Sperling

Rezensionen zu "Sperling"

  1. Gelungener Debütroman mit vielen offenen Fragen

    Als der Doktorand Wolfgang seine kleine Altbauwohnung in Berlin-Kreuzberg bezieht, ahnt er noch nicht, welche Auswirkungen diese Entscheidung auf sein zukünftiges Leben haben wird. Denn direkt gegenüber wohnt eine junge Frau, die nachts am Küchenfenster sitzt und zeichnet. Aus der anfänglichen Faszination der Beobachtung entwickelt sich eine Art Obsession, die auch nicht schwächer wird, als Wolfgang die Identität seiner Nachbarin entschlüsselt: Es ist Charlotte, Teilnehmerin seines Literaturseminars an der Universität...

    Katharina Korbach erzählt in ihrem Debütroman "Sperling" die Geschichte zweier einsamer Seelen im Großstadtdschungel Berlin. Studentin Charlotte hat sich gerade erst in Therapie bei einem mysteriösen Arzt namens Doktor Szabó begeben, um dort ihre nicht nur aus der Kindheit stammenden seelischen Narben behandeln zu lassen. Und auch Wolfgang ist ein Einzelgänger, der die familiären Erwartungen nicht erfüllen konnte und stattdessen versucht, seinen eigenen Weg zu gehen. Gemein haben die beiden jedoch nicht nur ihre Einsamkeit, sondern auch ihr Fremdsein in Berlin. Sie beide sind Zugereiste, auf der Suche nach Heimat und irgendwie auch nach ihrer Identität.

    Korbach erzählt in kurzen, pointierten Sätzen, die durch den Einsatz des erzählerischen Präsens eine hohe Unmittelbarkeit ausstrahlen. Den Leser:innen gibt sie dadurch das Gefühl, direkt am Leben der beiden Einzelgänger:innen teilzuhaben. Seine besondere Spannung zieht "Sperling" dabei vor allem aus der ersten Hälfte des Romans, die ich für die insgesamt gelungenere halte. Wenn Wolfgang abends an seinem Fenster sitzt und Charlotte heimlich beobachtet, dabei die Lichter und Geräusche der Stadt wahrnimmt und sich immer stärker in die Beobachtung der jungen Frau verliert, überzeugt der Roman nicht nur durch seine besondere Atmosphäre, sondern sorgt auch für einen gewissen Nervenkitzel. Denn der Doktorand bewegt sich auf dünnem Eis, seine zunehmenden Avancen gleichen denen eines Stalkers, ohne dass ich ihn jedoch als explizit bedrohlich oder unsympathisch empfand. Und auch Charlottes Geschichte - die Rückblenden beim Therapeuten, ihr geheimnisvolles Sperling-Tattoo an ihrem Oberkörper - sorgte gerade zu Beginn für eine Art Sog, der man sich schwer entziehen konnte.

    Leider gelingt es der Autorin nicht ganz, diese Intensität bis zum Ende des Romans durchzuhalten. Zwar stellt sich durch die häufigeren Kontakte zwischen den beiden Figuren keine gewöhnliche Beziehung ein, doch das Besondere - der Voyeurismus und die Atmosphäre - lassen wie die Spannungskurve ein Stückchen nach. Hinzu kommt, dass mir die Figuren trotz ihrer dauerhaften Präsenz und ihrer abwechselnden Perspektiven ein wenig fremd blieben. Es stellte sich keine Nähe, keine Wärme ein. Einen gehörigen Anteil daran haben fehlende innere Monologe, sowie zu viele offene Fragen.

    Diese werden dann auch bis zum Finale nicht befriedigend geklärt. Obwohl ich nichts gegen offene Enden einzuwenden habe, zerfaserten mir die Erzählfäden doch zu stark. So bleiben die Verletzungen der Vergangenheit letztlich eine Behauptung, doch sie werden nicht gezeigt und erklärt, wodurch es mir auch schwerfiel, die Motive der Hauptfiguren vollends zu begreifen. Eine vertane Chance, die den Roman zu einem noch größeren Ereignis gemacht hätten. Denn dies wäre durchaus möglich gewesen, wie zwei wunderbare Szenen zeigen.

    So strahlt beispielsweise das 28. Kapitel fast von ganz allein und nimmt eine Sonderstellung im Roman ein. Zwischen den ohnehin schon recht kurzen Kapiteln fasst Katharina Korbach hier auf gerade einmal etwas mehr als einer Seite prägnant und fast schmerzhaft eindringlich zusammen, was diese Beziehung zwischen Charlotte und Wolfgang zu einer besonderen macht. Da treffen sich Blicke, Körper bleiben reglos, Vorhänge bewegen sich und das Mondlicht beleuchtet den Berliner Hinterhof. Ein wirklich großartiger Moment, der allein "Sperling" schon zu einer lesenswerten Lektüre macht.

    Ähnliches gelingt der Autorin noch einmal zu Beginn des Epilogs, als sie sich kurz in eine Art Erzählerdrohne begibt und ein alternatives Ende vorwegnimmt, um dieses gleich von Beginn an als unmöglich abzutun - ein sehr gelungenes literarisches Spiel mit den Hoffnungen und Erwartungen der Leser:innen.

    In diesen Momenten zeigt "Sperling", welch großartiger Roman er hätte werden können. So bleibt er am Ende "nur" ein guter Roman, den ich vor allem wegen der hier aufgeführten Szenen, aber auch wegen der insgesamt sehr intensiven ersten Hälfte trotzdem gern gelesen habe.

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