Simon: Roman

Buchseite und Rezensionen zu 'Simon: Roman' von Marianne Fredriksson
3.4
3.4 von 5 (12 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Simon: Roman"

Simon wächst als Adoptivkind von Karin und Erik, der Schiffsbauer und Arbeitersohn ist, in einem Haus an der Küste vor Göteborg auf, dort wo der Fluss ins Meer mündet und ein Eichenwald die Landschaft verzaubert. Aber es ist eine unsichere und angsterfüllte Zeit, denn der Zweite Weltkrieg steht kurz bevor. Karin, eine warmherzige und kluge Frau, deren Tür für alle immer offen steht, tröstet und hilft so gut sie kann und nährt, wie auch ihr Mann, den Glauben an das Gute.Simon stammt aus einer heimlichen Verbindung von Eriks Cousine mit einem verschwundenen jüdischen Musiker aus Deutschland. Um den Jungen zu schützen, verschweigen Karin und Erik ihm seine wahre Geschichte. Doch Simon ist sehr sensibel und meint, er habe die Sorgen, die er in den Augen seiner Mutter lesen kann, verschuldet. Und so begibt er sich auf eine Suche, die ihn bis zu den Ursprüngen bringt ... .

Format:Taschenbuch
Seiten:416
EAN:9783596148653

Rezensionen zu "Simon: Roman"

  1. Plötzlich auf sich allein gestellt...

    Im Mittelpunkt des Romans von Miqui Otero mit dem Titel "Simón" steht das Aufwachsen Simóns inmitten von Barcelona. Simón ist relativ auf sich gestellt, denn er wächst inmitten eines Lokals auf, das die stets beschäftigten Eltern führen. Was sie ihm nicht sein können, nämlich eine prägende Bezugspersonen mit Zeit für ihn, das ist ihm sein älterer Cousin Rico. Dieser bringt ihm vom wöchentlichen Sonntags-Flohmarkt stets einen Abenteuerroman mit und weiht ihn auf diese Weise in die Welt der Literatur ein, aus deren Reichtum er auch gerne zitiert. Dies schweißt die Beiden, Simón und Rico, fest zusammen.

    In Rezensionen, die ich las, wird oft auf andere Werke Bezug genommen und vergleichen: So wird aufgrund der Bedeutung der Stadt Barcelona und ihrer Historie sowie der Allgegenwart von Büchern eine Parallele zu Zafon's Büchern gezogen. Auch ich dachte zum Beispiel unmittelbar an Moehringers Roman "Tender Bar", wo ebenfalls ein Junge im Kontext eines Lokals aufwächst. Ich denke, solche Vergleiche stehen einer unvoreingenommenen Lektüre von Otero's Buch im Weg. Man tendiert oft zu vergleichen, was eigentlich unvergleichlich ist. Otero's Roman hat eine ganz eigene Stimme, man muss sich auf sie einlassen können und vielleicht auch den Mut haben, sich treiben zu lassen ohne klar erkennbaren Zielpunkt.

    Kommen wir zum Geschehen zurück. Als Simón's Cousin Rico von einem Tag auf den anderen plötzlich und unerwartet verschwindet, ist Simón ganz auf sich gestellt. Er vermisst Rico, die Unternehmungen mit ihm und auch die gemeinsam geteilte Vorliebe für Literatur. So richtig kann ihm keiner seine Fragen über den Verbleib von Rico beantworten. Das Leben geht weiter. Wir folgen Simón's weiterer Entwicklung. Begleiten ihn durch verschiedene Phasen seiner Jugend und des jungen Erwachsenen-Seins, lernen Freundinnen kennen. Simón probiert sich in der Liebe aus, schlägt sich durch, wird älter. Immer bleibt die Frage, wo Rico verblieben ist und die Sehnsucht nach ihm. Bis er eines Tages wieder auftaucht. Ist er wirklich der Held, für den Simón ihn stets gehalten hat? Und warum ist er so urplötzlich verschwunden? Fragen über Fragen...

    "Simón" ist im Kern ein Entwicklungsroman. In verschiedenen Zeitabständen lesen wir über die Entwicklungen Simóns und dessen Erfahrungen, Erlebnisse und entscheidende Wegmarken in seinem Leben. Dies Geschichte pläterscht etwas dahin. Ich fand sie dennoch sehr angenehm zu lesen. Es fehlt vielleicht ein klarer Zielpunkt, den der Autor mit dem Roman anstrebt. Das störte mich aber nicht wirklich. Ich konnte die Sprache des Romans sehr genießen, insbesondere gefielen mir auch die zahlreichen literarischen Bezüge. Ansonsten habe ich mich einfach etwas treiben lassen, ganz so wie Simón selbst sich hat treiben lasen. Über Barcelona und dessen Geschichte habe ich durch die Lektüre viel gelernt. In stilistischer Hinsicht gab es einige Brüche im Erzählstil, die ich recht gelungen fand. Am Ende war alles in allem ein Buch, das mich gut unterhalten konnte und in dem ich zahlreiche, genussreiche Lesestunden verbracht habe. Von daher würde ich es zukünftig auch mit weiteren Werken von Miqui Otero probieren.

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  1. Wenn die Erzählinstanz so gern so geistreich wär...

    „Simón“ und ich – wir sind kein gutes Team, obwohl wir sehr viel Zeit miteinander verbracht haben. Ich hätte diesen Roman mit seinen herrlichen Bezügen zur Mantel-und-Degen-Literatur und zur Welt der Bücher insgesamt wirklich sehr gerne mögen wollen, aber es war mir nicht vergönnt. Grundsätzlich beäuge ich Romane, die Bücherliebe zelebrieren, jedoch immer mit einem misstrauischen Auge – die Ausformulierung eines solchen Aspekts als tragendem Handlungsteil erscheint mir einerseits zu simpel gewählt, andererseits zu kalkuliert auf kommerziellen Erfolg fokussiert, denn natürlich richten sich Romane an Leser und die werden Bücher über Bücher auf jeden Fall mögen, nicht wahr?

    Auch in „Simón“ wird die Bibliophilie umfassend in der in Einzelepisoden über Jahre angesiedelten Handlung erschöpfend gewürdigt, sei es durch zahlreiche Bonmots, sei es durch denkwürdige und verschwurbelte Äußerungen, die mal besser mal schlechter gelungen sind, alle aber offensichtlich mit dem Ziel der Zitatreife formuliert. Darüber hinaus spielen besonders anfänglich Bücher, besonders die mit galanten Herren und anbetungswürdigen Damen, eine wesentliche Rolle in der Figurenentwicklung des Helden Simón, der vom Erzähler mit schon fast nervtötender Konsequenz auch als solcher angesprochen wird (das zweite Lieblingswort ist „Cousin-Brüder“, da Simón und sein Cousin Rico einander so verbunden sind wie Brüder).

    Überhaupt der Erzähler…in der Rückschau stelle ich fest, dass der Roman mich nicht nur wegen seiner Handlungsarmut, seiner Langatmigkeit und seiner Ziellosigkeit weder mitreißen noch begeistern konnte, sondern dass es hauptsächlich die Erzählinstanz selbst war, die mein Lesevergnügen maßgeblich negativ beeinträchtigt hat – wäre diese weniger selbstverliebt, selbstherrlich, gewollt geistreich und sich selbst als scharfsinnig und witzig wahrnehmend dahergekommen, hätte ich möglicherweise noch über die unermessliche Weitschweifigkeit und das gemächliche Dahinplätschern des Erzählfusses durch Barcelona (tatsächlich fast ohne Höhen und Tiefen – die interessanten Momente muss man schon mit sehr viel Aufmerksamkeit suchen) gut hinweglesen können. Die Erzählinstanz machte aber –bei aller möglicherweise versuchten ironischen Distanz – ein solches Unterfangen für mich unmöglich.

    So stelle ich für mich abschließend fest, dass „Simón“ bestimmt einen sehr umfangreichen Abriss über wesentliche Ereignisse in Barcelonas jüngerer Geschichte liefert, die Atmosphäre der Stadt sehr stimmungsvoll einfängt und eventuell mit einem anderen Erzähler und maximal der Hälfte der Seitenzahl vielleicht auch ein Buch für mich hätte werden können. Denn die Figuren hatten in ihrer Skurrilität und in dem gegebenen Kontext durchaus einiges an Potenzial. Die Redundanz, der Hang zur Weitschweifigkeit, die häufige Irrelevanz der Ausführungen und die wenig mitreißende Story konnten mich jedoch nicht begeistern. Für mich bleibt so leider der Eindruck eines Romans zurück, der am ehesten mit einem Menschen zu vergleichen ist, der sich selbst gerne reden hört ohne allzu viel zu sagen zu haben.

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  1. 2
    05. Dez 2022 

    Ein Sohn der Stadt...

    Der Roman begleitet Simón über mehrere Jahrzehnte seines Lebens, das eng mit der Stadt Barcelona verknüpft ist. Als Kind lebt er mit seinen Eltern sowie mit der Familie seines Onkels unter einem Dach. Unten die Bar, die v.a. von Stammgästen lebt, und in der die beiden Familienmütter in der Küche für das leibliche Wohl der Kundschaft sorgen, oben die Wohnungen der beiden Familien. Zu seinem älteren Cousin Rico hat Simón ein enges Verhältnis. Rico hat mehr Zeit als Simóns Eltern und kümmert sich häufig um seinen kleinen Cousin. Er nimmt ihn mit auf seine Streifzüge, übt mit ihm das Billardspielen und bringt ihm v.a. die Welt der Literatur nahe. Er schenkt ihm jeden Sonntag einen anderen Abenteuerroman, ofmals mit unterstrichenen Zeilen und Anmerkungen am Rand versehen. Die Liebe zu Büchern übernimmt Simón schnell und wird sie zeitlebens auch nicht mehr verlieren.

    Doch von einem Tag auf den anderen verschwindet Rico spurlos, und scheinbar weiß niemand, wo er abgeblieben ist. Simón spürt Rico in Barcelona nach, besucht Orte, die sein Cousin häufig aufgesucht hat, sucht Menschen auf, zu denen Rico Kontakt hatte, liest die Bücher, die er dagelassen hat, immer in der Hoffnung, auf eine Spur zu stoßen. Ihm zur Seite steht dabei seine beste Freundin Estela, das Mädchen mit den grünen Haaren, das sich stets durchzukämpfen weiß. Doch alle Spuren verlaufen im Sande, und schließlich wird Simón klar, dass er anfangen muss, sein eigenes Leben zu leben. Er verlässt Barcelona, lernt als Koch in Luxusküchen und malt sich rosige Zukunfstaussichten aus. Doch auch wenn der Autor Simón in dem Roman stets als Helden bezeichnet, ist das Leben eben kein Wunschkonzert.

    Bei diesem Roman handelt es sich um eine doch recht anstrengende Lektüre, die sehr ausschweifend erzählt, ohne erkennen zu lassen, was eigentlich der rote Faden sein soll. Im Laufe der Erzählung werden viele Themen gestreift, und da der Autor von der Literaturkritik bereits als "Chronist Barcelonas" bezeichnet wird, nimmt es nicht Wunder, dass alles, was in den vergangenen Jahrzehnten (jemals) in Barcelona geschehen ist, hier ebenfalls benannt wird, zuweilen in einer sehr ausführlichen Schleife. So vermischen sich auf knapp 450 klein bedruckten Seiten eine Coming-of-Age-Erzählung, die Chronik einer Stadt, Einblicke in das hektische, hierarchische, oftmals intrigante und ausbeuterische Geschehen in Luxusküchen, die Kluft arm vs. reich, gesellschaftskritische und politische Themen, Romaninhalte und die Bedeutung von bzw. die Liebe zu Büchern u.v.m., so dass letztlich alles zerfasert.

    Leider blieben zudem die Charaktere für mich auf Distanz, mich berührte das Geschehen kaum einmal, auch wenn die Figuren im Grunde interessant angelegt sind. Doch die Entwicklung der Charaktere fehlte teilweise ganz oder war zuletzt gar rückläufig. Das Bild einer hoffnungslosen Lage der Jugend Barcelonas? Vielleicht. Es mag auch andere Bedeutungsebenen geben in dem Roman, aber durch die verschwurbelte Erzählung, in der viel um nichts herum geschrieben wird, gingen die für mich verloren. Anfangs konnte mich der Schreibstil noch begeistern, teilweise gerieten einzelne Szenen dadurch sehr atmosphärisch. Dann aber wirkte die Ausdrucksweise doch immer wieder sehr selbstverliebt-intellektuell mit einem z.T. sehr komplexem Satzbau, und dem konnte ich dann zunehmend weniger abgewinnen. Ich bin ganz ehrlich: ich habe mich bei der Lektüre immer mehr gelangweilt und war dementsprechend froh, als ich das Buch endlich zuschlagen konnte.

    Der Roman und ich - das ging einfach nicht zusammen...

    © Parden

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  1. Die zwei Cousins Rico und Simón, Leseleidenschaft und Barcelona

    Die Kneipe ‚Baraja‘ in Barcelona wird von den Brüder Rico, die mit den Merlín-Schwestern verheiratet sind, geführt. Die Söhne der beiden Familien sind Rico, der 10 Jahre ältere, und Simón. Beide verbindet die Liebe zu Büchern und ein herzliches Verhältnis.

    Wir begleiten sie ab dem Sommer 1992, als Simón gerade mal 8 Jahre alt ist und lesen von ihren Startbedingungen in der Kneipe (samt Hausaufgaben mit ‚Hilfe‘ der Stammgäste), ihren beruflichen und sonstigen Stationen + ihren unterschiedlichen Entwicklungen. Auch ihre Freunde kommen nicht zu kurz: angefangen bei Estela, ‚dem Mädchen mit grünen Haaren‘, die zu jenen Menschen gehört, die sich in den Problemen anderer wälzen, um sich nicht mit den eigenen befassen zu müssen‘ (S. 399). Oder Betty / Beth, die Immobilienmaklerin, die öfters ‚viel redet, ohne etwas zu sagen‘ und viele mehr, die ihren Weg kreuzen.

    Wir wandern durch Barcelona auf den Pflastern mit den typischen Blumenmustern, fahren mit dem Fahrstuhl in einer ehemaligen Stierkampfarena hoch, die zu einem Einkaufszentrum umgebaut wurde, kochen in einem Nobel-Restaurant, auch auf einem Schiff und, und, und. Auch die Liebe zu Büchern ist immer wieder ein Thema. Und wir werden mit politischen und gesellschaftlichen Ereignissen konfrontiert!

    Mich, als Familienmensch, berührten wunderschöne Sätze, voller Lebensweisheiten, wie z.B. "Kinder sind dazu da, dass man für sie sorgt, aber auch, dass man fürsorglich wird. Es geht nicht nur um das, was du ihm beibringst, sondern auch um das, was das Kind dir beibringt" oder "Eltern sind wie Fußballspieler. Sie kommen uns älter vor, selbst wenn wir sie an Jahren längst übertreffen“ und die diversen Familienszenen.

    Das Buch überzeugte mich mit seiner Vielfalt, der Erzählkunst des Autors und der Sprache. Wenn es an manchen Stellen etwas gestraffter gewesen wäre, hätte es sogar die volle Sternenzahl bei mir erreicht, so gebe ich überzeugte vier! Ich empfehle es allen, die Freude an opulenten Geschichten und Beschreibungen haben!

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  1. Simon sagt……

    Simon sagt

    Vorweg möchte ich erwähnen, dass ich lange überlegt habe, wie ich diesen Roman am ehesten einordnen kann. Ist es ein Buch über einen Jungen, der zu seinem älteren Cousin aufblickt, oder eher ein Roman der eine Hommage an Bücher und deren Helden darstellen soll? Wäre es möglich, dass der Autor, wie angepriesen, der Stadt Barcelona Tribut zollen möchte? Ich persönlich denke, dass er hier von allem etwas vereint hat. Ein Kompendium an vielen unterschiedlichen Eindrücken prasselt auf den Leser, er muss allerdings die Aufgabe bewältigen und sich zwischen all dem zurecht finden. Einiges wirkt wirr und konfus, der rote Faden ist eher locker gesponnen, aber es lohnt sich am Ende Simon kennengelernt zu haben.

    Als Simon sich mit 8 Jahren bewusst wird, dass sein Cousin Rico, den er als Bruder sieht, nicht wieder kommen wird, bricht eine Welt für ihn zusammen. Er versucht weiterhin in Büchern zu versinken, wie er es von Rico gelernt hat. Er sucht weiter nach den versteckten Hinweisen, die ihm sein Cousin immer in Büchern, bevorzugt vom Flohmarkt, denn Geld hatten die beiden Familien nicht, zu entdecken. Später macht er sich mit Estella auf die Suche nach ihm, die beiden haben sich gefunden, tun sich zusammen und werden gute Freunde. Sie stammen aus dem gleichen Viertel, sind beide Außenseiter, und der Vater von Estella ein guter Kunde in der Kneipe von Simons Eltern.
    Eine Kneipe ist kein guter Ort für ein Kind, denkt man als erstes wenn man so etwas liest, doch in Simons Fall ist sie tatsächlich ein zu Hause. Ein Ort, wo er kochen darf, er liebt es zu experimentieren, ein Ort wo man ihn, den kleinen Jungen wertschätzt.
    Der ältere Simon denkt immer noch oft an Rico. Der Hinweis von damals " Es ist in den Büchern" verhalf ihm zu etwas Geld, welches ihm den Weg in eine renommierte Kochschule ebnet. Er lernt neue Leute kennen, doch es läuft nicht immer alles wie man es sich im Leben vorstellt.

    Als Rico wieder auftaucht, nach vielen Jahren, wird natürlich erstmal alles noch komplizierter. Rico ist ein zerrissener Charakter, er konnte mich aus verschiedenen Gründen nicht überzeugen. Doch um das Verhältnis Simon/Rico interessant zu machen, ist es sicher gut, dass man in Rico einen eigenwilligen Charakter hat.

    Der Autor zeigt dem Leser durch Simons Reisen viele aufregende Dinge und Situationen, es wird nie langweilig. Allerdings sollte man nicht damit rechnen, dass alles rational erklärbar ist, da Simon sich ab und an in Träumerein vergeht. Als roter Faden ist im Grunde nur der Konflikt zwischen den beiden Cousins zu nennen, der mal mehr mal weniger im Mittelpunkt steht. Man merkt, dass Miqui Otero Simon mag, er will seinen persönlichen Helden unbeschadet durch die Handlung bringen, und dies ist ihm gelungen.

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  1. "Milljö" in Barcelona

    Simóns Heimat ist eine Kneipe in Barcelona, von Simóns Vater und dessen Bruder betrieben. Da beide Familien direkt über der Kneipe beieinander wohnen, wächst der Kleine praktisch in dem Lokal auf, umgeben von den einfachen Arbeitern in einer Großstadt der Neunzigerjahre und einer ständig präsenten Gruppe mehr oder weniger skurriler Loser. Die wichtigste Person ist Simóns Kinderzeit ist jedoch sein Cousin, der zehn Jahre ältere Rico, der ihn wie ein großer Bruder auf seinen Streifzügen durch die Stadt mitnimmt und mit ihm spielt. Jeden Sonntag bringt Rico dem Kleinen vom Bücherflohmarkt einen alten Abenteuerroman mit, den Simón mit Begeisterung liest - besonders die Stellen, die Rico für ihn angestrichen hat. Mit acht Jahren hält er das ganze Leben für ein abenteuerliches Ritterstück, und Rico ist der Mittelpunkt. Doch 1992 verschwindet Rico von einem Tag auf den anderen, und fortan muss Simón sich allein behaupten - mit der Einstellung eines Menschen, der "mit erhobener Gabel durch eine Welt geht, in der nur Suppe serviert wird" (S. 49).

    Das Leben ist kein Roman. Die Literatur ordnet das Leben, der Zufall bringt es durcheinander. Solche kleine Weisheiten muss Simón lernen, während er der Kindheit entwächst und seinen Weg sucht. Er entdeckt das Kochen für sich uns erweist sich als begabt und kreativ. Er besucht eine renommierte Kochschule an der baskischen Küste, durchleidet die Schleifermethoden des Ausbilders, begegnet ernsthaften jungen Frauen, findet Eingang in die Schickimicki-Gesellschaft und verspielt seine Chancen. "Unser Held" nennt ihn der Autor, in kursiven Buchstaben. Simón durchlebt einige klassische Konflikte der Abenteuerliteratur, besonders im Zusammenhang mit Freundinnen. Zugleich erleben wir durch seine Augen die Entwicklung der Stadt Barcelona von den Olympischen Spielen bis 2018, den wirtschaftlichen Aufstieg, das Platzen der Blase, die Globalisierung, Gentrifizierung, den Touristenansturm und die Verarmung. Simóns Barcelona ist weder romantisch noch eine "Kunststadt", sondern ein Pflaster der erfolglosen Versuche und wiederholten Scheiterns, begleitet von dem Grundrauschen der immer gleichen Kneipenbesucher und dem Geräusch der Rollenkoffer.

    Der Stil dieses facettenreichen, gleichsam sprudelnd erzählten Romans ist auf erstaunliche Weise der Entwicklung des Helden angepasst. Die ersten Kapitel zeigen eine kindliche Perspektive, die zwar mit großer Neugierde in die Welt schaut, aber die wichtigsten Zusammenhänge nicht versteht. Das unverbunden erscheinende Nebeneinander der Episoden hat seine Längen; vieles ist witzig und originell erzählt, aber ein roter Faden will sich nicht recht einstellen. Als Simón "mit erhobener Gabel" in die Welt hinauszieht, wird es spannender. Die Konstanten in seinem Leben sind seine Jugendfreundinnen, die ernsthafte Estela und die "Oberschichttussi" Beth. Vor allem aber ist es das ungeklärte Schicksal seines Cousin-Bruders, das ihn beschäftigt. Warum ist Rico verschwunden? Immer wieder scheinen klare Momente auf; Erinnerungen, die plötzlich in anderem Licht erscheinen: Rico war Dealer, ein Kleingangster und keineswegs ein strahlender Held. Mit der Entzauberung Barcelonas wird auch Simóns Held entzaubert. Und als er plötzlich wieder auf der Bildfläche erscheint, stellt sich alles noch einmal ganz anders dar als gedacht.

    "Simón" ist ein vielschichtiges und wendungsreiches Buch, das man als Coming of Age-Roman, als Milieu- und Familienroman oder auch, wenn man möchte, als Abenteuergeschichte lesen kann: Ein anonymer allwissender Erzähler wendet sich immer wieder direkt an den Leser, wie in einem der historischen Romane, die Simón so liebt. Dieser Erzähler könnte aber genauso gut ein abgeklärter Simón sein, der von sich selbst in der dritten Person spricht. Dass dieser Erzähler hin und wieder sprudelt und schwurbelt, dass vieles auch kürzer und straffer erzählt werden könnte, kann man der Verwandtschaft mit den Flohmarktbüchern des Helden zuschreiben. Zwischendurch finden sich aber auch immer wieder treffende, poetische Bilder und kleine Lebensweisheiten: "Nach einem Schicksalsschlag machen manche Menschen reinen Tisch. (...) Sie wollen ihre Sünden beichten, damit sie nicht mehr zählen oder damit ihnen kein anderer zuvorkommt" (S. 352) oder (mein Lieblingssatz!): "Dinge renken sich nicht ein, indem man ein ernsthaftes Gespräch führt, sondern indem man mit jemandem wieder richtig lachen kann" (S. 315). Ein warmherziges, abenteuerliches, vielschichtiges und empfehlenswertes Buch!

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  1. Schelmenroman und Heldenepos

    Kurzmeinung: Neuere spanische Literatur.

    Simon und Rico, zwei Cousins, sind keine Siegertypen. Sondern ganz im Gegenteil, ihr Scheitern scheint vorprogrammiert. Sie wachsen in Barcelona, in der Kneipe ihrer Eltern auf. Rico, der zehn Jahre ältere, von dem achtjährigen Simon angebetet, bringt Simon die Welt der Bücher nahe. In diesen Büchern, Heldenromanen, kann jeder sein, was er sein oder werden will, behauptet Rico. Und das behauptet auch der Erzähler, der sich immer wieder in die Geschichte der Cousins einmischt. Noch jahrelang denkt Simon in den geschmeidigen und geschwollenen Dialogen, die zum Beispiel die drei Musketiere einander an den Kopf werfen und womit sie die Damenherzen zu gewinnen suchten. Ganz klar, diese Welten haben mit der Wirklichkeit des 20. Jahrhunderts und des beginnenden 21. Jahrhunderts wenig zu tun.

    Der Kommentar:
    Der Verdienst des Romans und Oteros ist es, dass er aufzeigt, wie schwer es ist, wenn man in den unteren Schichten der Bevölkerung angesiedelt ist, sein Leben in einigermaßen zufriedenstellende Bahnen zu lenken und die Eigenschaften zu entwickeln, die man dazu braucht: Zielstrebigkeit, Planung, Weitsicht. Durchhaltevermögen. Denn obwohl unsere „Helden“ sich fast zu Tode schuften, führen ihre Bemühungen in das wirtschaftliche Chaos.

    Die weiblichen jungen Hauptfiguren, Freundinnen von Simon oder Rico (oder beiden), geben, zugegebenermaßen oft zwar holzschnittartig und mit dem Gummihammer, aber trotzdem manchmal unterhaltend, die Familiengeschichte sozusagen untermalend, Sozial- und Umweltkritik zum Besten.

    Die beiden Protagonisten Rico und Simon bleiben ein Romanleben lang ineinander verstrickt, zum Leidwesen des Lesers, der sich Emanzipation wünscht, obwohl Rico jahrelang als verschollen gilt. Rico kam früh auf die schiefe Bahn und „von nun an gings bergab“. Simons Aufgabe ist es, die Lebenslügen Ricos aufzudecken, zu durchschauen und es selber besser zu machen.

    Aber so leicht ist das nicht. Selbst als es Simon gelingt, eine Zeitlang, mithilfe von reichen Mäzenen auf der Erfolgswelle zu schwimmen, leidet er an derselben Krankheit wie sein Cousin; Planlosigkeit plus fehlende Impulskontrolle machen alles, was er gerade aufbaut, wieder zunichte. Es ist nur folgerichtig, dass beide wieder dort stranden, wo sie herkamen, im Elternhaus. Loser. Der eine mehr, der andere weniger. Tragisch!

    Der Stil Otero ist weitschweifig. Umständlich. Ausholend. Einerseits ist man dankbar, wenn die spanische Historie die Familiengeschichte begleitet, andererseits sind die Erzählerkommentare dazu störend, weil sie jede aufkommende Ernsthaftigkeit des Romans untergraben. Zitat: „Romane sind merkwürdige Gebilde, die ihre Figuren in einen historischen Rahmen setzen, wo sie nicht unbedingt die Hauptrolle spielen“. Der Ball fliegt hier ins Aus! Der Roman wirkt dadurch albern. Die Tragik ist ausgehebelt.

    Hätte Otero auf sämtliche, allzu gewollt wirkenden Buchbezüge verzichtet und seine Figuren mal machen lassen, unbehelligt von einem aufdringlichen, distanzierenden und albernen Erzähler, dann wären Simon und Roco der Leserschaft schmerzhaft als Gescheiterte der Unterschicht im Bewusstsein geblieben. Denn Romane, die das Klassenbewusstsein schärfen, sind nach wie vor notwendig.

    Fazit: Man darf als Autor einfach nicht zu viel auf einmal wollen: Entweder Märchen und Schelmenroman oder sozialkritische Studie. Gewinnende Figuren schaffen oder klugschwätzen, lustig und albern oder traurig und tiefgründig - man muss sich entscheiden. Der Roman spielt mit zu vielen Genres. Es wird „rumgespielt“, anstatt kühne Linien zu ziehen. Schade.

    Kategorie: Gute Unterhaltung
    Verlag: Klett Cotta, 2022

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  1. 3
    05. Nov 2022 

    Keinen Zugang gefunden

    Spanien war dieses Jahr Gastland der Frankfurter Buchmesse und deshalb habe ich verstärktes Interesse an spanischer Literatur.
    Mit „ Simon“ hat Miqui Otero, 1980 in Barcelona geboren, Journalist und Schriftsteller seinen zweiten Roman vorgelegt. Er spielt vorrangig in der Heimatstadt des Autors und Barcelona spielt auch eine wesentliche Rolle .
    Die Geschichte beginnt 1992, in dem Jahr, als die Olympischen Sommerspiele stattfinden. Simon ist zu diesem Zeitpunkt acht Jahre alt. Er wächst im Grunde in der kleinen Kneipe auf, die seine Eltern gemeinsam mit Onkel und Tante betreiben. Kein idealer Ort für einen Jungen, obwohl er sich mit den z.T. skurrilen Gästen gut versteht. Zum Glück kümmert sich sein 10 Jahre älterer Cousin Rico um ihn. Er singt und spielt mit ihm und bringt jedes Wochenende historische Romane wie z.B.„ Die drei Musketiere“ vom Flohmarkt mit. Das Besondere daran sind für Rico aber weniger die Abenteuer der literarischen Helden, sondern die von Rico markierten Textstellen, Botschaften des Älteren an ihn. Simon genießt auch die gemeinsamen Spritztouren mit Ricos Vespa durch die Straßen der Stadt. Doch nach einer Tour in der Johannisnacht verschwindet Rico spurlos und die Suche nach ihm bleibt ohne Erfolg. Nun muss Simon ohne sein großes Vorbild klarkommen. Dabei hilft ihm Estela, das Mädchen mit den grünen Haaren, Außenseiterin wie er.
    Später entdeckt Simon sein Talent fürs Kochen, macht eine Ausbildung in einem Sterne- Restaurant im Baskenland. Dabei kommt er in Kontakt mit sogenannten besseren Kreisen. Aber zurück in Barcelona bleibt ihm der berufliche Aufstieg verwehrt.
    Der Leser begleitet den „ Helden“, wie Simon immer wieder scherzhaft oder liebevoll von seinem Autoren genannt wird, über viele Jahre hinweg.

    Das hätte ein unterhaltsamer und spannender Entwicklungsroman werden können. Leider fand ich keinen richtigen Zugang zum Buch, fand vieles zu geschwätzig und zu verschwurbelt und habe den roten Faden vermisst. Der Autor erzählt in einer z.T. wirren und ausufernden Sprache, Wichtiges und Banales werden gleich lang ausgebreitet. Wenigen guten Passagen, die es unzweifelhaft gibt, stehen unendlich viele belanglose gegenüber.
    Auch an den Figuren verlor ich im Verlaufe der Lektüre jegliches Interesse. Dabei breitet Miqui Otero ein reiches Personal vor uns aus, einige davon wirken freilich mehr wie Karrikaturen. Die Frauen im Roman sind stärkere Charaktere; sie wissen, was sie wollen und sind meist in einer Mission unterwegs. Allerdings werden deren Botschaften, wie Umweltschutz und Kapitalismuskritik, oberlehrerhaft vorgetragen.
    Der Autor packt in seinem Roman auch historische Geschehnisse ein, wie z.B. die Immobilienkrise in Spanien oder den Terroranschlag vom 17. August 2017. Doch ein lebendiges Bild der Zeit und der Stadt entstand dadurch für mich nicht.
    Trotzdem gebe ich dem Buch noch drei ( schwache )Sterne, weil es trotz all meiner Einwände auch gelungene Passagen hat. Möglicherweise war ich hier ein zu ungeduldiger Leser, der die zahlreichen erzählerischen Umwege nicht schätzen konnte.
    Auf dem Umschlag wird die spanische Tageszeitung „ABC Cultural“ zitiert: „ Sich nicht in den Helden dieser Geschichte zu verlieben, ist unmöglich.“ Ich habe es geschafft.

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  1. Der Mensch, der man sein will

    Erzählt wird die Geschichte zweier „Cousin-Brüder“: Simón ist zu Beginn des Romans (1992) 8 Jahre alt, sein Cousin Rico 10 Jahre älter. Die beiden Familien sind eng verbunden und bewirtschaften zusammen das Lokal Baraja im Stadtteil Sant Antoni in Barcelona. Für Simón haben die Eltern wenig Zeit, er wächst weitgehend sich selbst überlassen in der Kneipe umgeben von eigenwilligen Gästen auf. Rico wird zum Vorbild, Simón genießt dessen märchenhafte Geschichten, in denen es um Helden, Glück und Reichtum geht. Die beiden leben diese fantastischen Abenteuer, und insbesondere der Ältere scheint sich in ihnen gerne zu verlieren. Jeden Sonntag bringt Rico zudem ein Buch vom Büchermarkt mit, das er mit kleinen Anmerkungen und Hinweisen versieht und das Simón mit Feuereifer verschlingt. Diese Bücher werden für Simón zu einem schmerzvollen Schatz, als Rico nach einer unvergleichlichen Nacht verschwindet. „Besser, man verschwindet nicht nach und nach aus dem Leben der anderen; wenn man schon verschwinden muss, dann am besten mit einer Verbeugung. Indem man demjenigen, den man am meisten liebt, ein letztes Leuchten schenkt.“ (S.33)

    Diese erzwungene Trennung prägt Simón für sein ganzes weiteres Leben. In drei Büchern mit insgesamt 12 Stationen dürfen die Leser an Simóns Entwicklung über insgesamt 26 Jahre teilnehmen. Geschildert werden verschiedene Lebensabschnitte meist im Abstand von etwa zwei Jahren. Was dazwischen geschieht, wird eher stichwortartig umrissen und nur aus dem Zusammenhang heraus ersichtlich. Das macht es aus meiner Sicht zunächst nicht leicht, sich in den Roman einzufinden, der allerdings schon von Beginn an durch seinen geschliffenen, kreativen Schreibstil zu überzeugen weiß. Rico gerät nur vordergründig aus dem Fokus. Er hat tiefe Fußspuren auf den Seelen seines Cousin-Bruders sowie der ganzen Familie hinterlassen.

    Die auktoriale Erzählstimme spricht den „Helden“ Simón auch direkt an. Überhaupt geht von Oteros Schreibstil eine erfrischende Dynamik aus. Er versteht es, sich in die innere und äußere Welt seiner Figuren einzufühlen. Immer wieder taucht der untergetauchte Rico im Denken und Handeln Simóns auf. Es sind Weisheiten, Zitate und Sprüche, durch die sich der „Künstler ohne Kunst“ ausgezeichnet hat. „Er (Simón) wusste es noch nicht, natürlich nicht, aber es würde nicht einfach werden. Mit diesen Idealen und Hoffnungen hatte sein Cousin-Bruder ihn zu jemandem gemacht, der mit erhobener Gabel durch eine Welt geht, in der nur Suppe serviert wird.“ (S. 49)

    Zum Glück kann sich Simón von seinem Vorbild nach und nach emanzipieren. Er lernt das ebenso einsame Mädchen Estela aus seinem Bezirk kennen, das ihm zum beständigen Licht seines Lebens wird. Er findet einen Beruf, der ihn mit Leidenschaft erfüllt. Die Leser werden gekonnt durch das Auf und Ab dieses umtriebigen Lebens geführt, das ihn schließlich zu seinen Wurzeln zurückbringt. Während der gesamten Lektüre steht zwar Simón im Vordergrund. Dennoch bekommt in intensiven Szenen mit, dass der ältere Cousin nicht mit der Realität klarkommt und an den eigenen Sehnsüchten zu zerbrechen droht. Diese Diskrepanz wird unglaublich ansprechend herausgearbeitet, Simóns Gefühle werden sensibel dargelegt.

    Die Erlebnisse des eigentlichen Helden lesen sich dabei recht unterschiedlich. Manches wirkt abenteuerlich, übertrieben, bizarr oder komödiantisch. Anderes emotional, traurig oder tragisch. Otero sprüht vor Ideenreichtum. Er stellt seine Heimatstadt dabei sehr realistisch dar, er verklärt sie nicht wie andere Autoren vor ihm. Dennoch ist die Liebe zur Stadt eine präsente Triebfeder, die wunderbare, plastische Bilder vor Augen führt. Der Autor erschafft ein buntes, teilweise skurriles und doch glaubwürdiges Figurenkabinett rund um seine Protagonisten. Die spanisch-gesellige Lebensart wird dabei atmosphärisch abgebildet. Die Sprache wirkt leicht und salopp, setzt aber auch tiefer gehende Gedanken in Gang. Dadurch wechselt die Stimmung in gleichem Maße. Der Satzbau ist nicht immer einfach und erfordert Konzentration, die zahlreichen fundierten literarischen Bezüge (meist aus Abenteuerromanen des 19. Jahrhunderts), Metaphern, Bonmots oder Wortspiele erfreuen jedes Bibliophilen-Herz: „Leute, die in einer Kneipe im Stehen trinken, warten entweder auf jemanden oder erwarten niemanden oder erwarten nichts oder erwarten nichts von niemandem.“ (S.280) oder „Die Flüssigkeit ihrer Freundschaft war noch da, aber sie war schal geworden. Keine Kohlensäure mehr.“ (S. 289)

    In erster Linie ist „Simón“ ein Entwicklungsroman, in der sich der Protagonist auch tatsächlich über 26 Jahre hinweg zu dem Menschen entwickelt, der er sein will. Dazu muss er aus dem Schatten seines Mentors heraustreten. Auf diesem Weg lässt Otero die jeweilige Zeit und ihre Herausforderungen einfließen. Egal, ob Wirtschafts- und Finanzkrise, aktuelle politische Lage (Unabhängigkeitsbestrebungen Kataloniens) oder Terroranschlag in Barcelona: Seine Figuren reflektieren die jeweiligen Probleme, sie üben Kritik an Ungleichverteilung, Rassismus, Kapitalismus, der Macht des Geldes. Existenzängste werden deutlich. Dazu kommen die Bedeutung von Herkunft, Familie, Heimat und Wurzeln. Alle Themen werden organisch mit der Handlung verwoben, ich habe keine unangenehme Didaktik erkennen können.

    „Simón“ ist ein Roman, auf den man sich einlassen muss. Sein kreatives Schreibkonzept ist zunächst einmal fordernd. Die szenische, sprunghafte Erzählweise führt dazu, dass man als Leser eine Weile braucht, um sich einzufinden und in einen Lesefluss zu kommen (zumindest erging es mir so). Anschließend wird man dagegen reichlich belohnt mit einer intensiven Geschichte um zwei sich nahestehende Menschen in einem bewegten Umfeld und mit einer Ode an die Freundschaft.

    Ich halte den Roman trotz der genannten Schwächen, die ich im Nachhinein auch wegen des gelungenen Endes als untergeordnet empfinde, für sehr empfehlenswert. Ich möchte ihn allen Lesern empfehlen, die sich mit spanischer Literatur auseinandersetzen wollen und facettenreiche Charaktere lieben.

    Ein faszinierend anderes Lese-Erlebnis.

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  1. Rico, Simón und die drei großen Bs

    Der achtjährige Simón und sein zehn Jahre älterer Cousin Rico sind wie Brüder. Rico ist ein Held, ein Idol für den kleinen Jungen, und so ist es nicht verwunderlich, dass auch Simón sich bald für die großen Abenteuerromane des 19. Jahrhunderts zu begeistern beginnt, die Rico so liebt. Doch nach dem mittsommerlichen Sant Joan-Fest des Jahres 1992 verschwindet der Größere plötzlich spurlos. Fortan muss sich Simón auf den Straßen Barcelonas selbst behaupten. Wie entwickelt sich ein kleiner Büchernarr, wenn ihm das Vorbild von einem auf den anderen Tag abhandenkommt? Und was macht es aus einer Familie, wenn eines der Mitglieder plötzlich fehlt? Nicht nur darüber schreibt Miqui Otero in seinem neuen Roman "Simón", der kürzlich bei Klett-Cotta in der deutschen Übersetzung aus dem Spanischen von Matthias Strobel erschienen ist.

    Otero gilt in seiner katalanischen Heimat als eine "Schlüsselfigur in der Kulturszene" und seit seinem Debütroman "Rayos" von 2012 , der noch nicht auf Deutsch erschienen ist, als "Chronist Barcelonas". "Rayos" handelte von einem Galicier, der nach Barcelona emigriert und deckte die Jahre mit Beginn der dortigen Weltausstellung von 1929 bis zu den Olympischen Spielen von 1992 ab. So scheint es nur konsequent, dass der Chronist Otero die Handlung bei "Simón" ganz kurz vor dieser Olympiade einsetzen lässt und seinen Protagonisten erneut über einen recht stattlichen Zeitrahmen bis ins Frühjahr 2018 begleitet.

    Wer nun wegen der drei großen Bs - Buben, Bücher, Barcelona - an Ähnlichkeiten mit Carlos Ruiz Zafóns "Der Schatten des Windes" denken mag, liegt nur auf den ersten Blick richtig. Denn neben diesen drei Bs gibt es nur noch eine weitere Gemeinsamkeit: Sowohl Zafón, als auch Otero schreiben ihre Romane auf Spanisch und nicht auf Katalanisch. Otero laut einem eigenen Twitter-Beitrag übrigens, weil er sich in dieser Sprache besser ausdrücken könne als auf Katalanisch, womit er das Problem der Minderheitensprache gleich deutlich macht. Ob er dem Katalanischen mit seiner Entscheidung jedoch einen Gefallen tut, steht auf einem ganz anderen Blatt und soll uns hier nicht weiter beschäftigen. "Simón" ist in seinem Mut zur Hässlichkeit, in seiner Gesellschaftskritik und seinem - auf die Stadt bezogenen - Realismus vielmehr eine Art Anti-Zafón. Das Dunkelromantische und Mystische, das bei Zafón immer mitschwingt, sucht man auf den fast 450 Seiten von "Simón" vergeblich.

    Stärker erinnert "Simón" beispielsweise an "Tender Bar" von J. R. Moehringer, denn genau wie der kleine J.R. verbringt Simón einen Großteil seiner Kindheit in einer Kneipe. Und genau wie J.R. nimmt er sich ein zweifelhaftes Vorbild. Denn dieser Rico - so erfahren wir es recht früh - ist alles andere als ein Kind von Traurigkeit. Er handelt auf den Straßen Barcelonas mit in Filmdöschen versteckten Drogen und bekommt sein Leben nicht auf die Reihe. Sicherlich darf auch "Don Quixote" bei möglichen Parallelen nicht fehlen. Denn Miqui Otero erzählt episodenhaft und von einzelnen Abenteuern seines in jeder Szene präsenten Titelhelden. Wobei er den "Helden" stets kursiv druckt und damit wohl seine Ironie ausdrückt. Auch Simón kann nicht mehr zwischen der Realität und den Romanen unterscheiden. Schon als Kind spricht er zumindest in seinem Kopf wie seine Lieblingsfiguren aus der Literatur des 19. Jahrhunderts. Doch anders als Don Quixote kämpft Simón nicht gegen Windmühlen, sondern eher gegen seine Vergangenheit und gegen den Schmerz über den Verlust seines Cousin-Bruders.

    "Simón" ist ein äußerst ambitionierter Roman. Miqui Otero versucht in ihm, für die Stadt Barcelona so prägende Ereignisse wie den Terroranschlag im August 2017 oder das Referendum über die katalanische Unabhängigkeit vom 1. Oktober desselben Jahres unterzubringen. Jenen "Bloody Sunday", als die spanische Polizei auch mit Gewalt versuchte, diese Abstimmungen zu verhindern. Dies gelingt ihm jedoch leidlich. Denn auch hier übertrumpft Simón als Figur die Hintergründe. Einmal gibt es einen eher albernen Moped-Unfall zu bestaunen, beim anderen Mal schwafelt Simón irgendetwas vom Glauben und bleibt dabei seltsam schwammig.

    Ohnehin wagt Otero einen riskanten Spagat zwischen Humor und ernster Melancholie, zwischen Fäkalsprache und Poesie. Ganz ohne Zweifel sind die Stärken des Romans die ernsten Stellen - und die Figuren. Die Charaktere sind vielschichtig und ambivalent. Keinem aus dem bunt schillerndem Cast gelingt es, nicht an mindestens einer Stelle im Roman zu nerven. Doch andererseits schafft es auch jede Figur, die Leserschaft zeitweise tief zu berühren. Erstaunlicherweise gilt das Gleiche für den gesamten Roman, der eine ähnliche Entwicklung wie sein Protagonist durchzumachen scheint. Das kindlich-warmherzige Verhältnis zwischen Simón und Rico - sicherlich einer der Höhepunkte des Romans - wird von einer albern-pubertären Episode des heranwachsenden Jungen abgelöst, ehe sich Buch und Held langsam aber sicher emanzipieren, um in ihrer Reife gelegentlich zu langweilen.

    Die Szenen zwischen den Cousin-Brüdern bleiben lange in Erinnerung. In jedem Alter. Das Verhältnis ist von tiefer Liebe durchdrungen, von Wärme und Freundschaft, aber auch von Verrat und Ängsten. In diesen Momenten strahlt "Simón". Auch die Frauenfiguren bleiben im Gedächtnis. Ob Kindheitsfreundin Estela, eine grünhaarige Unabhängigkeitsbefürworterin, die leicht schizophrene Immobilienmaklerin und Drogenabhängige Beth oder Candela, die wohl erste große Liebe Simóns aus der Dominikanischen Republik - sie alle verkörpern das, was den Männern manchmal fehlt: Haltung und Charakter. Rico ist ein ewiges Kind, ein in Selbstmitleid getränkter Verlierer. Doch auch er ist in seiner Verlorenheit und in seiner Tragik ein Highlight und erinnert ein wenig an Anton aus Damon Galguts "Das Versprechen", was Qualitätsmerkmal genug sein sollte. Und Simón selbst? Er ist vielleicht die Mischung aus allem, aus Verrücktheit und Vernunft. Ein Junge und später Mann, der zahlreiche Fehler begeht, und sich doch in die Herzen der Leser:innen drängt.

    Auch formal weiß "Simón" zu überzeugen. Die bisweilen großen Zeitsprünge zwischen den Kapiteln werden elegant durch gewisse Rückblicke überbrückt, die aber so wenig Raum einnehmen, dass sie nicht einmal im Ansatz langweilen. Jedem Kapitel wird ein Zitat vorangestellt, das eine liebevolle Hommage an die Literatur ist, welche sich zudem durch das ständige Auftauchen des Barceloneser Bücherflohmarkts von Sant Antoni ausdrückt. Häufig lesen wir auch E-Mails an Simón, die zwar unbeantwortet bleiben, aber sich nahtlos in die Handlung einfügen. Hier stört in einigen Details nur die etwas merkwürdige deutsche Übersetzung.

    Ganz hervorragend gelingen Miqui Otero Ein- und Ausstieg der jeweiligen Kapitel. In diesen Momenten hat das Buch seine vielleicht emotionalsten und spannendsten Stellen. Ein durchdringend klingelndes Telefon in der Kneipe von Simóns Eltern, während sich die gesamte Belegschaft um einen Schwerverletzten kümmern muss. Ein Erzähler, der auch schon mal Simón direkt anspricht und damit für Gänsehaut sorgt. Wirklich besonders und kreativ.

    Insgesamt war "Simón" für mich ein Wechselbad der Gefühle. Ein Roman, der mich streckenweise stark berührt hat, mich an anderen, redundanten oder zu langen Stellen aber regelrecht geärgert hat. Dass das Buch aber eigentlich ständig irgendeine positive oder negative Reaktion bei mir auslöste, rechne ich ihm als Pluspunkt an. Denn ob nun Simón, Daniel Sempere im "Schatten des Windes" oder zuletzt Benny Oh in Ruth Ozekis "Die leise Last der Dinge": Bücher, die langweilen, haben alle drei Jungen bestimmt längst vergessen. Doch diejenigen, die berühren oder ärgern, die bleiben noch lange im Gedächtnis. Wie "Simón" von Miqui Otero.

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  1. 1,5 Sterne und die Suche nach dem roten Faden der Geschichte

    Klappentext:

    „Als Kind träumt sich Simón aus der Bar seiner Eltern in die Welt von Dumas` Abenteuerromanen fort. Auch das Barcelona der Neunzigerjahre steckt voller Euphorie, doch selbst der Glanz der Stadt und die Magie der Bücher können Simón nicht vor allen Herausforderungen bewahren, die die Zukunft für ihn und sein Umfeld bereithält.

    Simón wächst, weitgehend sich selbst überlassen, in einer Bar am Stadtrand von Barcelona auf. Nicht unbedingt der beste Ort für einen kleinen Jungen, doch sonntags verwandelt sich Simóns Leben in pure Magie. Denn jeden Sonntag bringt ihm sein Cousin einen historischen Abenteuerroman vom Bücherflohmarkt des Viertels mit. Die Helden dieser Romane vergisst Simón nie wieder. Nicht, als sein Cousin spurlos verschwindet, und auch nicht, als Simón die Liebe kennenlernt und sich als Koch in Luxusküchen verdingt. Doch weder die strahlende Stadt ist vor der Entzauberung gefeit, noch Simóns eigenes Leben...“

    Autor Miqui Otero hat „Simón“ verfasst. Das Buch wird vom Verlag so beschrieben „Miqui Otero hat mit diesem zärtlichen, mehrere Jahrzehnte umspannenden Familienroman nicht nur seinem Helden Simón und der sinnstiftenden Kraft der Literatur, sondern auch seiner Heimatstadt Barcelona ein Denkmal gesetzt.“. Ich muss zugeben das ich keinen Punkt davon unterschreiben kann. Warum? Simóns Geschichte wirkt von Beginn an verworren und verklärt. Entweder liegt es an der Wortwahl oder am Ausdruck? Ich weiß es nicht. Simón und Rico (sein Cousin) blieben mir fern bis zur letzten Seite. Beide entwickeln sich, finden zusammen, entfernen sich wieder von einander, machen Erfahrungen fürs Leben aber welcher Tenor soll hier erzählt werden? Von dem Flair Barcelonas fehlt hier ebenfalls jede Spur. Gerade darauf hatte ich große Hoffnung in das Buch gesetzt aber leider ist diese zerplatzt. Es gab einen besonderen Spruch den ich mir mal sehr gut eingeprägt habe und der hier treffend passt: „Ich höre (das wandeln wir hier mal in „lesen“ ab) was du sagst, verstehe aber nicht was du meinst“. Nach allen Parts, nach allen Zeitsprüngen wurden die Fragezeichen im Kopf immer größer. Der rote Faden der Geschichte ist hauchdünn zu erahnen aber nicht treffend zu benennen. Die Protagonisten bleiben mir, wie so vielen Lesern bei diesem Buch, fremd bis zum Schluss. Hier wirkt nichts zärtlich, oder gar sinnstiftend wie vom Verlag beschrieben. Sinnstiftend sowieso nicht, denn dieses Buch gibt Rätsel auf und man sucht vergeblich nach Antworten. Simons Liebe für Bücher und ihre Geschichten war gerade zu Beginn wirklich schön zu lesen aber das war es dann auch. Ich muss wirklich gestehen, ich weiß nicht, welches Denkmal das sein soll, das Miqui Otero hier angeblich für seine Heimatstadt Barcelona erschaffen haben soll. Ich kann es nicht erkennen und bleibe lieber bei Gaudís Sagrada Família… 1,5 Sterne für diese Geschichte

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  1. Intensive Bilder einer Generation und einer Stadt

    „Du kannst sein, wer immer du sein willst, aber vergiss nie, wer du bist.“ (Zitat Position 4524)

    Inhalt
    Rico, Simóns Cousin, ist zehn Jahre älter und wie ein Bruder für Simón, sein Beschützer und großes Vorbild, so lange er denken kann. Der beste Tag für den jungen Simón ist immer der Sonntag, denn an diesem Tag bringt ihm Rico ein Buch mit, das Simón suchen muss, bevor er sich in die spannenden Abenteuer von neuen Helden vertiefen kann. Bis Rico eines Tages im Sommer 1992 spurlos verschwindet und Simón nach Jahren des Suchens lernen muss, seinen eigenen Weg zu finden und dass die Abenteuer seiner edlen Romanhelden nicht immer den Weg in das wirkliche Leben finden. „Manchmal muss man fortgehen, um nach Hause zurückkehren zu können. Manchmal kann man vielleicht nicht an einen Ort zurückkehren, aber sehr wohl zu einem Menschen.“ (Zitat Pos. 4808)

    Thema und Genre
    In diesem Roman geht es um das Leben und Schicksal einer großen Familie in Barcelona, um das Aufwachsen am Stadtrand in bescheidenen Verhältnissen. Vor allem jedoch geht es um Träume, Hoffnungen, Freundschaft, Liebe und um die Kraft der Literatur. Ein wichtiges Thema sind auch die politisch wechselvollen Jahre der lebhaften Stadt Barcelona, die sich 1992 euphorisch als Austragungsort der olympischen Sommerspiele präsentiert, und mehr als zwanzig Jahre später heftige Krisenjahre durchlebt.

    Charaktere
    Die Hauptfigur in dieser Geschichte ist Simón, dessen Leben wir von seiner Kindheit bis in seine Erwachsenenjahre Mitte dreißig folgen. Er ist ein Träumer, der sich mit den Helden seiner Abenteuerromane identifiziert, sie ins eigene Leben holt. „Der Zufall bringt das Leben durcheinander, die Fiktion hingegen ordnet es“ (Zitat Pos. 5461) Genau solche Zufälle bringen auch Simóns Pläne und Leben öfter als nur ein Mal durcheinander, und es sind die Frauen, besonders seine Lebensfreundin Estela, die ihn erden. Es ist eine Geschichte von Helden, die auch manchmal scheitern dürfen, und von den starken Frauen an ihrer Seite.

    Handlung und Schreibstil
    Die Geschichte umfasst, ergänzt durch Rückblenden und Erinnerungen, die Jahre zwischen 1992 und 2018 und wird chronologisch erzählt. Die Handlung ist facettenreich und von der ersten Seite an packend. Der Autor wählt, was in modernen Romanen inzwischen eher selten geworden ist, die Erzählstimme eines allwissenden Erzählers, was mit die sprachliche Faszination dieses Buches ausmacht. Diese Erzählform unterstützt die poetische, bildintensive Sprache, erlaubt dem Autor, auch tief in die Gedanken und Gefühle seiner Figuren einzudringen und künftige Entwicklungen anzudeuten, was die Handlung manchmal in Magie hüllt, die dennoch in der Realität besteht.

    Fazit
    Ein wunderbar dichter, intensiver und auch magischer Roman, eine Mischung aus Coming-of-Age-Geschichte, Familienroman und Roman der Stadt Barcelona, in dem auch die Kraft der Literatur eine wichtige Rolle spielt.

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