Sommer bei Nacht: Roman

Rezensionen zu "Sommer bei Nacht: Roman"

  1. Das Unbegreifliche, literarisch ausgelotet

    Jan Costin Wagner ist bekannt für seine psychologisch tiefgründigen Romane, seinen für Krimis ungewöhnlich lyrischen Schreibstil. Wer meinem Blog schon eine Weile folgt, weiß vielleicht, dass mich beides erfreut aufhorchen lässt. Ich habe ein Faible für Autoren, die die Normen ihres Genres aufbrechen – zum Beispiel liebe ich den Schreibstil von Friedrich Ani oder Stig Sæterbakken, die ungewöhnlichen (Anti)Held*innen von Marie Reiners, Ane Riel oder Lioba Werrelmann.⠀

    Dennoch stürzte mich “Sommer bei Nacht” schon nach wenigen Kapiteln in bestürzte Ratlosigkeit. Meine Notizen:⠀

    “Habe Schwierigkeiten, hineinzufinden. Ich liebe lyrische Schreibstile, aber hier wirkt es auf mich etwas erzwungen, angesichts häufiger Perspektivwechsel zu uniform – als hätten verschiedene Charaktere die gleiche Gedankenwelt. Phrasen und Konzepte wiederholen sich.”⠀

    Was ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht erfasst hatte, war, wie viel Sinn es für die Geschichte macht, dass grundverschiedene Charaktere haltlos durch sehr ähnliche Gedankenwelten irren. Denn auch, wenn sie vom Wesen her sehr unterschiedlich sind und sich unterschiedlichen Herausforderungen stellen müssen, ist ihnen eines gemein: sie alle werden in diesem Sommer auf verschiedene Arten und Weisen in den Abgrund stürzen. Und sie alle verweigern sich den Klischees.⠀

    Meine nächsten Notizen, nach etwa der Hälfte, waren vorsichtig euphorisch:⠀

    “Bin jetzt angekommen im Buch – in der erdrückenden Hitze dieses fatalen Sommers, in dem jeder Protagonist seine Abgründe hütet. Dachte erst, die verschiedenen Gedankenwelten seien zu gleichförmig, aber es summt doch jeder – manchmal unterschwellig, kaum hörbar – seine eigene Melodie im Choral dieses Dramas. So langsam lüften sich die Schleier, wenn auch nur vor dem Leser.”⠀

    Zu diesem Zeitpunkt hatte ich den Schock bereits hinter mir. Das Erschrecken über diese eine Sache, die in vielen Rezensionen und vielen Artikeln des Feuilletons schon verraten wird – aber bis dato spurlos an mir vorbeigegangen war. Sie stellte mich vor ethische Fragen, mit denen ich nicht gerechnet hatte.⠀

    Aber genau hier zeigt sich die Meisterschaft des Autors, der das Gleichgewicht wahrt zwischen dem Schrecken und der Hoffnung, dem Drama und dem Verständnis. Er verurteilt nicht, er schreibt dem Leser nicht vor, was er zu denken oder zu glauben hat. Auch bei kontroversen Themen, die bei den meisten Menschen eine sofortige und inbrünstige Abneigung auslösen, bleibt sein Schreibstil ruhig-poetisch und sein Urteil offen. Er lässt Lücken, die den Gedanken der Leser*innen Raum geben.⠀

    Mehr als diesen Ausschnitt aus meinen Notizen möchte ich hier noch nicht verraten:⠀

    “Mehr und mehr entwickelt die Geschichte eine Sogwirkung, die dem Leser die Luft abschnürt. Jeder Charakter trägt sein Trauma mit sich, und im Fall des Ermittlers Ben Neven ist das eine mutige, sicher auch kontroverse Wahl des Autors, die hier aber mit viel Feingefühl – und dennoch ungeschönt – behandelt wird.”⠀

    Ab da ließ mich das Buch wirklich nicht mehr los, ich dachte oft und lange darüber nach – beim Kochen, beim Staubsaugen, beim Zähneputzen. Das Buch liefert dem Leser die verschiedenen Bestandteile der Thematik und der Lösung, aber keine Gebrauchsanweisung. Was in meinen Augen auch gut so ist.⠀

    Am Ende war mein Krimileserherz jedoch erstmal enttäuscht. Der Fall wird im Grunde nur durch einen doppelten Zufall aufgeklärt. Reine Ermittlungsarbeit ist bereits gescheitert oder zumindest im Sande verlaufen, als dies die Ermittler auf die richtige Spur bringt. Das sorgte bei mir für einen leicht schalen Beigeschmack.⠀

    Und dann passiert etwas, womit der Krimileser nicht rechnet, weil es gegen eine fundamentale Erwartung verstößt. Aber ist das gut oder schlecht? Überraschend und ungewöhnlich ist es auf jeden Fall, und nach längerem Nachdenken bin ich zu diesem Schluss gekommen:⠀

    “Selbst im hellsten Sonnenschein stehen die Charaktere stets mit einem Bein im Abgrund ihrer Seele. Sommer bei Nacht. Ob sie gegen die Vergangenheit ankämpfen, eine Bedrohung von außen oder ihre eigene Natur – sie alle leiden an der gnadenlosen Unbegreiflichkeit der Welt. Daher kann es in dieser Geschichte gar keinen glatten Schnitt geben, kein harmonisches Happy End, und deswegen ist der Schluss meines Erachtens auch gut so, wie er ist.”⠀

    Fazit⠀

    Ein kleiner Junge verschwindet, Ermittler Ben Neven und Christian Sandner haben nur wenige Anhaltspunkte. Es gibt eine verschwommene Aufnahme, die Jannis an der Hand eines Mannes mit einem großen Teddy zeigt, doch über 300 Hinweise führen zu nichts.⠀

    Im Flimmern der heißen Sommersonne eröffnen sich überall menschliche Abgründe – auch in den Psychen der Ermittler. Jan-Costin Wagner kleidet diese Geschichte in seinen unverwechselbaren Stil, der ohne ein Wort zuviel eine dichte Atmosphäre aufbaut. Er geht Wagnisse ein: mit seinen Charakteren, mit dem Ablauf der Ermittlungen, mit dem Ende.⠀

    Ich musste öfter innehalten und darüber nachdenken, wie ich dies oder jenes finde, ob es für mich Sinn macht, ob ich dem Autor noch weiter durch die Geschichte folgen will oder nicht. Letztendlich bleibt jedoch nur das Fazit: ich bin begeistert.⠀

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  1. 4
    12. Mär 2020 

    Brisante und schwere Thematik spannend und poetisch verpackt…

    Bei dem 320-seitiges Roman geht es um harte Kost:
    Kindesentführung und Missbrauch.

    Wiesbaden. Sommer. Gegenwart.
    Marko kauft zwei riesige Teddybären, geht um die Mittagszeit auf einen Flohmarkt, der auf dem Pausenhof einer Grundschule stattfindet, verführt und entführt den 5-jährigen Jannis mit Hilfe eines der beiden Stofftiere.

    Ganz problemlos.
    Ganz unauffällig.
    Ben und Christian ermitteln und Ben sucht dabei immer wieder den Rat von Ludwig Landmann, einem Ermittler im Ruhestand.

    Ein ähnlicher, aber bis heute nicht aufgeklärter Fall erregt ihre Aufmerksamkeit:
    In Innsbruck verschwand vor einem Jahr der 7-jährige Dawit aus Eritrea.
    Auch da war ein Teddybär im Spiel.

    Und dann stoßen sie noch auf Lars, einen 8-jährigen Jungen, dem ein Unbekannter in einer Buchhandlung ein Stofftier schenken wollte, das so flauschig aussah... fast so wie ein Teddybär. Ist es der gleiche Täter?

    Werden Ben und Christian den oder die Täter finden?
    Werden sie die Jungen finden?

    Zwei Katastrophen, die die Familien der Jungen ins Bodenlose stürzen und auch die Ermittler ins Schlingern bringen.

    Einfühlsam und ausdrucksstark zieht der allwissende Erzähler den Leser in die Handlung hinein. Darüber hinaus werden aber auch die äußeren Lebensumständen und die Innenwelten der Ermittler beleuchtet und auch die anderen Figuren erwachen zum Leben und kommen einem nahe. Ben und Christian sind etwas skurrile und melancholische Ermittler mit Geheimnissen, die nur ansatzweise oder häppchenweise gelüftet werden.

    Die Sprache ist metaphorisch und poetisch, also eher untypisch für einen Krimi. Sie macht die Lektüre zu etwas Besonderem. Melancholische Stimmung und beklemmende Atmosphäre werden brillant vermittelt.
    Nicht umsonst wird Jan Costin Wagner „der Poet unter den Krimiautoren“ (dpa) genannt.

    Ich muss gestehen, dass sich das Zusammentreffen von poetischer Sprache und Krimigenre mit zunächst erwarteten sachlich-nüchternen Polizisten und abgebrühten Verbrechern anfangs etwas widersprüchlich und seltsam, da ungewohnt, für mich anfühlte. Aber dieses Gefühl legte sich schon bald und der Genregrenzen sprengende „Mix“ entfaltete seinen Charme.

    Etwas ungewöhnlich aber ins Buch hineinziehend und das Geschehen vorantreibend sind die recht kurzen Kapitel, die mit den Vornamen der Protagonisten überschrieben sind. Ein faszinierender Kunstgriff, denn auf diese Weise steuert der Autor Intensität und Tempo und fühlt sich der Leser ganz schnell mittendrin. Gegen Ende geht es Schlag auf Schlag. Die Aufklärung steht an. Die Kapitel werden kürzer und die fokussierten Personen wechseln immer schneller.

    Ein klassischer Krimi muss ja eigentlich nur spannend, packend und nachvollziehbar sein. Wenn dann auch noch eine schöne bildhafte Sprache mit Metaphern und eine zum Nachdenken anregende und ernsthaft und fundiert aufgearbeitete und aufgegriffene brisante Thematik dazukommt, dann wird aus dem klassischen Krimi ein kunstvoller, ästhetischer, interessanter, wichtiger, aktueller und spannender Roman.

    „Sommer bei Nacht“ ist so ein Roman. Eine intensive und lesenswerte Lektüre.

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  1. 4
    16. Feb 2020 

    Teddybär

    Ein Mann geht, mit einem Kind, mit einem Teddybär. Kurz vor den Sommerferien waren sie zum Schulflohmarkt. Der Junge hat noch sein Spielzeug abgegeben, Mutter und Schwester redeten nur kurz mit einer Lehrerin. Und der Junge war verschwunden. Die Polizisten Christian Sandner und Ben Neven werden mit den Ermittlungen betraut. Niemand hat etwas bemerkt. Das Kind ist wie in Luft aufgelöst. Lediglich eine Überwachungskamera hat einen Mann mit einem Kind aufgenommen. Nur wenig ist auf dem Bild zu erkennen. Weitere Befragen sind zunächst ohne Erfolg. Die Ermittler entschließen sich, an die Öffentlichkeit zu gehen.

    Aus den jeweiligen Blickwinkeln der handelnden Personen beschreibt dieser Roman die Suche nach einem kleinen Jungen. Dabei werden einfühlsame Einblicke in deren Innenleben gegeben. Die Familie des Jungen ist wie gelähmt. Haben Mutter und Schwester nicht genug aufgepasst? Der Vater hat es leicht, könnte man meinen. Er war beruflich unterwegs. Hat er es wirklich so leicht? Er hätte ja da sein können, so kurz vor den Ferien zu einer Schulveranstaltung. Und die Ermittler, natürlich sind sie fieberhaft bei der Sache. Aber manchmal sind sie auch abgelenkt. Niemand kann immer zu hundert Prozent konzentriert sein. Sandner wird an seine Jugend erinnert und Neven ist mit seiner Familie verwachsen. Doch nicht immer ist er ganz bei ihr.

    Mit diesem Roman hat der Autor seinen Schauplatz von Finnland nach Wiesbaden gewechselt. Da ist man als Leser schon überrascht und muss sich erstmal zurechtfinden. Doch Jan Costin Wagner kann einfach schreiben. Mit manchmal nur wenigen Worten schafft er es, den Leser in die Welt der Polizisten, der Eltern und einiger anderer zu versetzen. Auch wenn nicht alles eingehend begründet wird, erfasst man doch die herrschende Stimmung. Das Hauptaugenmerk liegt dabei auf den Ermittlern und den Angehörigen. Denjenigen, die selbst kleinste Hinweise deuten müssen. Diejenigen, die am meisten leiden. Der Roman wirkt dabei weniger wie ein Krimi, sondern eher wie ein Stimmungsbild darüber, welche Auswirkung auf Gedanken und Gefühle sowohl der Angehörigen als auch der Ermittler das Verschwinden eines Kindes hat. Dieser etwas andere Ansatz gibt dem Buch eine besondere Note.

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