So tun, als ob es regnet

Buchseite und Rezensionen zu 'So tun, als ob es regnet' von Iris Wolff
4.45
4.5 von 5 (9 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "So tun, als ob es regnet"

Über vier Generationen des 20. Jahrhunderts und vier Ländergrenzen hinweg erzählt Iris Wolff beglückend poetisch von Jacob, Henriette, Vicco und Hedda. Sie alle erfahren, wie fragil ihre Lebensentwürfe vor dem Hintergrund der Geschichte sind und dass das Zusammenspiel aus Freiheit und Anpassung, Zufall und freiem Willen stets in Bewegung ist. Der Erste Weltkrieg bringt einen österreichischen Soldaten in ein Karpatendorf. Eine junge Frau besucht nachts die „Geheime Gesellschaft der Schlaflosen“. Ein Motorradfahrer ist überzeugt, dass er sterben und die Mondlandung der Amerikaner versäumen wird. Eine Frau beobachtet die Ausfahrt eines Fischerbootes, das nie mehr zurückkehren wird. Iris Wolff bindet in „So tun, als ob es regnet“ vier ganz unterschiedliche Protagonisten zusammen und schafft durch die subtilen Querverbindungen ein einzigartiges Geflecht aus Perspektiven auf den je Anderen. Dies erlaubt den Figuren den Blick zurück, auf getroffene Entscheidungen, sowie nach vorne, auf das, was von einem Leben bleibt. Atmosphärisch, bildstark und zart verflicht die vielfach ausgezeichnete Autorin Iris Wolff ihre Romangeschichten zu einem Prosakunstwerk mit einem beeindruckenden Hallraum.

Autor:
Format:Taschenbuch
Seiten:176
Verlag: Klett-Cotta
EAN:9783608984910

Rezensionen zu "So tun, als ob es regnet"

  1. Voller Poesie

    So tun als ob es regnet" ist der erste Roman aus der Feder von Iris Wolff, den ich gelesen habe. Es handelt sich um einen Roman, der aus vier Erzählungen besteht, die kunstvoll miteinander verwoben werden. So entsteht auf nicht einmal 200 Seiten ein Gesamtbild einer aus Südböhmen stammenden Familie über vier Generationen und ein Jahrhundert hinweg. Jede Erzählung ist einem spezifischen Lebensentwurf gewidmet, jedoch durchziehen jede dieser vier Erzählungen allgemein menschliche Themen wie das Zusammenspiel von Freiheit und Anpassung, der Zufall wie auch der freie Wille. Dieses grundlegende Erzählprinzip hat mir sehr gut gefallen. 

    Im Mittelpunkt der ersten Erzählung steht der Lebensentwurf Jacobs. Er dient als Soldat im Krieg und erlebt einerseits die Sinnlosigkeit des Kriegs, andererseits aber auch den Einbruch von Hoffnungsschimmern. Nicht nur gibt sich auch bei einem Soldaten der "gegnerischen" Seite mitunter etwas Menschliches zu erkennen, das man miteinander teilt, und das diesen gegebenenfalls vor dem sicheren Tod durch eine Kugel bewahren kann. Auch die Liebe kann selbst im Krieg eine Quelle der Hoffnung und Zuversicht sein.

    In der zweiten Erzählung geht es um Henriette und ihre Lebenssituation. Während sie sich mit Fragen beschäftigt, was den "Richtigen" ausmacht und wie dieser ins eigene Leben tritt, begegnet sie plötzlich einer Frau, von der sie im Rahmen eines Tauschgeschäftes einen besonderen Ring erhält. 

    Nach einem weiteren Zeitsprung zur Zeit rund um die Mondlandung beschäftigt sich Vicco mit zukünftigen neuen Möglichkeiten. Von den technischen Möglichkeiten der Mondlandung und den neuen dadurch ermöglichten Einblicken ist er sehr fasziniert und fragt sich, ob die aktuelle Partnerin an seiner Seite auch für ihn zukünftig neue Optionen mit sich bringen wird. 

    Abschließend geht es um Hedda. Thematisch stehen hier Fragen nach dem Zusammenhang von Identität und Heimat stark im Vordergrund. Ein von der Großmutter geerbter Ring ist für sie von besonderer Bedeutung, ebenso die Beobachtung, wie ein Fischerboot verschwindet. 

    Mehr sei an dieser Stelle nicht verraten, da ich denke, dass es wichtig ist, potentiellen LeserInnen die Möglichkeit zu geben, Zusammenhänge - auch zwischen den Erzählungen - selbst zu erschließen. Ich kann versichern, dass die Bedeutung des Titels dabei in jedem Fall deutlich wird. 

    Insgesamt konnte mich das Buch überzeugen, auch wenn ich bei weitem nicht alles verstanden habe. Dies gilt besonders für die angesprochenen Träume, die ein wiederkehrendes Motiv im Roman sind. Es gilt aber auch für einige angesprochene Aspekte, die angsprochen, aber nie aufgeklärt werden. Es mag sein, dass dies nicht die Intention der Autorin war, jedoch hätte ich mir hin und wieder mehr Klarheit über nur angedeutete Zusammenhänge gewünscht. Letztlich schmälert dies meinen sehr positiven Gesamteindruck jedoch nur unwesentlich, denn die Autorin überzeugt durch eine sehr poetische und bildgewaltige Sprache. Insofern war die Lektüre ein großer Genuss und ist in jedem Fall weiterzuempfehlen. 

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  1. 4
    22. Jun 2022 

    Geschichten aus der Walachei...

    Die Karpaten und die Walachei - das waren für mich bislang immer Synonyme für irgendwo im Nirgendwo. In diesem vier Generationen überspannenden Roman in ebenso vielen Erzählungen gewinnen diese Ortsbezeichnungen allerdings deutlich an Kontur. Siebenbürgen - das ist die Region, in der die Geschichten spielen. Heute liegt die Region im Zentrum Rumäniens, doch hat das geografische Gebiet im südöstlichen Karpatenraum eine durchaus wechselvolle Geschichte zu verzeichnen. Durch die vier verschiedenen Perspektiven in den Erzählungen bringt Iris Wolff diese Ereignisse nahe - und ebenso die Bedeutung derselben für die verschiedenen Individuen.

    Jacob, Henriette, Vicco und Hedda - das sind die vier Charaktere, aus deren Perspektive die aufeinanderfolgenden Ereignisse geschildert werden, angefangen bei Jacob im Ersten Weltkrieg, in dem es ihn in eben jene Karpaten verschlug. Ich empfand die vier Geschichten als sehr unterschiedlich, ebenso meinen emotionalen Zugang zu den verschiedenen Charakteren. Und doch ist es Iris Wolff gelungen, aus den vier Erzählungen eine Einheit zu schaffen, durch das Wiederauftauchen von Figuren, Charakterzügen, Themen und Gegenständen entsteht eine enge Verzahnung von Generation zu Generation. Manches löst sich auch erst in den folgenden Kapiteln auf.

    Der Autorin gelingt es, in ihrem atmosphärisch verknappten, bildhaft-klaren Stil Situationen, Charaktere, Emotionen überdeutlich aufs Papier zu bringen, ebenso wie die jeweiligen gesellschaftlich-politischen Bedingungen, die oftmals sehr eindrückliche Auswirkungen auf die Bevölkerung haben. Diese Schilderungen erfolgen nicht anklagend, sondern als faktische Beschreibungen - interessant ist, wie die jeweiligen Charaktere darauf reagieren bzw. welche Möglichkeiten zur Reaktion ihnen eingeräumt wird. Freier Wille, Anpassung, Rebellion, Resignation - die Entscheidungen fallen unterschiedlich aus. Oft bleibt es bei Andeutungen, und doch weiß man um die Bedeutung der Sätze.

    Bei der letzten Erzählung drängen sich Parallelen zwischen Hedda als Hauptcharakter und der Autorin selbst auf. Iris Wolff ist jetzt genau wie Hedda 44 Jahre alt und mit 8 Jahren aus dem Banat mit ihrer Familie nach Deutschland gekommen. Und Hedda schreibt wie Iris Wolff Texte. Ob sich die emotionale Lage der beiden ebenfalls ähnelt, weiß sicher nur die Autorin. Womöglich findet sich hier tatsächlich einiges über Iris Wolff selbst, was sie durch das eher Nebulöse aber nicht wirklich aufzudecken gedenkt, sie belässt es bei Andeutungen, die nicht zu viel verraten.

    Imponierend, wie Iris Wolff ein ganzes Jahrhundert mal eben auf 160 Seiten verdichtet und dabei etliche wichtige Themen mit einfließen lässt. Gerade die Schwere und Ernsthaftigkeit dieser Themen bedingt die melancholische Tonlage, die jede der vier Erzählungen bestimmt. Auch diesmal gelingt es der Autorin, die Geschichte des Landes glaubhaft mit der Geschichte ihrer Charaktere zu verknüpfen.

    Man darf gespannt sein auf wetiere Werke von Iris Wolff!

    © Parden

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  1. Vier Generationen in einem bewegten Jahrhundert

    Siebenbürgen im Jahr 1916: Für Jacob kommt es in der Armee knüppelhart. Er muss nicht nur die Grauen des Ersten Weltkriegs erleben, sondern eine niederschmetternde Nachricht empfangen. Da macht er eine besondere Begegnung…

    „So tun, als ob es regnet“ ist ein Roman von Iris Wolff, der bereits 2017 erstmals erschienen ist.

    Meine Meinung:
    Der Roman gliedert sich in vier kurze „Erzählungen“, die jeweils in einem unterschiedlichen Jahrzehnt spielen und einen anderen Protagonisten beziehungsweise eine andere Protagonistin in den Vordergrund stellen. Dadurch werden vier Generationen einer Familie beleuchtet. Dabei wechselt die Erzählperspektive mehrfach. Die Handlung spielt nicht nur, aber größtenteils in Siebenbürgen. Die Struktur ist sehr durchdacht und zudem kreativ.

    In sprachlicher Hinsicht hat mich der Roman begeistert. Starke Bilder und eine dichte Atmosphäre prägen den Schreibstil. Mit wenigen Worten gelingt es der Autorin, auf beeindruckende Weise sehr viel zu transportieren. Einige Vokabeln aus dem Rumänischen werden im angehängten Glossar erklärt.

    Jacob, Henriette, Vicco und Hedda sind im Fokus der „Erzählungen“. Vier interessante Charaktere, die mit psychologischer Tiefe und lebensnah dargestellt werden.

    Gut gefallen hat mir, dass trotz der Verschiedenartigkeit der „Erzählungen“ wiederkehrende Motive eingebaut sind. Zum Beispiel spielen Träume eine Rolle, wobei mir diese Passagen zu wenig Aussagekraft haben. Auch an anderen Stellen sind die einzelnen Geschichten miteinander verwoben. Gemeinsam ist ihnen außerdem eine Melancholie, die alle vier Kapitel durchzieht. Das hängt sicherlich mit der Schwere und Ernsthaftigkeit der Themen zusammen, denn es werden immer wieder existenzielle Fragen aufgeworfen.

    Auf der inhaltlichen Ebene ist der Roman mit den rund 160 Seiten sehr dicht. Neben den persönlichen Schicksalen fließen politische und gesellschaftliche Hintergründe ein, was die Lektüre umso gehaltvoller macht.

    Besonders gelungen ist in meinen Augen die zweite der „Erzählungen“. Das erste Kapitel ist so ereignisreich, dass es für mich etwas zulasten der Glaubwürdigkeit ging. Manche Aspekte bleiben insgesamt ein wenig mysteriös, was mich meist nicht gestört hat. Die vierte „Erzählung“ hat sich mir jedoch leider gar nicht erschlossen.

    Das hübsche Cover hat zwar keinen thematischen Bezug, spricht mich aber trotzdem sehr an. Der Titel erklärt sich während der Lektüre und ist ein wunderbares Beispiel für die Sprachgewandtheit der Autorin.

    Mein Fazit:
    Obwohl der Roman in inhaltlicher Hinsicht für mich nicht frei von kleineren Schwächen ist, habe ich „So tun, als ob es regnet“ von Iris Wolff sehr gerne gelesen. Eine empfehlenswerte und vor allem sprachlich herausragende Lektüre, die Lust darauf macht, weitere Bücher der Autorin zu entdecken.

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  1. Viele zarte Verknüpfungen ergeben ein großes Ganzes

    Viele zarte Verknüpfungen ergeben ein großes Ganzes

    Iris Wolff lässt den Leser an 4 kleinen Erzählungen teilhaben, die aufeinander aufbauen. Jede weitere handelt von der nächsten Generation des Ausgangsprotagonisten. Manchmal muss man aufmerksam sein, um die kleinen Andeutungen wahrzunehmen, dann wiederum ist es sehr offensichtlich. Doch alle Geschichten zeugen von dem großen Gespür der Autorin zwischenmenschliches wieder zu spiegeln. Sie siedelte das meiste in Siebenbürgen an, ein Schauplatz, bei dem natürlich historisches und politisches fast unumgänglich ist. Vieles ist eher melodramatisch, aber es finden sich auch mutmachende Situationen. Ein harmonischer Wechsel findet statt, dass Büchlein erdrückt nicht, ist aber auch kein Appell an Glück im Überfluss. Es schildert vielmehr wie Menschen mit ihrem Leben umgehen.

    Gelitten habe ich eigentlich bei jeder der Erzählungen, zwar nicht immer gleich intensiv, kalt gelassen hat mich aber keine. Sei es bei Jacob, dem Soldaten, den der Krieg maßlos überfordert und der dann ein kurzes, aber schönes Erlebnis hat, mit Alma. Oder auch bei Henriette, die wir als besonderes Kind erleben, und deren Handlungen noch mehrmals, auch in späteren Jahren, eine wichtige Rolle spielen wird.
    Vicco, bei dem man eine enorme Entwicklung miterleben kann, zeigte mir am deutlichsten wie wichtig die Wurzeln eines Menschen sind. Das, und die Liebe zu seinen Töchtern, vor allem zu Hedda, die uns in der letzten Abhandlung mit ihrem Auftritt beehrt.
    Viele zarte Verknüpfungen ergeben ein großes Ganzes, der Titel meiner Rezension zu diesem Roman, trifft es in meinen Augen ganz gut. Denn wie auch im wahren Leben sind es die kleinen Dinge, die wichtig sein können. Hier, einen Blick über mehrere Epochen werfend, wird dies sehr deutlich.

    Ich kenne ebenfalls von Iris Wolff den Roman " Die Unschärfe der Welt". Dort werden auch kleine Erzählungen miteinander verwoben, so dass sich die beiden Werke vom Aufbau her stark ähneln. Doch die Autorin erfindet immer wieder neue Charaktere, mit individuellen Sorgen aber auch Stärken. Sie schöpft aus einem enormen Repertoire, wirklich bewundernswert und genauso lesenswert

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  1. Poetisches Generationenporträt voller starker Bilder

    Sie heißen Jacob, Henriette, Vicco und Hedda. Vier Menschen, die mehr oder weniger mit der Geschichte Siebenbürgens verknüpft sind, dieser vor allem aus der Schauerliteratur bekannt gewordenen Region im heutigen Rumänien. Sie sind die Hauptfiguren in Iris Wolffs "So tun, als ob es regnet", einem Roman in vier Erzählungen aus dem Jahre 2017, den Klett-Cotta nun als Taschenbuch neu aufgelegt hat.

    Auf gerade einmal 160 Seiten gelingt es Wolff dabei eindrücklich, ein ganzes Jahrhundert so zu entfalten, dass der Leser nicht nur vier unterschiedliche Generationen kennenlernt, sondern ganz nebenbei auch noch unheimlich viel über die Geschichte Siebenbürgens erfährt. Dass Iris Wolff selbst gebürtig aus dieser Region stammt, merkt man dem Werk dabei durchaus an, denn die Empathie und Emotionalität, die die Autorin dabei entwickelt, lassen sich auf fast jeder dieser Seiten entdecken.

    Die Sprache ist dabei beglückend poetisch, ein regelrechtes Fest - und das, ohne verkopft zu wirken. Insbesondere die erste Erzählung "Budapest?", die den Soldaten Jacob im Jahre 1916 ins umkämpfte Kriegsgebiet Siebenbürgen begleitet, ist in dieser Hinsicht der Höhepunkt des Buches. Wolff spielt mit der Sprache und den Leser:innen und schafft es sogar, die Schrecken des Ersten Weltkrieges sprachlich so poetisch und elegant darzustellen, dass es einem fast den Atem raubt. Sätze wie "Das Zischen der Raketen vermischte sich mit dem Heulen der Wölfe" stehen sinnbildlich für die Melange aus Leben und Tod oder Grauen und Schönheit. Gerade diese erste Erzählung vereint sowohl bei den Figuren, als auch den Ereignissen so viele großartige Szenen, dass man mit dem Staunen kaum hinterherkommt.

    Die zweite Erzählung "Elemérs Garten" begleitet Jacobs Tochter Henriette im Jahre 1933 und strahlt bis zum bedrückenden Finale eine etwas größere Leichtigkeit aus. Liebevoll spinnt Wolff hier viele Andeutungen aus dem ersten Teil zu einer Protagonistin zusammen, die das Buch wohl wie keine andere der Figuren bis zum Ende prägen wird. Zudem nimmt sie Bezug auf das rumänische Sprichwort, dem das Buch seinen Titel verdankt. Wenn jemand "so tut, als ob es regnet", stellt sich bei dieser Person eine gewollte oder ungewollte Abwesenheit ein, in der dieser Mensch kaum ansprechbar scheint.

    Die 1969 spielende "Eine Zitrone im All" begeistert vor allem durch die Ambivalenz des Protagonisten Vicco, seinerseits Henriettes Sohn. Vicco ist vielleicht das beste Beispiel dafür, wie gut Iris Wolff bis in die Nebenfiguren hinein die Figurenkonzeption gelingt. Denn Vicco ist ein Freiheitsliebender mit Angst vor der Freiheit. Ein angepasster Rebell. Ein melancholischer Weiberheld. Ein Muttersöhnchen, das sich vor seiner Mutter fürchtet und sich für sie schämt. Ein Philosoph, der nur Perry Rhodan liest. Ein behüteter Verlassener.

    Die letzte, in der Gegenwart angesiedelte Erzählung "Wölfe und Lämmer" ist die einzige, die nicht in Siebenbürgen spielt, sondern auf der kanarischen Insel La Gomera. Viccos Tochter Hedda ist dorthin ausgewandert, und auch ihre Eltern haben Siebenbürgen längst verlassen und leben mittlerweile in Deutschland. Klug und berührend gelingt es Iris Wolff in ihr, die zentralen Motive des gesamten Buches - Träume, Heimat und Identität - noch einmal hervorzuheben, um sie im nächsten Moment von den Leser:innen fortzureißen in diesem Strom der Melancholie, der dem ganzen Werk als wiederkehrendes Merkmal folgt. Vicco ist schwer an Krebs erkrankt und träumt nicht einmal mehr siebenbürgisch. Und auch die kinderlose Hedda scheint keine große Verbindung mehr zur Heimat ihrer Familie zu haben...

    "So tun, als ob es regnet" ist ein kleines Meisterwerk, in dem es der Autorin wegen ihrer wunderbaren Sprache und der hervorragend ausgearbeiteten Figuren gelingt, dass man sich diesen trotz ihrer verhältnismäßig kurzen Auftritte stets nahe fühlt. Das Buch vereint große Themen wie Identität, Freiheit, Tod, Leben, Familie, Heimat, Politik und Krieg und verdichtet diese so stark, dass sie nie überfrachtet wirken. Zudem lässt der Roman den Leser:innen genügend Freiräume, um mitzudenken und zu fabulieren. Es ist eine beglückende Lektüre.

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  1. Ein ganzes Jahrhundert auf 160 Seiten

    Iris Wolff wurde 1977 in Herrmannstadt geboren. Sie wuchs im Banat und in Siebenbürgen auf. Im Alter von 8 Jahren emigrierte sie nach Deutschland. Diese Wurzeln erklären, warum ihr Schreiben sich um ihre alte Heimat dreht. Die vier Erzählungen dieses Romans drehen sich um Herkunft und Heimat, um Familie und was sie ausmacht, um Erbschaften und Verstrickungen. Darüber hinaus wird ein ganzes Jahrhundert mit seinen Verwerfungen und politischen Entwicklungen abgebildet. Dabei belässt es die Autorin zumeist bei Andeutungen oder kurzen Einwürfen. Sie lässt manches im Ungefähren. Die Schrecken des Ersten Weltkrieges bekommen anhand des ersten Protagonisten Jacob Kontur, die sadistischen Methoden des Ceausescu-Regimes werden in der dritten Erzählung durch eine Nebenfigur gespiegelt. Iris Wolff findet leise Töne und eine im hohen Grad poetische Sprache für ihren Roman.

    „So tun, als ob es regnet“ ist eine rumänische Redewendung für Menschen, die neben sich stehen und zum Träumen neigen. Diese Eigenschaft haben die Protagonisten aller vier Erzählungen. Zunächst träumt Soldat Jacob im Militärzug auf dem Weg an die Front von der Heimat. Er ist ein sanfter Schöngeist, ihm werden Fähigkeiten abverlangt, die er eigentlich gar nicht hat. Vor dem Tod hat er keine Angst: „Das Versinken des Kahns ist nicht schlimm, dachte Jacob, nur die Augenblicke vorher, in denen man hofft, das Wasser ließe sich noch mit den Händen abschöpfen.“ (S. 25) Erzählt wird vom Krieg, von Jacobs schmerzhaftestem Verlust und von einer liebevollen Oase, wo seine Seele wieder heilen kann.

    Die nächste Erzählung macht einen Zeitsprung und wendet sich Jacobs Tochter Henriette zu, die ein liebevolles Verhältnis zu ihrem Großvater hat. Sie führt Listen, hat einen lebendigen Forschergeist, der sie aber im Dorf zur Außenseiterin macht. Wir lernen ihre Mutter Alma sowie die drei Schwestern kennen, ganz nebenbei wird über politisch-historische Ereignisse berichtet. Hitlers Machtergreifung spült eine deutsche Frau in den Ort, die Lebensmittel gegen einen Ring eintauscht, der zu Henriettes Schatz und Verheißung wird… Die weiteren Erzählungen stellen wiederum Henriettes Sohn Vicco und anschließend dessen Tochter Hedda in den Mittelpunkt.

    Jede Erzählung steht für sich, hat aber Anbindungen an die vorhergehenden bzw. nachfolgenden. Manche offene Frage wird geklärt, aber längst nicht jede, so dass dem Leser die Möglichkeit eingeräumt wird, eigene Überlegungen und Spekulationen anzustellen. Wolff nähert sich ihren Figuren auf höchst einfühlsame Weise. Schnell tritt man zu ihnen in Beziehung. Mit poetischen Worten werden Landschaften und Dörfer beschrieben, die Liebe zur Heimat wird offenkundig. Doch das abgebildete Jahrhundert hat auch viel Elend und Ungerechtigkeit hervorgebracht, die an mehreren Stellen in die Familienchronik hineinbrechen. Auch da verzichtet Wolff auf Details, sondern formuliert gekonnt wenige Sätze, die beim Leser Erinnerungen wecken und Kopfkino in Gang setzen.

    Der Roman beinhaltet keine Heldengeschichten. Er erzählt von ganz normalen Menschen, die eigentlich nur in Frieden leben wollen, berichtet von ihren Wünschen und Sehnsüchten. Jeder Protagonist verlässt schlussendlich den Ort seiner Geburt, nicht unbedingt freiwillig. Wolff komprimiert, erzählt die Schicksale nicht aus. Die wesentlichen Bausteine finden sich dennoch.

    Am faszinierendsten ist die Sprache der Autorin, die sehr poetisch und bildhaft ist. Ihr gelingt es, mit wenigen Worten eine intensive Atmosphäre zu schaffen, die den Leser berührt und mitnimmt. Sämtliche Figuren wirken authentisch und sind vielschichtig angelegt. Dazu sticht die oben genannte und titelgebende familiäre Besonderheit immer wieder durch. Dazu passt es, dass manches im Ungefähren, im Nebel, bleibt. Insbesondere bei der letzten Erzählung bleiben (zumindest beim erstmaligen Lesen) ein paar Fragezeichen ungelöst, die das Gedankenkarussell anregen.

    Ich empfehle den Roman allen Lesern, die gerne in poetisch geschriebene Texte eintauchen, sich gerne überraschen lassen und es auch mögen, selbst über das Gelesene zu sinnieren. Der kleine Roman lädt zu einer mehrfachen Lektüre ein, man wird immer wieder Neues entdecken. Iris Wolff ist eine Sprachvirtuosin und ich hoffe, dass sie uns viele Werke bescheren wird.

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  1. Poetischer Geschichtsunterricht

    Wie sich doch eine markante menschliche Eigenheit durch mehrere Generationen ziehen kann! Im vorliegenden Buch ist es die Fähigkeit, zwar körperlich anwesend zu sein, sich aber ganz den Gedanken hinzugeben. Alma in Siebenbürgen nannte das ‚so tun, als ob es regnet‘.

    Vier Generationen lernen wir kennen und ein Jahrhundert, das zwanzigste!

    Das erste Kapitel, das im 1. Weltkrieg vom Soldaten Jocob erzählt, der im Burgenland geboren wurde, würde ich gerne mit der Überschrift versehen: ‚Egal ob Freund oder Feind - hinter jedem Soldaten steht ein eigenes Schicksal.‘ Es berührte mich tief, wie menschlich Jacob gezeigt wird: wie er den feindlichen rumänischen Soldaten verschont, feststellt ‚Sie sollten Feinde sein, und lasen doch die dieselben Bücher.‘. Auch wie er mit Luise, der jüngsten Tochter von Alma, und vor allem wie feinfühlig er mit Alma selbst umgeht.

    Im zweiten Kapitel (spielt im Jahr 1933) erfahren wir mehr von Almas Familie: es ist inzwischen eine 4. Tochter – Henriette - dazugekommen, Lilly hat geheiratet, Alma ist Großmutter von Zwillingen geworden. Wunderschöne und so wahre Aussagen begeisterten mich: ‚Den Richtigen trifft man, sagte Alma, weil das Leben einen zusammenbringt, weil sich irgendwo ein Zufall ergibt, eine unvorstellbare Konstellation‘ (S. 62) oder ‚Wut war ein heißes Kohlestück in der Hand.‘ (S. 68).

    Das dritte Kapitel empfand ich als politischstes: 1969, während des Ceausescu Regimes, lesen wir von der Korruption eines Richters („Brauchst Du Orangen“) und Vicco, der Sohn von Henriette, entkommt dadurch einer Gefängnisstrafe, aber auch von den Spielregeln: ‚du weißt von nichts, es geht dich nichts an, die Partei hat Recht. Drei einfache Regeln, mit denen man auch im Kommunismus ein gutes Leben führen konnte‘. Und dann noch die Methoden der Securitate z.B. im Bezug zu Frido (zu sagen, dass seine Frau Marcella einen Unfall gehabt hätte......) Sowas von menschenverachtend! Mir rollten sich da dauernd die Fußnägel hoch!

    Das vierte Kapitel handelt von Hedda - wie ihre Großmutter eine Getriebene. Wir erfahren, dass Vicco solide geworden ist, jetzt aber Krebs hat und was aus dem Rest der Familie wurde – alle haben sie Rumänien inzwischen den Rücken gekehrt.

    Bezeichnend fand ich hier den Satz auf S. 152: „Es sind nicht unbedingt die Hauptfiguren, die wichtig sind“, sagte sie (Henriette). „All jene, die kurz, manchmal nur am Rande erwähnt wurden, sie wollen wir nicht vergessen.“ In diesem Moment meinte ‚Henri-Oma‘ wohl die Märchen, aber es passt für das ganze Buch!
    Mir gefiel diese poetische und sehr bildhafte Sprache wahnsinnig gut! Die Autorin spielt auch mit dem Leser / der Leserin: sie legt Spuren, deutet an, spricht durch Träume. Man ist also gefordert, gut aufzupassen und die nötigen Schlussfolgerungen zu ziehen!

    Manches hätte mich noch mehr interessiert (z.B. der Umgang mit dem Kuckuckskind in der Familie), aber das hätte wahrscheinlich den Rahmen dieses schmalen Buches gesprengt. Auch hat mich das vierte Kapitel nicht so mitgerissen wie die vorhergehenden. (Das lag aber bestimmt an Hedda, mit der ich nichts anfangen konnte!)

    Vier Sterne vergebe ich für dieses lesenswerte Buch, das ich auch gerne weiterempfehlen werde!

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  1. "Es war einmal und ist doch nie geschehen"

    "So tun, als ob es regnet" bedeutet im Rumänischen, dass man zwar körperlich anwesend ist, sich aber ganz den Gedanken hingibt, sich "ganz aus der Zeit und diesem Raum" (77) stiehlt.
    Diese Eigenschaft zeichnet alle vier Protagonist:innen der vier Erzählungen, die miteinander verbunden sind, aus.

    Die erste Erzählung "Budapest?" spielt im 1.Weltkrieg und den deutschen Soldaten Jacob verschlägt es nach Siebenbürgen, wo viele Deutschsprachige gelebt haben und das im Herzen Rumäniens liegt. Inmitten der Sinnlosigkeit des Krieges lernt Jacob Alma kennen, eine verheiratete Frau mit drei Töchtern, und verliebt sich in sie, während ihn aus der Heimat schlimme Nachrichten erreichen.

    Ihre kurze, heimliche Begegnung begründet eine Familiengeschichte, die sich über die nächsten drei Erzählungen erstreckt. Henriette - Vicco - Hedda verbindet die Suche nach dem Glück angesichts der politischen Umstände in ihrem Land, ihrer persönlichen Lebens- und Familiengeschichte.

    Henriettes Geschichte spielt 1933, bevor Siebenbürgen von den Deutschen besetzt wurde. Die geheimnisvolle Begegnung mit einer Fremden wirft viele Fragen auf, die in unserer Leserunde für Spekulationen gesorgt hat. Interessant sind in diesem Zusammenhang die Zitate, die jeder Erzählung vorangestellt sind und die sozusagen den Kern jeder Geschichte enthalten und einen Hinweis auf die Bedeutung der Fremden geben.

    Die dritte Erzählung spielt im jungen Ceausescu Regime. Während die Amerikaner auf dem Mond landen, wird die Freiheit im kommunistischen System mit Füßen getreten und Gegner willkürlich verhaftet. In wenigen Sätzen fächert Iris Wolff die Konsequenzen auf, wenn man aus der Reihe tanzt.

    "Es brauchte keine Beweise, die meisten Gerichtsverhandlungen waren Schauprozesse, die Strafen standen schon vorher fest." (109)

    "Sie kannten die Spielregeln: Du weißt von nichts, es geht geht dich nichts an, die Partei hat recht. Drei einfache Regeln, mit denen man auch im Kommunismus ein gutes Leben führen konnte." (110)

    Heddas Geschichte spielt Anfang des neuen Jahrtausends auf La Gomera, wo sie Buchempfehlungen verfasst, selbst schreibt, vor allem träumt und so tut, "als ob es regnet". Auch sie ist auf der Suche nach dem richtigen Platz im Leben, während ihr Vater Vicco mit der alten Heimat abgeschlossen hat.

    Es sind die existentiellen Fragen nach dem Glück, nach den vermeintlich wichtigen Entscheidungen im Leben, die im Vordergrund der Erzählungen stehen - genauso wie die Frage nach der Heimat.

    "Vielleicht war es zuletzt lächerlich gleichgültig. Jedes Ziel, jeder Wunsch diente dazu, irgendwo anzukommen, und wenn man nicht aufpasste, versäumte man den Moment, in dem man mit allen Sinnen spürte, wo man war." (162)

    "Es war einmal und ist doch nie geschehen" (162) - in wunderbar poetischer und bilderreicher Sprache, die doch niemals überladen wirkt, erzählt uns Iris Wolff auf wenigen Seiten eine vier Generationen umfassende Familiengeschichte.

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  1. 4
    03. Jun 2022 

    Der rote Faden

    Während des ersten Weltkriegs muss Jacob den Krieg bestehen. Eigentlich dachten er und seine Kameraden, es ginge nach Budapest, doch sie landen in der Einöde. Dennoch ist das Leben durch die Kämpfe immer bedroht. Jacob hinterfragt den Sinn, findet jedoch keine Antwort. Eine Erleichterung ist daher die zeitweilige Unterbringung auf einem Hof. Einige Jahre später erlebt Henriette, die sich durch ein außergewöhnliches Wesen und eine besondere Schönheit auszeichnet, eine ruhige Zeit zwischen den Kriegen. Im Jahr 1968 entkommt Vicco nur knapp dem Tod. In Rumänien hat er sich seine eigenen kleinen Freiheiten genommen. Über vierzig Jahre später, überlegt Hedda, ob sie heimkehrt.

    Vier Geschichten, vier Menschen, die auf ihre Art einsam sind. Vier Lebensabschnitte, die sich auf besondere Art ergänzen. Der Soldat Jacob möchte eigentlich keine Soldat sein. Er zeichnet sich durch Menschlichkeit aus. Henriette hat ein unabhängiges und ruheloses Wesen. Sie wirkt aufgeschlossen und manchmal träumt sie. Vicco braust mit dem Trabi schon mal sechshundert Kilometer ans Meer, doch er versucht, sich mit den Einschränkungen einen kommunistischen Landes abzufinden. Hedda hat es auf eine Insel gezogen, sie ist der Stadt entflohen und doch zieht es sie zurück.

    In vier Erzählungen lernen die Leser und Leserinnen vier besondere Menschen kennen, über vier Generationen sind sie doch lose verbunden. Auf welche Art gilt es zu entdecken. Mit zarten Worten erzählt die Autorin von ihren Protagonisten, die alle auf ihre jeweilige Art besonders sind. Vor dem Hintergrund der zeitgeschichtlichen Ereignisse machen die Vier emotional aufwühlende Zeiten durch. Sie werden geprägt von der Zeit, in der sie leben und auch von ihren Familien. Über Generationen spüren sie die Auswirkungen vergangener Jahre. Obwohl nicht sehr umfangreich, sind die Erzählungen doch sehr präzise und inhaltsreich. Vielleicht kann nicht jeder rätselhafte Satz entschlüsselt werden, doch mit mit ihren prägnanten Beschreibungen schafft die Autorin stimmungsvolle Beschreibungen, die ihre handelnden Personen sehr lebendig werden lassen.

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