Sibir

Buchseite und Rezensionen zu 'Sibir' von Sabrina Janesch
4.3
4.3 von 5 (10 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Sibir"

Furchterregend klingt das Wort, das der zehnjährige Josef Ambacher aufschnappt: Sibirien. Die Erwachsenen verwenden es für alles, was im fernen, fremden Osten liegt. Dorthin werden Hunderttausende deutscher Zivilisten – es ist das Jahr 1945 – von der Sowjetarmee verschleppt, unter ihnen auch Josef. Kasachstan ist das Ziel. Dort angekommen, findet er sich in einer harten, aber auch wundersamen, mythenvollen Welt wieder – und er lernt, sich gegen die Steppe und ihre Vorspiegelungen zu behaupten. Mühlheide, 1990: Josef Ambacher wird mit seiner Vergangenheit konfrontiert, als nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion eine Woge von Aussiedlern die niedersächsische Kleinstadt erreicht. Seine Tochter Leila steht zwischen den Welten und muss vermitteln – und das zu einem Zeitpunkt, an dem sie selbst den Spuk der Geschichte zu begreifen und zu bannen versucht.

Format:Gebundene Ausgabe
Seiten:320
EAN:9783737101493

Rezensionen zu "Sibir"

  1. 5
    30. Sep 2023 

    Ergreifend und authentisch

    Dies ist die Geschichte von Joseph Ambacher, der 1945 als zehnjähriges Kind zusammen mit seiner Familie aus dem Egerland nach Sibirien verschleppt wird und zehn Jahre lang in der kasachischen Steppe lebt. Es ist auch die Geschichte seiner Tochter, die in den 1990er Jahren in einer Kleinstadt in der Lüneburger Heide aufwächst und auf Identitätssuche ist: Die Verschleppung und das Trauma ihrer Familie ist ihr bekannt; sie lebt in einem Viertel 'am Rande' der Stadt umgeben von anderen Aussiedlern mit ähnlicher Geschichte. Dabei versucht sie ihren Vater zu verstehen und eine Brücke zu den "Normalos" zu finden. Die Ordnung der Dinge und die mühsam erarbeiteten Identitäten geraten ins Wanken, als 1990 weitere Aussiedler aus Russland nach Deutschland kommen und ihren Platz zu finden versuchen. Für Joseph Ambacher verschwimmen zunehmend die Grenzen zwischen seinen Lebenswelten, die Stimmen der kasachischen Steppe holen ihn ein.

    Sabrina Janesch erzählt sehr einfühlsam und sehr gekonnt bzw. sehr wissend vom Schicksal der im Zweiten Weltkrieg nach Sibirien verschleppten Deutschen, vom Überleben, von der Erinnerung, der Zerrissenheit und vom Trauma. Ihr Text ist sehr authentisch und wer Ähnliches aus seiner Biografie kennt, der wird von diesem Buch sehr ergriffen sein. Es hat zwischendrin ein paar Längen, insgesamt aber eine klare Leseempfehlung.

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  1. Deutsche Geschichte in Kasachstan

    Josef, der als kleiner Junge all dies erlebt hat, verbrennt eines Tages seine gesamten Aufzeichnungen, Tagebücher und Erinnerungsstücke, die er aus Sibirien mit nach Deutschland gebracht hat, er will sich nicht mehr erinnern,
    er will endgültig vergessen.
    Jetzt ist er alt und sein Gedächtnis scheint nachzulassen.
    Seine Tochter Leila versucht alles was ihr aus Erzählungen ihres Vaters geblieben ist aufzuschreiben, ehe es im Dunkel des Vergessens für immer verschwindet.
    Es ist die Geschichte der Deutschen, die aus ihren blühenden Dörfern in Russland, während der Stalinzeit nach Sibirien verschleppt wurden.
    Ein hunderttausendfaches Schicksal. Gemeinsam war ihnen allen der Wille zum Überleben in dieser fremden Welt.
    Josef wurde mit seiner Familie nach Kasachstan deportiert, in eine schier unendliche Steppe, in der sie mittellos ausgesetzt wurden, schutzlos den Naturgewalten ausgesetzt, in dem gnadenlosen System der stalinistischen Arbeitslager, in dem sie Kälte, Hunger und Feindschaft kennen lernten.
    Sie gehörten aber auch zu denen, die schon nach zehn Jahren durch politische Verhandlungen nach Deutschland ausreisen durften.
    Man nannte es "die Heimkehr der Zehntausend".
    Deutsche Geschichte, die nicht vergessen werden darf!

    Meisterhaft verknüpft die Autorin die Vergangenheit in Kasachstan mit der Gegenwart in Deutschland, von der Zeit des Neuankommens und dem Bruch mit dem alten Leben.
    Dieses Buch könnte man als Reminiszenz der Autorin an ihre Vorfahren betrachten, im Besonderen an ihren Vater.
    Ohne das überraschende Ende, wäre das Buch vielleicht so nicht möglich gewesen.

    Das Buchcover mit der Regenbogenforelle hat sich mir nicht erschlossen,
    eine Darstellung, die die Weite der zentralasiatischen Steppe zum Ausdruck
    bringt, hätte mir besser gefallen.

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  1. Kasachstan ist auch in Mühlheide

    Während des zweiten Weltkriegs wird die Familie Ambacher - wie so viele deutschstämmige Familien - von der Roten Armee aus Galizien (Ukraine) nach Sibirien verschleppt. Schon der Weg dorthin ist gefährlich, Kälte und Hunger sind groß, nicht alle überleben. Wir lernen die endlose Weite der kasachischen Steppe, das Leben der Zivilgefangenen unter sowjetischer Aufsicht aus der Sicht des 10-jährigen Josef Ambacher kennen. Es geht ums Überleben; die deutsche Sprache darf nicht gesprochen werden, Misstrauen herrscht unter den aus unterschiedlichen Teilen der Sowjetunion Verschleppten. Die Sorge, selbst bei kleineren „Vergehen“ in den nahe gelegenen Gulag abtransportiert zu werden, ist allgegenwärtig. Josef sammelt russische, kasachische und deutsche Wörter, findet einen guten Freund unter den etwas abseits lebenden Kasachen und erhält Einblicke in eine fremde Kultur.
    Janesch erzählt in ruhigem Ton, fängt durch ausdrucksstarke Szenen, die oft durch Kleinigkeiten berühren, die Atmosphäre dieses Orts im Nirgendwo ein und gewährt Einblicke in das dortige Leben.
    Etwa zehn Jahre später dürfen die Ambachers und andere Zivilgefangenen nach Deutschland ausreisen. Sie gelten als „Rückkehrer“, ein absurder Begriff angesichts der Tatsache, dass viele der Verschleppten bereits viele Generationen zuvor Deutschland verlassen haben.
    In Mühlheide am südlichen Rand der Lüneburger Heide entsteht in den 1950er Jahren eine Siedlung von „Sibiriendeutschen“, in den 1990ern kommen weitere, einst nach Sibirien verschleppte Familien nach Mühlheide, zunächst argwöhnisch beäugt von den Alteingesessenen.
    Janesch erzählt zwei Zeitebenen parallel. Im Zentrum stehen Josef mit seinen Erlebnissen als Kind in Kasachstan und seine Tochter Leila als Kind in Mühlheide etwa fünfzig Jahre später. Die Zeitwechsel sind fließend, kündigen sich durch kleine Verbindungen, Ähnlichkeiten oder Assoziationen an. Da ist z.B. die Erinnerung an ein Unwetter oder an einen Gegenstand, durch die der Text äußerst geschmeidig in die andere Zeit gleitet. Diese Übergänge haben mir ausgesprochen gut gefallen.
    Obwohl Leila ganz anders aufwächst, lassen sich Gemeinsamkeiten zur Kindheit ihres Vaters feststellen - dazu gehören Ausgrenzungserfahrungen, Fremdheitsgefühle, die Suche nach Heimat und Identität, aber auch die Themen Schuld, Mitschuld und Vergebung, die beide in unterschiedlichen Situationen beschäftigen. Eine weitere Parallele liegt in einer wunderbaren Freundschaft, die sowohl Josef als auch Leila erleben.
    Sibir hat mich inhaltlich bereichert. Mir war überhaupt nicht klar, dass es sogenannte Zivilgefangene gab, die später wieder „zurück“ nach Deutschland geholt wurden. Auch die Verknüpfungen der beiden Kindheiten hat mir gut gefallen. Lediglich Leilas Teil hätte ich mir an einigen Stellen etwas straffer gewünscht. Sehr deutlich zeigen sich im Mühlheider Teil die Traumatisierungen des erwachsenen Josef in bestimmten Situationen. Auch Leila muss mit dem manchmal merkwürdigen Verhalten ihres Vaters und diesem Erbe umgehen. Wie bei allen Verschleppten sind die kasachische Erfahrung und dadurch entstandene Ängste ein Teil der Identität, die nicht einfach abgestreift werden kann.
    Doch nun schwindet Josefs Erinnerung - er ist an Demenz erkrankt. Ein dritter Zeitsprung bildet die gelungene Rahmenhandlung des Romans. Gleich zu Beginn von „Sibir“ besucht die erwachsene Leila ihren Vater, versucht seine Geschichte, die Geschichte ihrer Familie zu erinnern und aufzuschreiben. Am Ende des Romans bleibt nur noch eine wichtige Sache zu erledigen. Der Schluss ist perfekt und hat mich stark berührt.

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  1. Dschinns der Vergangenheit und Gegenwart

    Inspiriert von der eigenen Familiengeschichte erzählt die1985 in Niedersachsen als Tochter eines 1945 nach Zentralasien deportierten Zivilgefangenen und einer Polin geborene Autorin Sabrina Jentsch in "Sibir" vom Schicksal der Russlanddeutschen und ihrer Nachkommen, von Auswanderung, Umsiedlung, Vertreibung, Enteignung, Verschleppung, Befreiung und Rückkehr. In zwei Erzählsträngen, 1945/46 und 1990/91, verwebt sie zwei Kindheiten: Josef Ambacher wurde 1945 als Zehnjähriger nach Sibirien, genauer Kasachstan, verschleppt, seine Tochter Leila lebt im gleichen Alter 1990/91 in Mühlheide, Niedersachsen, und wächst mit seinen Geschichten auf:

    "Wofür mein Vater keine Worte fand, das kleidete er in Geschichten." (S. 15)

    "Ich hing an den Geschichten meines Vaters wie an einem Tropf…" (S. 17)

    In der Rahmenhandlung erzählt die erwachsene Leila von ihrem Bemühen, die Geschichten des inzwischen über 80-jährigen, zunehmend dementen Vaters zu bewahren.

    Kasachstan
    Ursprünglich aus dem Egerland stammend, wanderte die Familie Ambacher im 18. Jahrhundert wie viele andere nach Galizien aus, wurde von den Nationalsozialisten „heim ins Reich“ geholt und im zuvor polnischen Wartheland angesiedelt, bevor sie auf der Flucht von der Roten Armee aufgegriffen und in die Verbannung nach Zentralasien geschickt wurde. Zusammen mit den Großeltern und der Tante – der kleine Bruder verstarb auf dem Transport, die Mutter verschwand spurlos – verbrachte Josef zehn Jahre in einem Dorf mit Deportierten verschiedenster Nationalitäten unter der Aufsicht des Dorfsowjets in der lebensfeindlichen Steppe. Hunger, Mangel an allem, extreme Wetterverhältnisse, Ausgestoßensein, Angst vor den Gulags, aber auch Abenteuer, die Begegnung mit der kasachischen Kultur, ein zugewandter russischer Lehrer und sein kasachischer Freund Tachawi bestimmten Josefs Leben bis zur Ausreise 1955 nach Deutschland. Allgegenwärtig war die Trauer um den Verlust der Mutter:

    "Wenn er auf den Beinen war und umherlief, konnte er die Gedanken an die Mutter manchmal für eine Weile abschütteln. Seine Traurigkeit wanderte langsamer durch den Raum als er selbst…" (S. 120/121)

    Mühlheide
    35 Jahre nach den Zivilgefangenen kamen die Spätaussiedler nach Deutschland, für die Siedlungsbewohnerinnen und –bewohner am Rande von Mühlheide bedeutete dies eine schwierige Konfrontation mit der eigenen Vergangenheit, Berührungsängste und Schuldgefühle. Aus kindlicher Ich-Perspektive erzählt Leila von Menschen, die „jeder Vorstellung von Beheimatung und Zuhause misstrauen“ (S. 247), ihrer Freundschaft mit Arnold, der Isolation der Siedlungskinder und von ihrer Grenzwallfunktion zwischen Türken und „Normalos“ im Klassenzimmer, ihrem Konflikt mit dem ehemaligen SS-Mann Tartter und dem Spätaussiedlerjungen Pascha, der ihr Duo zum Trio macht.

    Ein wichtiger Teil der deutschen Geschichte
    Herausragend in Sibir ist der Teil über Josefs Kindheit, das Aufwachsen unter Extrembedingungen, die man in jedem Wort fühlt. Gefallen hat mir auch, wie gekonnt Sabrina Janesch Sachinformationen über die historischen Bevölkerungsverschiebungen in den literarischen Text einbindet, wie sie fließend die beiden Kindheiten über Begriffe wie „Sturm“, „Hütte“, „Schuld“, „Freundschaft“, „Schule“ oder „Familie“ verwebt und sie in die anrührende Rahmenhandlung einbindet. Auch die sprachliche Qualität des Romans mit den eingeflochtenen deutsch-russisch-kasachischen Vokabelketten hat mich überzeugt. Allerdings hadere ich mit der Gewichtung der Erzählstränge, denn Leilas kindliche Klagen über ihre „schwere“ Kindheit, die dramatisch beschriebene Außenseitersituation der nachgeborenen Kinder 35 Jahre nach der Rückkehr der Eltern, die ich aus eigener Anschauung so nicht nachvollziehen kann, und der aufgebauschte Konflikt mit dem Tartter haben mich mehr genervt als ergriffen und dienen vor allem der Konstruktion von Parallelen. Empfehlenswert ist Sibir trotzdem. Mit mehr Kasachstan und weniger Mühlheide wäre es sogar ein Lieblingsbuch geworden.

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  1. Suche nach Identität

    Sabrina Janesch entführt ihren Leser in eine Welt, die in Geschichtsbüchern eher marginal auftaucht und deren letzte Zeitzeugen allmählich aussterben. Sie stellt uns das Schicksal der deutschen Familie Ambacher vor, die vor Generationen in das Warteland eingewandert war und von dort im II. Weltkrieg nach Sibirien verschleppt wurde – als Zivilgefangene, wie so viele andere deutschstämmige Familien auch. Janesch erzählt von der Verschleppung, dem Leben in Kasachstan und der Rückkehr nach Deutschland in ein Land, das den Rückkehrern fremd geworden ist.

    Die Autorin verteilt die Handlung auf zwei Zeitebenen und auf zwei Protagonisten, beides Kinder: einmal das Kind Josef, aus dessen Perspektive die Zeit in der kasachischen Steppe erzählt wird, und in der Jetztzeit ist es Josefs Tochter Leila, aus deren Sicht wir die Situation der Rückkehrer erleben.

    Die Art und Weise, wie die Autorin diese beiden Ebenen miteinander verbindet, ist bestechend flüssig und geschmeidig. Assoziativ reiht sie die Erlebnisse der beiden Kinder aneinander; ob es ein Sturm in der Steppe ist, der Schamane bzw. die Tante als Heilerin, der Wintereinbruch, der Schulbesuch – die Zeitebenen verzahnen sich bewundernswert leicht ineinander. Dadurch wird deutlich, welche Gemeinsamkeiten zwischen den Generationen bestehen. Beide leiden unter dem Trauma der Entwurzelung, beide fühlen sich fremd und ausgegrenzt, beide suchen letztlich nach ihrer Identität.

    In der Gegenwart kommt noch eine Facette hinzu. Was zunächst wie ein unmotivierter Kinderstreich aussieht – der Diebstahl von Zahngold -, entpuppt sich als Hinweis auf diejenigen, die für die Verschleppung und die Traumatisierung vieler Menschen verantwortlich waren: die Nationalsozialisten, deren Täter nach wie vor ungestraft unter uns leben. Hier schafft die Autorin mit Pawel eine wirklich beeindruckende Figur.

    Der Teil, der in der Steppe spielt, hat mir wesentlich besser gefallen. Hier gelingen der Autorin einfach schöne Bilder wie z. B. das Kind Josef, das heimlich Wörter aus dem verbotenen Deutsch sammelt und aufbewahrt, um seine Identität und auch die Verbindung mit seiner toten Mutter zu bewahren. Sie vermeidet auch jede Schwarz-Weiß-Zeichnung der Figuren, und damit gelingen ihr mit wenigen Federstrichen Bilder von menschlicher Solidarität über ethnische Grenzen hinweg, aber auch Verrat und Eigennutz.

    Der Jetzt-Teil gerät mir teilweise zu larmoyant. Die ständigen Klagen über die „schwere Kindheit“ und die grobe Ausgrenzung der Rückkehrerkinder – z. B. getrennte Sitzplätze in der Schule – wirken zu dramatisch. Zudem decken sie sich nicht mit meinen eigenen Wahrnehmungen.

    Das Hörbuch wird eingelesen von Julia Nachtmann: perfekt, ein großer Hör-Genuss!

    Insgesamt ein überzeugendes Buch, intelligent konstruiert.
    Lese- und Hör-Empfehlung!

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  1. Zwei Hälften, die zum Ganzen werden

    Ausgehend von der Gegenwart, in der Leilas Vater Josef seine Kindheitserinnerungen an eine demenzielle Erkrankung zu verlieren droht, entwirft Sabrina Janesch eine Jahrzehnte umfassende Familiengeschichte. Sie verwebt dabei geschickt die tragischen Erlebnisse des Vaters Josef Ambacher mit denen seiner Tochter Leila im selben Alter. Dabei beschreibt Janesch ein weitgehend unbeleuchtetes Stück deutscher Geschichte, nämlich das Schicksal deutscher Auswanderer, die bereits im 18. Jahrhundert dem Ruf Maria Theresias folgten, um in Galizien im Habsburger Reich eine neue Heimat zu finden. Durch die beiden Weltkriege verschoben sich die Grenzen, so dass diese Menschen wiederholt umgesiedelt werden mussten.

    Josef Ambacher wird 1945 als Zehnjähriger zusammen mit seiner Familie von der Roten Armee von Polen nach Nowa Karlowka in die kasachische Steppe zwangsumgesiedelt. Schon die Transportbedingungen sind dermaßen hart, dass Josefs kleiner Bruder die damit verbundenen Strapazen nicht überlebt. Auch seine Mutter verschwindet unter rätselhaften Umständen im Schneesturm. Am neuen Wohnort muss man sich an ungewohnte Gegebenheiten anpassen. Die Unterkünfte sind bescheiden und grenzen direkt an die große kasachische Steppe, der die Autorin mit starken Bildern Leben einhaucht. Sie beschreibt die karge Schönheit, die unendliche Weite, die Legenden, Gefahren und Eigenheiten dieses Landstrichs höchst eindrucksvoll.

    Für Josef ist es schwer, Anschluss zu finden. Alle Deutschen müssen sich voneinander fernhalten, die deutsche Sprache ist strengstens verboten. Jede Auffälligkeit kann mit Arbeitsdienst im Gulag bestraft werden, wovor alle große Furcht haben: „Sibirien, das war der Tod.“ Es bestehen viele Vorbehalte den Neuankömmlingen gegenüber. Mit der Zeit gelingt es der Familie jedoch, sich mit ihren handwerklichen und medizinischen Fähigkeiten Anerkennung zu verschaffen. Man bildet mit den dort zur Sesshaftigkeit gezwungenen Kasachen eine Art Schicksalsgemeinschaft. Beide Volksgruppen fürchten sich vor der Stalinistischen Obrigkeit, was verbindet.

    Josef hat indessen Angst, seine Muttersprache zu verlieren. Heimlich sammelt er Wörter und Geschichten, er gibt auch die Suche nach seiner Mutter nicht auf, was sehr anrührend ist. Sein Lehrer wird auf Josef aufmerksam und erkennt seinen wachen Verstand. Im gleichaltrigen Tachawi findet der Junge einen treuen Freund. Beide Jungen gehören zwar unterschiedlichen Nationalitäten an, leiden aber unter persönlichen Verlusten, was sie verbindet und fest zusammenhalten lässt. Über all dem lauern Gefahren: die der unwirtlichen Natur ebenso wie die der Nachbarn, denn: Verrat kommt immer wieder vor und kann tödlich sein. Man verfolgt die zehn Jahre, die die Ambachers in Nowa Karlowka verbringen, als Leser äußerst gespannt. Die Autorin versteht es dabei ausgezeichnet, die einzelnen Episoden in einen großen Gesamtzusammenhang zu stellen.
    Geschickt wird diese Handlungsebene mit der Kindheit Leilas verwoben. Manche Erlebnisse des Vaters scheinen sich in ihrem Leben regelrecht zu spiegeln - wenn auch in weniger spektakulärer Form: Anfang der 1990er Jahre leben Josef, seine Frau und die gemeinsame Tochter Leila am Stadtrand von Mühlheide in Norddeutschland, wo sie sich ebenfalls als zugereiste Außenseiter fühlen. Als nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion zahlreiche Spätaussiedler aus Kasachstan ankommen, weckt das höchst ambivalente Gefühle. Die Aussiedlergruppen beäugen sich kritisch. Verdrängte Erinnerungen gelangen gerade bei Josef Ambacher wieder an die Oberfläche.

    In der Gegenüberstellung der beiden Kindheiten wird deutlich, dass die Vergangenheit immer auch in die Gegenwart hineinwirkt, dass man familiären Verflechtungen nicht entgehen kann. So gibt es zahlreiche Parallelen zwischen Leila und ihrem Vater. Ähnliche Szenarien wiederholen sich; sie sind das Stichwort zum Wechsel der Erzählebenen, die Janesch gekonnt ineinander fließen lässt. Dadurch bekommt der Roman Tiefe und fordert zum Nachdenken auf.

    Man kann sich sehr gut in die Psyche der beiden Kinder hineindenken, aber auch die Perspektive ihrer erwachsenen Umwelt wird greifbar. Die Familiengeschichte wird ruhig und sehr kraftvoll erzählt. Sie ist ungemein fesselnd und hält immer wieder berührende Momente bereit. Die Autorin hat mit diesem Roman ihre eigene Geschichte autofiktional aufgearbeitet. Sie hat dabei den Versuch unternommen, die Geschichte ihres Vaters mit ihrer eigenen zu einem Ganzen zusammenzufügen. Man empfindet große Empathie mit den beiden Protagonisten und bekommt Verständnis für die Traditionen der Menschen, die lange in der Sowjetunion beheimatet waren und sich hier in einer anderen Welt zurechtfinden müssen – kritisch beäugt von den Nachbarn.

    Ich habe diesen Roman sehr genossen. Beide Handlungsebenen finde ich überzeugend, auch wenn mich die Geschichte von Josef Ambacher etwas stärker gefesselt hat. Der Schreibstil der Autorin ist einprägsam, enthält schöne Formulierungen und lässt keine Wünsche offen. Für den Plot besonders wichtige Begriffe hat sie sogar dreisprachig (Deutsch/Kasachisch/Russisch) aufgeführt, was den kulturellen Besonderheiten Rechnung trägt und verdeutlicht, in welchem Spannungsfeld sich die Protagonisten bewegen.

    Ein sehr stimmig konzipiertes Buch! Wie die Autorin zwei unabhängige Zeitebenen miteinander in Beziehung setzt und verbindet, empfinde ich als sehr gekonnt. Der Roman verschafft ein intensives Leseerlebnis.
    Große Lese-Empfehlung!

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  1. 5
    03. Feb 2023 

    Wenig bekanntes Kapitel deutsch-russischer Geschichte

    War Sabrina Janesch in ihrem meisterhaften Debutroman „ Katzenberge“ auf Spurensuche in der Familiengeschichte ihrer polnischen Mutter, so begibt sie sich in ihrem neuesten Roman zurück in die Vergangenheit ihres Vaters. Die Widmung „ Für meinen Vater“ wird in drei Sprachen ( Deutsch / Russisch / Kasachisch )dem Buch vorangestellt.
    Ausgelöst wird die Erinnerungsarbeit durch einen besorgten Anruf der Mutter. Der Vater verliert anscheinend den Verstand und die erwachsene Tochter Leila, die Ich- Erzählerin, kommt zurück nach Hause. „ Die Geister der Vergangenheit, die Dschinn der Steppe“ bedrängen erneut den alten Vater. Und um sie zu bannen, wird die Tochter den Stimmen ihre eigene entgegenhalten, schriftlich sogar. Denn
    „ Unsere Kindheiten, die mehr als vierzig Jahre trennen, spiegeln einander und führen sich fort.“
    Der Vater Josef Ambacher wird als Zehnjähriger von der Roten Armee nach Sibirien verschleppt. Seine Familie war im 18. Jahrhundert dem Ruf der österreichischen Kaiserin Maria Theresia gefolgt und hatte sich in Galizien angesiedelt. Doch als 1939 das zu Polen gehörige Galizien von sowjetischen Truppen besetzt wurde, änderte sich das Klima für die ehemaligen deutschen Siedler. Sie zogen deshalb in das nunmehr deutsche Wartheland. Dort wohnten sie in den Höfen vertriebener polnischer Bauern. Nach dem Sieg der Roten Armee gegen Nazi- Deutschland wurden alle zurückgebliebenen Deutschen deportiert. Darunter auch Josef mit seiner Familie. Der kleine Bruder überlebt die wochenlange Reise nicht. Und als der Zug mit den überlebenden Passagieren endlich in der kasachischen Steppe angekommen ist, verschwindet die Mutter in einem entsetzlichen Schneesturm, dem Buran. Josef kann sich lange nicht dem Verlust der Mutter abfinden; wiederholt macht er sich auf die Suche nach der Verschwundenen.
    Ansonsten versuchen die Großeltern und die Tante hier zu überleben. Dabei kommt ihnen zugute, dass der Großvater, ein Tischler, handwerklich begabt ist und die Tante mit ihren medizinischen Kenntnissen gebraucht wird. Josef hilft die Freundschaft zu dem gleichaltrigen Kasachenjungen Tachawi .
    Sabrina Janesch erzählt ihre Geschichte auf zwei Zeit-und Ortsebenen. Sie wechselt von der Kindheit Josefs im fernen Kasachstan in den Jahren 1945/46 in die frühen 1990er Jahre an den südlichen Rand der Lüneburger Heide zur 10jährigen Leila.
    Hierher nach Mühlheide hat es Mitte der Fünfziger Jahre Josef und seine Familie verschlagen. Am Ortsrand haben sich die russischen Zivilgefangenen nach ihrer Ankunft in Deutschland angesiedelt. Und am Rande der Gesellschaft fühlten sie sich auch. Als läge ein Makel auf ihnen, eine Mitschuld an ihrem Schicksal, werden sie von den Einheimischem argwöhnisch betrachtet .
    Als nun 1990 die Grenzen offen sind und zahlreiche „Aussiedler“ aus Kasachstan in die niedersächsische Kleinstadt kommen, wird Josef verstärkt mit seiner sibirischen Vergangenheit konfrontiert. Auch wenn er versucht, alte Erinnerungsstücke loszuwerden, zeigt sich doch, wie stark das Vergangene in die Gegenwart hineinwirkt.
    Sabrina Janesch beschränkt sich in ihrem Roman auf jeweils einen kurzen Lebensabschnitt und stellt die beiden Kindheiten gegenüber. Obwohl die von Josef wesentlich dramatischer verläuft - und mich auch weitaus mehr gepackt hat - als die seiner Tochter Leila, so gibt es doch einige Parallelen. Z.B. ist für beide Kinder die Freundschaft zu einem Gleichaltrigen wichtig , beide fühlen sich fremd in ihrer Umgebung, werden aufgrund familiärer Hintergründe ausgegrenzt, beide suchen ihren Platz. Dabei zeigt sich, wie Familiengeschichten prägen und weiterwirken.
    Die Autorin entwickelt dabei glaubhafte und psychologisch stimmige Figuren. In Erinnerung bleibt z.B., wie Josef deutsche Begriffe auf selbstgefertigte Lehmtäfelchen ritzt, um sie nicht zu vergessen. Deutsch war verboten, darüber wachten die Sowjets. Doch die deutsche Sprache war das, was die Verschleppten mit ihrer Heimat verband. Und für Josef war es das Band zur vermissten Mutter. Im Text finden sich immer wieder bestimmte Schlüsselbegriffe in drei Sprachen : auf Deutsch, dann auf Russisch, der offiziellen Sprache und auf Kasachisch, der Sprache, mit der sich Josef mit seinem Freund verständigt.
    Sabrina Janesch gelingen viele eindrückliche Szenen, die lang im Gedächtnis des Lesers bleiben. Sie findet starke Bilder, um die Weite und Unwirtlichkeit, aber auch die Schönheit der kasachischen Steppe zu beschreiben.
    Für diesen Roman hat die Autorin lange recherchiert. Eine wichtige Quelle waren die Erzählungen ihres Vaters, aber auch andere Erlebnisberichte, sowie historische Dokumente. Am eindringlichsten scheint ihre Reise nach Zentralasien gewesen zu sein, wo sie sogar Überreste des damaligen Wohnhauses ihres Vaters vorgefunden hat.
    Sabrina Janesch beleuchtet mit ihrem neuen Roman ein Stück wenig bekannter deutsch- russischer Geschichte: die Verschleppung deutscher Zivilgefangener in weit entfernte östliche Gebiete. Man geht von 300.000 bis 800.000 deutschen Zivilgefangenen - keine Kriegsgefangenen - aus, die in den Osten der Sowjetunion verschleppt worden sind.
    Anhand von Einzelschicksalen zeigt sie eindrücklich, welche verheerenden Auswirkungen die politischen Verwerfungen des 20. Jahrhunderts auf die Menschen hatten. Angesichts aktueller Fluchtgeschichten sind solche Erzählungen umso wichtiger.

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  1. 4
    02. Feb 2023 

    Zwie Kindkeiten

    Der zehnjährige Josef und seine Familie werden nach dem zweiten Weltkrieg in den Osten verschleppt. Sibirien - so nennen sie die ferne Weite, die dem kleinen Jungen als erstes die Mutter nimmt. Es ist ein Ort in Kasachstan, in dem sie landen und sich mit den Einheimischen arrangieren, die keinesfalls auf sie gewartet haben. Ein karges Leben mit einer Sprache, die sich Josef Wort für Wort erobert. Erst nach zehn Jahren dürfen sie in die damalige BRD ausreisen. Im Jahr 1990 kommen die neuen Aussiedler in Deutschland an. Auch in dem kleinen Heideort, in dem Josef und seine Familie eine Heimat gefunden haben.

    In der Gegenwart verspürt Josefs Tochter Leila das Bedürfnis die Geschichten aus ihrer Kindheit ebenso zu bewahren wie die von ihrem Vater. Aber die Erinnerung ihres Vaters hat ihre Form verloren. Vielleicht kann Leila ihrem Vater helfen und gleichzeitig ihre gemeinsame Familiengeschichte durchdringen. Wie hat ihr Vater es empfunden, in dieser unwirtlichen Fremde, in der er doch auch Freundschaft fand. Und wie war es als in den 1990ern die Aussiedler in Deutschland ankamen, die für Josef seine Vergangenheit wieder lebendig werden ließ. Auch Leila, die neben ihrem alten Freund Arnold auch den neuen Freund Pascha fand, vertieft sich in die Vergangenheit.

    Ein wehmütiger Roman über Menschen die auf unterschiedliche Arten von ihrem erzwungenen Aufenthalten in der ehemaligen Sowjetunion geprägt wurden. Nicht gewollt waren sie dort und fremd auch hier. Wie hat die Steppe sie verändert? Haben die, welche später ausreisen durften, mehr gelitten? Warum fühlt sich Josef schuldig? Warum ist er so speziell? Auch wenn man sich schließlich nicht komplett in die Menschen hinein fühlen kann, so wird immerhin Verständnis geweckt für das Leid, dass der Krieg über sie gebracht hat. Es wirkt über Generationen, sie gehen unterschiedlich damit um, sie können unterschiedlich viel Leid ertragen. Es gibt keine Erleuchtung, selbst wenn man Vorfahren hat, die fliehen mussten, deren Kinder auch diejenigen waren, die knapp nicht dazu gehörten. Dennoch berührt dieser Roman mit seinen Erzählungen und seiner Melancholie.

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  1. Sibirien

    Für mich ist es sehr schwierig eine Rezension über dieses Buch zu schreiben. Da das Gesamtwerk nicht gleichbleibend gut war. Nun zum Inhalt:

    Es geht die Familie Ambacher. Genauer gesagt um Joseph Ambacher. Dieser wurde als Kind mit seiner Familie nach Sibirien deportiert und verschleppt. Sie lebten in sehr einfachen Verhälnissen, immer knapp am Hunger und mussten mit starker Kälte, Hitze, Wölfe, Defarmierungen von den Dorfbewohnern leben. In der Schule wird Joseph ausgegrenzt, da er der Deutsche war und musste einige Schikanen wegstecken. Zum Glück konnte er Anschluß finden an einen einheimischen kasakischen Jungen. Mit dem machte er sich die Gegend unsicher.

    Der andere Erzählstrang handelt von den 1990er Jahren in Mühlheide. Dort hat sich die Familie Ambacher niedergelassen. Es werden die Unterschiede zwischen den Spätaussiedler und den länger dort lebenden Russlanddeutsche gezeigt. Aber dies wird in einer so langatmigen, zähen und für mich total an den Haaren herbeigezogenen Handlung erzählt. Für mich war dieser Erzählstrang wirklich eine Tortur. 

    Der sibirische Erzählstrang punktete mit Intensivität und man spürte als Leser wirklich die Weite und die Verlorenheit der Gegenheit. Leider wechseln sich beide Erzählstränge immer wieder ab. Immer wenn ich in das Buch eingesogen wurde (der sibirische Teil) kam der fünf Freunde Teil der Gegenwart. Es war für mich wirklich nicht einfach. Am Ende gewann noch etwas der Gegenwartteil. Doch insgesamt war es ein durchwachsenes Leseerlebnis.

    Fazit:

    Menschen. die sich für das "Erbe" der Russlanddeutsche interessieren sollten zu diesem Buch greifen. Es hatte berührende Sequenzen im sibirischen Teil. Dieses Buch verlangt im Gegenwartsstrang zuviel Belangloses vom Leser ab, so dass ich dem Buch 3,5. Abgerundet 3 Sterne geben kann.

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  1. 4
    29. Jan 2023 

    Interessanter familienbiografischer Roman auf Deutsch - Russisch

    Sabrina Janesch, selbst Tochter einer polnischen Mutter und eines Vaters, der – ebenso wie der Protagonist ihres Romans, Josef – als Kind mit seiner Familie aus dem Wartheland in die Steppe Kasachstans verschleppt wurde, führt im vorliegenden Roman familienbiografische Hintergründe und Recherchen zu einem spannenden Porträt einer Familie über Generationen hinweg zusammen.

    Josef ist zehn Jahre alt, als er 1945 mit seiner in Galizien (Ukraine) angesiedelten, deutschstämmigen Familie bestehend aus seinem Bruder, seiner Mutter, der Tante und den Großeltern von russischen Soldaten nach Sibirien verschleppt wird. In die BRD kommt die Familie zehn Jahre später durch Verhandlungen von Bundeskanzler Adenauer mit weiteren zehntausenden Kriegsgefangenen – hauptsächlich Soldaten. Bekannt sind die Geschichten von Wehrmachtssoldaten, die in die russischen Gulags für viele Jahre verschwanden und in stark reduzierter Anzahl erst Jahre später freikamen. Von sogenannten „Zivilverschleppten“ hörte man bisher jedoch nur wenig. Als Vergeltung für Taten Nazideutschlands im Krieg wurden deutsche Zivilisten, die in östlichen Gebieten lebten, u.a. in die kasachische Steppe zum Arbeitsdienst verschleppt.

    Josefs Geschichte lesen wir nun nur deshalb, weil seine Tochter Leila beginnt seine im Alter von über 80 Jahren schwindenden Erinnerungen aufzuschreiben. So gelingt der Einstieg in diesen Roman und überraschenderweise bleibt die Erzählung fortan jedoch nicht nur im Jahre 1945/46 in der kasachischen Steppe sondern springt im Verlauf des Buches zeitlich und örtlich immer wieder ins Jahr 1990/91, als die Sowjetunion zusammenbrach und erneut deutschstämmige Menschen, sog. „Russlanddeutsche“ in die BRD übersiedelten. Hier begleiten wir nun Leila, in etwa im selben Alter nun wie damals ihr Vater Josef, als er verschleppt wurde. So erfahren wir nicht nur etwas über das Leben des kleinen Josefs in der „Gelber-Rücken-Steppe“, Sary Arka, und seiner Freundschaft mit dem kasachischen Jungen Tachawi, sondern auch über das Leben des erwachsenen Josef sowie seiner Tochter Leila und ihrer Freundschaft zu Arnold, einem Jungen mit ähnlicher Familiengeschichte, und Pascha, dem Sohn einer Spätaussiedler-Familie.

    Durch diesen geschickten Schachzug der Gegenüberstellung zweier Kindheiten fächert die Autorin die Familiendynamiken unter unterschiedlichen Vorzeichen auf und bringt uns Lesenden gleich zwei historische Phänomene näher. Das ist psychologisch wie auch sprachlich sehr gut umgesetzt. Mithilfe weniger Sätze baut sie die Atmosphäre der einen und der anderen Lebenswelt in unserem Kopf auf und zieht uns in diese aufregende Familiengeschichte hinein. Besonders die Beschreibungen um die durch die Sowjets zusammengewürfelte Dorfgemeinschaft Nowa Karlowka in Kasachstan überzeugen ohne Abstriche. Sie schreibt:

    „Erst wesentlich später wurde ihm klar, dass die Tscherkessen, Armenier, Ukrainer, Polen, Esten, Finnen, Tschetschenen, Koreaner und Kalmücken, die in Nowa Karlowka lebten, schon vor Jahren aus allen möglichen und unmöglichen Ecken des sowjetischen Imperiums zusammengetrieben worden waren und in die Steppe geschafft. Nichts davon war freiwillig geschehen, die bunte Dorfgemeinschaft war brutal erzwungen, und sie alle, alle waren Gefangene, zurückgehalten nicht von Mauern, sondern von Leere.“

    Dieser kulturellen und sprachlichen Mischung verleiht die Autorin gekonnt Ausdruck, indem sie immer wieder Vokabeln, welche an der Stelle des Buches für die Geschichte wichtig sind, in den drei Sprachen Deutsch, Russisch und Kasachisch auftauchen lässt. Denn Josef ist es verboten Deutsch zu sprechen, er will die Sprache aber nicht vergessen, in Russisch muss er sich im Dorf ausdrücken und mit seinem Freund Tachawi kann er sich nur auf Kasachisch verständigen.

    Zugegebenermaßen empfand ich den Erzählstrang in der Steppe um den jungen Josef über die Länge des Buches hinweg ein wenig interessanter als der um 1990/91. Auch wenn ich die literarische Entscheidung der Autorin, jeweils nur etwa ein Jahr aus dem Leben der jeweils etwa zehnjährigen Kinder Josef und auch Leila zu erzählen, sehr gut nachvollziehen kann, so hätte ich mir doch noch mehr und Weiterführendes aus Josefs Kindheit und Jugend erhofft. Zuletzt tauchen im Erzählstrang 1990/91 außerdem ein paar zu viele Handlungswendungen auf und machen diesen ein wenig zu wuselig. Das Ende des Buches ist dann wieder erfrischend und konnte mich überzeugen.

    Insgesamt handelt es sich bei „Sibir“ als um ein äußerst lesenswertes Buch, welches ich allen Interessierten ans Herz legen möchte. Da die Autorin ja bereits in der Vergangenheit literarisch ihre Familiengeschichte aufgearbeitet hat, bleibt noch die kleine Hoffnung erhalten, dass wir doch noch einmal zur Figur „Josef“ in einem Roman zurückkehren können, um mehr über seine Jugend und junges Erwachsenenalter zu erfahren.

    4,5/5 Sterne

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