreiben, sie in meinem Blog zu verewigen, damit sie nicht verloren gehen und so bleibt mir die Verbindung zu diesem Buch und zu dem Autor immer erhalten.

    Zudem fand ich nicht nur die Handlung, sondern auch die Charaktere gut getroffen. Dem Autor ist es zudem gut gelungen, menschliche Probleme aufzuzeigen und die Art und Weise, psychisch damit umzugehen.
    __________
    Es ist immer besser, etwas zu bereuen, was man getan hat, als etwas, was man nicht getan hat.
    (Benedict Wells)

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  1. Angst in Berlin

    Der Roman „Spinner“ ist ursprünglich Benedict Wells Erstlingswerk, er schrieb ihn mit 19 Jahren, das jetzt noch einmal in einer neuen Edition vom Diogenes Verlag herausgebracht wurde. Der Autor erzählt darin die Geschichte von dem 20-jährigen Jesper Lier. Jesper hat große Probleme mit sich selbst und seiner Umwelt, er bezeichnet sich selbst gar als Spinner, kurz er hat seinen Weg durch diese Welt noch nicht gefunden und lebt mehr oder weniger von der Unterstützung seiner Familie und vom Schreiben, denn das ist Jespers Traum, er möchte ein Schriftsteller werden. Seine Lebensumstände und ebenso die Großstadt an sich beginnen ihn zu zerfressen, er entwickelt Ängste und lässt sich fallen. Wird er Unterstützung erfahren oder muss sich Jesper allein daran machen, erwachsen zu werden? Kann er den Kampf mit der Welt aufnehmen?

    Schon in diesem Buch ist Benedict Wells charakteristischer Schreibstil klar erkennbar, er schreibt in schöner, neuer Sprache, die ein wenig poetisch angehaucht ist. Der Autor verwendet ein gutes Tempo, er kann seinen Spannungsbogen das gesamte Buch über aufrecht erhalten. Dies alles trägt dazu bei, dass das Lesen flüssig möglich und angenehm ist. Die Charaktere Benedicts Wells sind tief, authentisch und kommen gut rüber. Die Entwicklung, die sein Protagonist durchlebt ist deutlich erkennbar und der Autor schafft es, dass wir mit Jesper Lier mitfiebern.

    Von Herzen gerne vergebe ich diesem brillanten Debütroman seine wohlverdienten fünf von fünf möglichen Sternen und empfehle es selbstverständlich weiter. Ich fühle mich bei der Lektüre des Buches wunderbar unterhalten und kann schöne Lesestunden mit ihm und der hervorragenden Geschichte verbringen. Fans des Autoren werden es sowieso lesen und lieben, aber auch Leser, die gerne ihre Nase in Coming of Age Romane stecken, kommen hier voll auf ihre Kosten.

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  1. Der erste 'Wells'

    Inhalt
    Jesper Lier ist 20 Jahre jung und von von München nach Berlin gezogen, um Schriftsteller zu werden. Seiner Mutter gaukelt er vor, er würde studieren, hätte eine Freundin und es ginge ihm gut. Die Wirklichkeit sieht anders aus: Er lebt in einem Kellerloch am Prenzlauer Berg, schreibt nächtelang betrunken an seinem über 1000 Seiten umfassenden Roman "Der Leidensgenosse" und ist physisch und psychisch in einem desolaten Zustand. Sein einziger Freund ist der homosexuelle Gustav von Wertheim, der unbedingt an die Filmhochschule will und aufgrund seines reichen Elternhauses keine finanziellen Nöte hat.

    "Wir betraten mein Zimmer. Außer ein paar Postern und den wenigen Möbeln war es leer. Wortlos betrachtete Gustav die unzähligen, überall herumliegenden Seiten von >Der Leidensgenosse<. Jeder sollte mich für so ein kleines Außenseiter-Genie bei der Arbeit halten, deshalb hatte ich die Wohnung damit übersät. Auf so was achtete ich penibel. Es sollte so aussehen, als wäre ich einfach nur unordentlich, dabei verwendete ich wahnsinnig viel Zeit darauf, bis alle auf dem Boden verstreuten Blätter, Kaffeetassen und das an einer schönen Stelle aufgeschlagene Buch von Nabokov an ihrem richtigen Platz waren." (S.31f.)

    Der Roman startet an einem Montag und Jesper hat gerade zum wiederholten Male erfolglos versucht, nach München zu fahren. Nächsten Sonntag soll er zuhause sein, um gemeinsam mit seiner Mutter und seinem jüngeren Bruder die Wohnung aufzulösen. Nach dem Tod seines Vaters, der zwei Jahre zurückliegt, kann seine Mutter diese nicht halten. Doch es gelingt ihm nicht, in den Zug zu steigen. Obwohl einer der wichtigsten Menschen für Jesper in München lebt: der alte Born, ein eremitierter Germanistikprofessor, der an ihn glaubt und ihn wie einen eigenen Sohn behandelt. Doch gerade ihm will Jesper beweisen, dass er es als Schriftsteller schaffen kann und bricht aus diesem Grund den Kontakt zu ihm ab.

    Die Handlung spielt in dieser einen Woche von Montag bis zum Sonntag - eine Woche, in der sich Jespers Leben von Grund auf ändert.
    Dazu trägt die Bekanntschaft der Studentin Miriam bei, in der er sich Hals über Kopf verliebt. Außerdem rettet er seinen Jugendfreund Frank aus den Fängen seiner besitzergreifenden Familie:

    An die Produzenten von Frank:
    Euer Sohn dreht ab jetzt seinen eigenen Film.
    IHR SEID BEIDE GEFEUERT.
    Jesper (S.90)

    Auch den Kontakt zu Frank hatte Jesper aufgegeben, im verzweifelten Versuch, seinen eigenen Weg zu gehen und seine Träume zu verwirklichen. Doch jetzt wird ihm bewusst, wie wichtig dieser für ihn ist.

    "Wir waren kurz vor Berlin, als Frank mich auf den neuesten Stand über alte Mitschüler brachte. Unfassbar, wo die alle gelandet waren. Alle ließen sich treiben, hatten der Willkür des Lebens so wenig entgegenzusetzen. Die eine studierten Lehramt, die anderen Betriebswissenschaft und Jura, der Rest Archäologie, Krankenhausmanagement, Linguistik oder noch seltsamere Sachen. Wenn man ihnen das vor ein paar Jahren prophezeit hätte; sie hätten es nicht geglaubt. Es war schon verrückt: Als Teenager hatten diese Leute Träume gehabt, jahrelang hatten sie sich erzählt, was sie nach der Schule machen wollten. und als sie dann neunzehn, zwanzig wurden, taten fast alle von ihnen was komplett anderes und setzten plötzlich nur noch auf Sicherheit. Alle hatte Angst vor Lücken in ihrem Lebenslauf. Aber niemand schon Angst davor zu haben, seine Träume zu verraten." (S.99)

    Im Laufe der Woche fällt es Jesper zunehmend schwerer, seine Träume von der Realität zu unterscheiden. Er leidet unter Angstträumen, Visionen, in denen er von seinen eigenen Romanfiguren verfolgt wird. Immer wieder bricht er zusammen und sein körperlicher Zustand verschlimmert sich. Dazu trägt auch bei, dass der alte Born stirbt, ohne dass Jesper noch einmal mit ihm reden kann und dass der Chefredakteur des Berliner Merkurs, bei dem er ein Praktikum absolviert, seinen Roman liest und ihm zwar Talent bescheinigt, von dem Leidensgenossen jedoch enttäuscht ist.

    "Ihr Buch ist der totale Stillstand. (...) Alles stagniert. Sie haben Angst, etwas zu tun, Sie warten nur." (S.212)

    Mit dieser Aussage bringt er treffend Jespers Leben auf den Punkt, das stillsteht, ohne weiter zu gehen, da die Vergangenheit ihn gefangen hält. Sein Schlüsselerlebnis ist der Tod des Vaters, dem er sich stellen muss, um weiterzugehen.
    Als er schließlich im Krankenhaus landet und ein Arzt ihm dringend rät, sich in psychische Behandlung zu geben und seine Lebensweise umzustellen, stellt er sich seiner Vergangenheit, indem er sich seinen Freunden öffnet und die Heimkehr nach München beschließt.

    Bewertung
    "Spinner" ist Wells erster Roman, den er mit 19 Jahren geschrieben hat. Wie sein Protagonist zog Wells nach von München nach Berlin, um sich dort als Schriftsteller zu versuchen. Inwiefern die Vater-Sohn-Beziehung autobiografische Züge trägt, bleibt offen und ist für den Roman unerheblich, der durch seine Sprachkraft und die Darstellung der Orientierungslosigkeit der Hauptfigur beeindruckt.
    Die zentralen Fragen des jugendlichen Protagonisten, die ihn unabhängig vom Tod seines Vaters umtreiben, sind die, mit denen sich jeder an der Schwelle zum Erwachsenensein auseinander setzen muss, sie gehören zwangsläufig dazu, wenn man die Kindheit hinter sich lässt.

    "Viele junge Menschen fallen nach dem Ende der Schule in ein Loch. Kein Wunder, wenn sich auf einmal das ganze weitere Leben vor einem ausbreitet und man nicht weiß, wohin man zuerst gehen soll. Und was jetzt? Kriege ich einen guten Beruf? Bin ich glücklich, und wenn nicht, wie werde ich es? Sie kenne diese Fragen vielleicht. Dieses Verlorenheitsgefühl ist ganz normal. Wenn man sein ganzes bisheriges Leben alles vorgeschrieben bekam und dann plötzlich auf eigenen Beinen stehen muss, dann ist das für einen jungen Menschen nicht immer leicht." (S.275)

    Wells gelingt es diese Ängste erlebbar zu machen, unter anderem anhand der Figur von Frank, der aus seinem bisherigen Leben ausbricht, ohne jedoch seine Lebensbahn wie Jesper ganz zu verlassen.
    Dessen depressive Phasen schildert Wells in eindringlicher, poetischer Sprache: seine
    Angst vor dem Erwachsen werden, die Orientierungslosigkeit und den Verlust des Vaters.

    Ein Entwicklungsroman, der den schwierigen Weg zeigt, den eigenen Träumen zu folgen, sich der Vergangenheit zu stellen - trotz der Ängste und Unsicherheiten weiter zu gehen und Neues zu wagen.

    Beeindruckend!

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