Shuggie Bain: Booker Preis 2020

Buchseite und Rezensionen zu 'Shuggie Bain: Booker Preis 2020' von Douglas Stuart
4.7
4.7 von 5 (19 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Shuggie Bain: Booker Preis 2020"

Für seinen Roman „Shuggie Bain“ wurde Douglas Stuart mit dem Booker Preis 2020 ausgezeichnet. „Das beste Debüt, das ich in den letzten Jahren gelesen habe.“ (Karl Ove Knausgård) „Dieses Buch werdet ihr nicht mehr vergessen.“ (Stefanie de Velasco) Shuggie ist anders, zart, fantasievoll und feminin, und das ausgerechnet in der Tristesse und Armut einer Arbeiterfamilie im Glasgow der 80er-Jahre, mit einem Vater, der virile Potenz über alles stellt. Shuggies Herz gehört der Mutter, Agnes, die ihn versteht und der grauen Welt energisch ihre Schönheit entgegensetzt, Haltung mit makellosem Make-up, strahlend weißen Kunstzähnen und glamouröser Kleidung zeigt - und doch Trost immer mehr im Alkohol sucht. Sie zu retten ist Shuggies Mission, eine Aufgabe, die er mit absoluter Hingabe und unerschütterlicher Liebe Jahr um Jahr erfüllt, bis er schließlich daran scheitern muss. Ein großer Roman über das Elend der Armut und die Beharrlichkeit der Liebe, tieftraurig und zugleich von ergreifender Zärtlichkeit.

Diskussionen zu "Shuggie Bain: Booker Preis 2020"

Format:Gebundene Ausgabe
Seiten:496
Verlag: Hanser Berlin
EAN:9783446271081

Rezensionen zu "Shuggie Bain: Booker Preis 2020"

  1. 4
    11. Nov 2021 

    Eine Kindheit im Schatten...

    Shuggie ist anders, zart, fantasievoll und feminin, und das ausgerechnet in der Tristesse und Armut einer Arbeiterfamilie im Glasgow der 80er-Jahre, mit einem Vater, der virile Potenz über alles stellt. Shuggies Herz gehört der Mutter, Agnes, die ihn versteht und der grauen Welt energisch ihre Schönheit entgegensetzt, Haltung mit makellosem Make-up, strahlend weißen Kunstzähnen und glamouröser Kleidung zeigt - und doch Trost immer mehr im Alkohol sucht. Sie zu retten ist Shuggies Mission, eine Aufgabe, die er mit absoluter Hingabe und unerschütterlicher Liebe Jahr um Jahr erfüllt, bis er schließlich daran scheitern muss. Ein großer Roman über das Elend der Armut und die Beharrlichkeit der Liebe, tieftraurig und zugleich von ergreifender Zärtlichkeit. (Klappentext)

    Kinder lieben ihre Eltern. Immer. Egal was geschieht, das Gefühl ist unverbrüchlich. So auch bei Shuggie, dessen Lebensgeschichte der des Autors entliehen ist. Die Mutter ist Alkoholikerin.

    Ich bin nun am Ende des Romans angelangt - und die Erleichterung ist grenzenlos. Endlich kann ich dieses Buch zuschlagen, das mich an den Rand des Erträglichen geführt hat. Erleichterung nicht deswegen, weil es schlecht geschrieben ist - sondern so gut. So eindringlich, so unerträglich, so voller emotionaler Wucht, obwohl es eine leise Erzählung ist. Wohl nicht zu Unrecht hat Douglas Stuart für sein Debüt den Booker Preis 2020 gewonnen...

    Shuggie ist ein zarter Junge, der früh lernt, sich möglichst unsichtbar zu machen. Als jüngstes Kind hat er nicht die Möglichkeit, die perfiden Mechanismen des Alkohols, der Sucht zu erkennen - er ist dem Ganzen hilflos ausgeliefert. Er wächst im sozialen Brennpunkt auf, wo die Familie ohne Vater sehr isoliert lebt. Jeder in der Gegend ist sich selbst der Nächste, es gilt die Macht des Stärkeren, und jeder muss selbst zusehen, dass er sich dabei nicht verliert.

    Doch Shuggie ist ein Junge, der lieber mit Puppen als mit Autos spielt, und der körperlicher Gewalt nichts entgegenzusetzen hat. Sein Credo ist Aushalten. Ob es nun das Mobbing der anderen Kinder ist, die Erniedrigung seiner Mutter in diversen Situationen, die Trunksucht, die bei allem guten Willen der Mutter stets als Sieger hervorgeht, der Hunger, weil kein Geld mehr da ist um Essen zu kaufen, weil die Bierdosen wichtiger sind, Gewalt, Ausbeutung, Verwahrlosung und letztlich auch Missbrauch - hier präsentiert sich ein brutales Potpourri an Abscheulichkeiten, die der/die Leser:in mit Shuggie auszuhalten lernen muss.

    Stellenweise ist das kaum zu ertragen, auch deshalb, weil Shuggie fast an keiner Stelle wütend wird, sondern traurig und resigniert, immer wieder auch hoffnungsvoll, auch wenn andere ihm prophezeien, dass der Alkohol letztlich immer gewinnen wird. Die Sorge um seine Mutter, der Versuch sie zu unterstützen, zu zeigen, dass er sie liebt, die Verzweiflung, dass die Liebe nicht ausreicht, um sie von der Sucht zu heilen - der Rollenausch, weil er die Verantwortung übernimmt, die die Mutter eigentlich ihrem Kind gegenüber wahren sollte... Co-Abhängigkeit in ihrer reinsten Form.

    Allein von Berufs wegen weiß ich um solche Umstände, in denen Shuggie groß geworden ist: sozialer Brennpunkt, alkoholsüchtige und oft auch psychisch erkrankte Eltern, Vernachlässigung der Kinder, das Recht des Stärkeren schon von klein auf usw. Aber die emotionale Seite, die Ohnmacht, die Hilflosigkeit, die Umkehrung der Rollen, die gnadenlose Einsamkeit, das Gefühl, für immer im System gefangen zu sein, das sich-notgedrungen-Arrangieren mit der Situation, existentielle Angst z.B. vor Hunger oder Obdachlosigkeit, weil das ganze Geld versoffen wird, die Demütigungen - diese ganze emotionale Wucht hat dieser leise, graue, brutale, niederschmetternde Roman spürbar vermittelt.

    Aber Shuggie hat überlebt.

    Weshalb dann nicht die volle Punktzahl? Nun, das ist (vermutlich) der Übersetzung geschuldet. Durch die Ansiedlung im sozialen Brennpunkt hat der Autor offenbar die Sprache mit Slang durchsetzt, was das Ganze sicher authentisch wirken lässt. Leider ist dies im Deutschen meiner Meinung nach weniger gut gelungen - zwischen Ruhrpott-Phrasen, Berliner Schnauze und norddeutschen Einsprengseln war alles dabei, was allenfalls ungewollt komisch war, mich aber über weite Strecken störte.

    Alles in allem ein eindringlicher Roman über eine Kindheit im Schatten des Alkohols, über eine Gesellschaftsstudie und ein Zeitportrait - eine gelungene Mischung, die emotional sehr fordert und mir wohl noch lange im Gedächtnis haften bleiben wird...

    © Parden

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  1. Eine verlorene Kindheit

    Im Glasgow der 1980er-Jahre wächst der kleine Shuggie Bain in einer Arbeitersiedlung auf, in die er nicht hineinpasst. Er hasst Fußball, liebt das Tanzen - und seine Mutter Agnes, die dem Alkohol verfallen ist. Mit unbändigem Willen versucht er, sie zu retten und scheitert doch immer wieder. Erst nach und nach wird ihm klar, dass offenbar alle Mühe umsonst ist...

    "Shuggie Bain" ist der Debütroman von Douglas Stuart, der dafür im Jahr 2020 den Bookerpreis gewann. Es ist ein in allen Belangen unbequemer, stark autobiografisch geprägter Roman. Die Leser:innen begleiten Shuggie auf dem Weg zum Erwachsenwerden und müssen dabei einiges erdulden. Doch wie mag es erst dem kleinen Jungen dabei ergehen? Von den Kindern seiner Siedlung als "Schwuchtel" angefeindet, von der trinkenden Mutter vernachlässigt, vom abwesenden Vater ignoriert - Shuggie ist nahezu auf sich allein gestellt, würde es nicht noch seinen älteren Bruder Leek geben, der ihm zumindest zeitweise eine Stütze ist.

    Doch liegt die Hauptlast beim kleinen Bruder. Shuggie macht es sich zur Lebensaufgabe, die Mutter vor dem Alkohol und allem Bösen zu retten und verliert dabei vor allem sich selbst und seine Kindheit. Es ist eine einseitige und schmerzhafte Liebe. Während der Junge alles investiert, ist Agnes nur in äußerst seltenen Momenten ein Rückhalt für ihn. Ansonsten liebt sie vor allem sich und den Alkohol und manchmal noch Männer, die sich jedoch allesamt als gnadenlose Enttäuschung für Agnes und die Leser:innen entpuppen.

    Mit zunehmender Romandauer verlässt sich Stuart immer stärker auf die Perspektive des titelgebenden kleinen Helden. Während gerade zu Beginn Agnes doch sehr im Mittelpunkt steht, verlagert sich dieses Gewicht fast unmerklich in Richtung des Kindes. "Shuggie Bain" macht es einem nicht leicht, gemocht zu werden. Die Erwachsenenfiguren sind grausam, gemein und nahezu unerträglich. Die Kinder sind mit wenigen Ausnahmen kaum besser. Einzig Shuggie selbst bringt den Roman immer wieder zum Leuchten. Und ein paar vereinzelte komische Momente.

    Dennoch herrscht über weite Strecken eine große Trostlosigkeit vor. Die Ereignisse, die Shuggie erlebt, sind dabei so schrecklich und traurig, dass ich mich von ihrer Fülle zeitweise fast erschlagen fühlte und sich dadurch eine gewisse Abstumpfung bei mir entwickelte. Ich haderte mit mir selbst, konnte diese "ergreifende Zärtlichkeit", die der Klappentext verspricht, gar nicht entdecken. Auch der - mit Sicherheit schwer zu übersetzende - schottische Arbeiterslang trug dazu bei, dessen Lektüre gerade zu Beginn des Buches doch eine ganz schöne Herausforderung ist. Zwischenzeitlich sehnte ich sogar das Ende des Romans herbei.

    Nur um nach der letzten Seite des Buches eine plötzliche Leere zu spüren und eine Traurigkeit, die mir sagte, dass der gemeinsame Weg mit Shuggie nun tatsächlich beendet ist. Einen großen Anteil daran hatten die letzten beiden Teile des Romans, die voller bewegender Momente sind und einen Shuggie noch stärker ins Herz schließen lassen. Daran erkannte ich, dass Douglas Stuart doch nicht so viel falsch gemacht haben kann. Denn so unbequem, trostlos und schrecklich "Shuggie Bain" zwischenzeitlich ist - es ist ein Roman, den man genauso wenig vergisst wie die Figur Shuggie selbst.

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  1. Wenn der Schmerz einfach nicht nachlässt...

    Der Klappentext und die optische Aufmachung haben mich nicht auf das vorbereiten können, was ich letztlich geboten bekam, denn es wird alles andere als leicht.

    In der Geschichte geht es um Hugh, der von allen nur Shuggie genannt wird. Er wächst in den 80ern in einem Arbeiterviertel in Glasgow auf und ist täglich mit Armut, Gewalt und Süchten konfrontiert. Was macht es mit einem Kind, wenn die Mutter sich nicht richtig kümmern kann?

    Trotz aller Umstände kann man sich in die agierenden Figuren einfühlen und selbst die alkoholkranke Agnes verstehen. Das Leben hat ihr nicht viel Gutes mitgegeben. Stuart beschreibt ihre Sucht so bildlich und intensiv, dass man nicht nur die Gewalt spürt, sondern auch unangenehme Gerüche in der Nase hat.

    Shuggie möchte man einfach nur an die Hand nehmen und von dem Leben, was er führen muss, entführen. Es bricht einem beinahe das Herz, wenn er alles für seine Mutter tut und auch anderen versucht zu helfen. Er denkt an alle, nur an sich nicht.

    Zudem bringt der Autor sehr gut zur Geltung wie Kinder verrohen, wenn sie in einer ungesunden Umgebung aufwachsen. Wie bereits die Ärzte so schön sangen: "Gewalt erzeugt Gegengewalt".

    Mir hat der Roman richtig gut gefallen, auch wenn ich sehr lange für die Lektüre brauchte, aber eben nicht weil es schlecht geschrieben ist, sondern weil die Handlung so hart ist, dass man teilweise nur mit Kloß im Hals liest.

    Fazit: Wer auf unbequeme Geschichten steht, die das wahre Leben abbilden mit allem Schrecken, der kommen kann, der wird dieses Buch lieben. Von mir gibt es eine klare Leseempfehlung. Klasse!

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  1. Toxische Spirale der Sucht

    Glasgow 1980, die Familie Bain lebt in prekären Verhältnissen. Agnes Bain hat zwei Kinder aus erster Ehe. Ihr Mann „Big Shug“ ist Taxifahrer und einer der nichts anbrennen lässt. Shuggie ist der gemeinsame Sohn. Alle hausen sie bei Agnes‘ Eltern, die es nicht verwunden haben, dass Agnes ihren soliden katholischen Mann gegen einen unzuverlässigen Draufgänger eingewechselt hat. Nichts von dem was sich Agnes erträumt hat, ist eingetreten. Als die Familie von Glasgow in den tristen Bergbauort zieht und Shug Agnes und die Kinder im Stich lässt, wendet sich Agnes immer mehr und mehr dem Alkohol zu.

    „Shuggie Bain“ und der Autor Douglas Stuart haben eine ähnliche Geschichte. In dem Roman verarbeitet der schottische Autor seine eigene Kindheitsgeschichte. Und das mit einer Eindringlichkeit und berührender Sprache. Nicht von ungefähr hat Stuart für dieses Buch den Man Booker Prize 2020 erhalten.

    Es ist trist, es ist schonungslos, es ist berührend. Aber es erschlägt einen nicht mit der Betroffenheitskeule. "tell it like it is" und das sprachlich gekonnt, wenn Stuart erzählt. Mit dem Versuch der Übersetzerin den Glasweger Ton zu treffen habe ich mich arrangiert.

    „Glück is dat Einzige, was uns ausse Bredullje hilft.“

    Vom Glück kann keine Rede sein, mitten in der Ära Thatcher. Die Menschen trifft die volle Härte dieser Regierung einer strikten Wirtschaftspolitik. Arbeitslosigkeit, mangelnde Ausbildung, keine finanzielle Absicherung, schlicht Chancenlosigkeit, die vor allem Frauen und Kinder betrifft. Das wöchentliche Hangeln von „Stütze zu Stütze“. Agnes Bain gerät in einen Kreislauf von Alkohol, Depression, sozialer Isolation und ein Umfeld, das ganz genauso ist.

    Im Grunde interessiert sich niemand für Menschen wie Agnes. Sie sind peinlich, unangenehm, nichts wo man anstreifen möchte, sprichwörtlich. Mit ihnen ist kein Staat zu machen. In der Ära Thatcher bestimmt nicht. Selbst in der Familie ist sich jeder selbst der Nächste. Die Tochter Catherine entkommt früh durch Heirat den Verhältnissen und zieht nach Südafrika. Alexander vergibt sich die Chance auf ein Kunststudium, schafft aber letztlich auch den Absprung. Der einzige Halt, der Agnes bleibt ist Shuggie. Schon als Kind lernt der Junge mit den Stimmungsschwankungen der Mutter umzugehen, Geld auf die Seite zu legen, damit Agnes nicht alles in Bier und Schnaps umsetzt. Dazu ist Shuggie „anders“, feinfühlig, auch körperlich nicht. „männlich genug“. Auf seinen schmalen Schulten lastet eine große Verantwortung für seine alkoholkranke Mutter. Es ist ein Roman über eine sehr intensive Mutter-Sohn-Beziehung. Letztlich ist aber auch die allergrößte Liebe eines Kindes zur Mutter machtlos gegen die toxische Spirale der Sucht.

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  1. Toxisch, teuflisch, süchtig

    Klappentext:

    „Shuggie ist anders, zart, fantasievoll und feminin, und das ausgerechnet in der Tristesse und Armut einer Arbeiterfamilie im Glasgow der 80er-Jahre, mit einem Vater, der virile Potenz über alles stellt. Shuggies Herz gehört der Mutter, Agnes, die ihn versteht und der grauen Welt energisch ihre Schönheit entgegensetzt, Haltung mit makellosem Make-up, strahlend weißen Kunstzähnen und glamouröser Kleidung zeigt - und doch Trost immer mehr im Alkohol sucht. Sie zu retten ist Shuggies Mission, eine Aufgabe, die er mit absoluter Hingabe und unerschütterlicher Liebe Jahr um Jahr erfüllt, bis er schließlich daran scheitern muss. Ein großer Roman über das Elend der Armut und die Beharrlichkeit der Liebe, tieftraurig und zugleich von ergreifender Zärtlichkeit.“

    Was hier so „weich“ dargestellt wird, entpuppt sich beim lesen als eine extrem toxische Geschichte, die nach Alkohol regelrecht stinkt. Autor Douglas Stuart hat eine enorme, kraftvolle und extrem intensive Geschichte verfasst, dessen Hauptprotagonist „Shuggie“ besser nicht hätte beschrieben sein können. Gleich vorweg: das Buch hat mich nicht so umgehauen, wie es andere Bücher dieses Jahr bereits getan haben, aber, und nun kommt das große ABER: man liest dieses Buch , taucht in die Seele von Shuggie und Mutter Agnes ein und will eigentlich garnicht weiter lesen. Warum? Die Worte, die Stuart hier wählt sind heftig aber dennoch klar gesetzt. Punktgenau beschreibt er Situationen die man eben lieber nicht „sehen“ will, die man gern verdrängt, die gern hinter den Kulissen spielen könnte und genau das ist die Krux bei dieser Geschichte: man will eigentlich nicht und ist dennoch gefesselt und liest immer weiter.

    Die Story ist für weltoffenen Menschen gedacht. Warum? Nur wer mit offenen Augen und Verstand durch diese Welt geht, wird hier nicht den Schreck seines Lebens erhalten. Stuart beschreibt eine sehr gesellschaftskritische Zeit, eine Stadt, in der der Staub alles und jeden überdeckt und die Tristesse bei jedem Bürger in einer Art Wohngemeinschaft wohnt. Douglas Stuart nimmt kein Blatt vor den Mund und hat mit seiner klaren Wortwahl es dennoch geschafft, Situationen nicht immer direkt auszusprechen, sondern gekonnt durch verschiedenen Faktoren den Leser „aufzudrängen“. Dieses aufdrängen ist auch notwendig, sonst verstehen wir die Story rund um Shuggie nie…Diese Art von Schreibstil war dafür perfekt gewählt und hat mich zutiefst beeindruckt. Hier und da gab es ein paar Längen, ein paar Situationen, die einem das Blut in den Adern gefrieren lassen oder die so nach Alkohol stinken, das einem beim lesen schlecht wird. Das dieses Buch einen Preis erhalten hat, ist mir dennoch ein Rätsel. Wie gesagt, wer mit einem offenen und wachen Blick die Welt sieht, entdeckt hier nichts Neues, sondern eine Story, die unschön ist, aber eben nunmal überall spielen könnte. Von einem Leben in der Gosse liest niemand gern, aber dennoch ist es allgegenwärtig und ja, da gebe ich Douglas Stuart recht, auch darüber muss gesprochen werden. Nichts darf einfach so verharmlost werden oder einfach „tot-geschwiegen“ werden wenn es doch da ist.

    Eine sehr beeindruckende Geschichte, der ich 4 sehr gute Sterne gebe, die aber dem äußert gelungenen Schreibstil und weniger der Story vergeben werden. Selten so eine heftige und toxische Geschichte gelesen, die nachhallt und den Leser immer wieder zum nachdenken anregt. Beeindruckend, aber mit Sicherheit nicht jeder Lesers Lieblingsbuch….

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  1. 5
    18. Sep 2021 

    Intensives Leseerlebnis

    Glasgow war von Margaret Thatchers rigoroser Wirtschaftspolitik besonders stark betroffen. Zahlreiche Stahlwerke und Werften wurden geschlossen und aus ehemals stolzen Arbeitern wurde eine Heerschar frustrierter Arbeitsloser. Ganze Stadtviertel versanken im Elend. Armut, Gewalt und Alkoholismus bestimmten den Alltag.
    In diesem Glasgow der 1980er Jahre ist Douglas Stuarts Debutroman angesiedelt. Hier lebt die schöne Agnes Bain mit ihrem zweiten Ehemann Big Shug, den beiden Kindern Catherine und Leek aus erster Ehe und dem gemeinsamen Sohn Shuggie. Agnes hat vor Jahren, zum Entsetzen ihrer Eltern, ihren ersten Mann verlassen. Das Leben an der Seite des braven Katholiken war ihr zu langweilig. Sie hatte sich mehr Spaß und Glamour erträumt.
    Doch die Ehe mit Shug hat nicht mehr Farbe in ihr Dasein gebracht. Shug hat zwar Arbeit als Taxifahrer, doch er ist gewalttätig und betrügt sie mit anderen Frauen.
    Als Shug eine eigene Wohnung in Aussicht stellt - die Familie lebt noch bei Agnes‘ Eltern - schöpft Agnes neue Hoffnung. Aber die neue Heimat erweist sich als beengte Unterkunft in einer heruntergekommenen ehemaligen Arbeitersiedlung am Rande der Stadt. Und Shug zieht garnicht erst ein, sondern verlässt die Familie.
    Agnes hat schon immer gern getrunken, wie alle in diesem Umfeld, aber mehr zum Vergnügen. Nun aber trinkt sie, um ihr Elend zu vergessen. Die Kinder leiden unter den Stimmungsschwankungen ihrer Mutter. Catherine, die Älteste, verlässt als erste die Familie. Sie heiratet früh und zieht nach Südafrika. Leek, ein introvertierter und künstlerisch veranlagter Junge, zieht sich immer mehr in sich selbst zurück. Bis ihn eines Tages Agnes in einem ihrer berüchtigten Wutanfälle aus dem Haus wirft.
    Nun bleibt nur noch Shuggie übrig. Er liebt seine schöne Mutter über alles und versucht ihr beizustehen. Die Rollen sind vertauscht. Das Kind wird zum Hüter und Beschützer seiner Mutter und lernt früh mit ihren Stimmungsschwankungen umzugehen. Aber auch er kann die Abwärtsspirale, in die sich Agnes mit ihrer Alkoholsucht gebracht hat, nicht aufhalten. Kleine Hoffnungsschimmer tauchen dazwischen auf, doch darauf folgt unabwendbar der nächste, immer tiefere Absturz.
    Dabei bräuchte Shuggie selbst Hilfe. Schon als er noch klein ist, spüren die anderen, dass er anders ist als sie. Der Junge ist sensibel, spielt lieber mit Puppen und tanzt mit seiner Mutter. Von den Mitschülern wird er deshalb als „ Schwuchtel“ verhöhnt. Shuggie versteht nicht, was gemeint ist. Aber: „ Er spürte, dass etwas mit ihm nicht stimmte. Etwas in ihm fühlte sich falsch an, falsch zusammengebaut. Es war, als könnten es alle sehen, und er war der Einzige, der nicht wusste, was los war. Etwas war bei ihm anders als bei den anderen, und deswegen war es falsch.“
    Der Roman wird aus der Perspektive von Shuggie erzählt. Zu Beginn ist er ein 5jähriges Kind, am Ende knapp 16 Jahre alt. Auch wenn Agnes nach objektiven Maßstäben als Mutter versagt hat, so ist der Roman keineswegs eine Anklage. Im Gegenteil! Er handelt von einer ganz intensiven Mutter- Sohn-Beziehung.
    „ Bei den Mathehausaufgaben war sie nicht zu gebrauchen, und an manchen Tagen verhungerte er regelrecht, bevor er von ihr eine warme Mahlzeit bekam, aber als Shuggie sie jetzt ansah, wusste er, dass genau das hier ihre Stärke war. Jeden Tag schminkte und frisierte sie sich und stieg mit hoch erhobenem Kopf aus ihrem Grab. Wenn sie sich im Suff blamiert hatte, war sie am nächsten Tag aufgestanden, hatte ihren besten Mantel angezogen und war der Welt entgegengetreten. Wenn ihr Magen leer war und ihre Kinder hungrig, machte sie sich zurecht und ließ sich vor der Welt nichts anmerken.“
    Agnes hat ihrem Sohn trotz allem eine innere Stärke vorgelebt, eine Stärke, die dem älteren Shuggie die Kraft gab, sich aus seinem Milieu zu befreien. Seine Mutter konnte er nicht retten, aber sich selbst.
    „ Shuggie Bain“ war für mich ein ganz intensives Leseerlebnis. Douglas Stuart schildert in unzähligen Episoden, was Alkoholismus für den Einzelnen und für sein Umfeld bedeutet. Er schont dabei den Leser nicht, sondern zeichnet die Auf und Abs in drastischen Szenen. Dabei vermag es der Autor, die Atmosphäre unglaublich dicht und sinnlich zu beschreiben und sich voller Empathie in seine Figuren einzufühlen. Erträglich wird das Ganze vor allem durch die bildhafte Sprache.
    Besonders hervorheben muss man in diesem Fall auch die Leistung der Übersetzerin Sophie Zeitz, die den Glasgower Arbeiterslang in ein nicht regional geprägtes Proletarier- Deutsch übertragen hat.
    Douglas Stuart hat den Roman eng an seine eigene Biographie angelehnt. Er wuchs selbst mit einer alkoholkranken Mutter in Glasgow auf. Diese Authentizität ist im ganzen Buch zu spüren. Wie es der Autor geschafft hat, zu einem anerkannten Modedesigner in New York zu werden, würde ich gerne in seinem nächsten Buch lesen.
    Für sein Debut hat er 2020 den Man Booker Prize erhalten, völlig verdient. „ Shuggie Bain“ ist ein Buch, das mich bis zur letzten Seite in seinen Bann gezogen hat und dem ich viele Leser wünsche.

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  1. Zurecht ausgezeichnet

    „Dum spiro spero.“ – „Solange ich atme, hoffe ich.“

    Auch wenn dieses Zitat aus einem anderen Buch stammt, fand ich es geradezu passgenau auf „Shuggie Bain“, den mit dem Booker Price 2020 ausgezeichneten Debüt-Roman (erschienen 2021 im Hanser-Verlag und kongenial übersetzt von Sophie Zeitz) von Douglas Stuart, zugeschnitten.

    Denn trotz aller Tristesse, die die Geschichte um die alkoholkranke Agnes mit sich bringt – Hoffnung gibt es in jeder Situation – sei sie noch so vertrackt und aussichtslos. Hört sich ambivalent an, ich weiß. Und trotzdem: nicht umsonst heißt es immer „Die Hoffnung stirbt zuletzt.“

    In vorliegendem Roman erzählt der Autor die Geschichte seiner Mutter; allerdings keine reine Biografie, sondern fiktional. Wobei die Grenzen so fließend sind, dass die geneigte Leserschaft nicht unbedingt erkennt, was Douglas Stuart hinzugedichtet hat oder was tatsächlich seiner Erinnerung an die trostlosen Jahre im noch trostloseren Glasgow der 1980er-Jahre (also der Thatcher-Ära in Großbritannien) entsprungen ist.

    Die Zeit ist geprägt von hoher Arbeitslosigkeit, von Trostlosigkeit, von Gewalt, von Alkohol – eine Spirale in die untersten Sphären der Gesellschaft. Und mittendrin Agnes; Mutter von drei Kindern, von einer (zwar) langweiligen, aber guten Ehe „abgerutscht“ in eine unzumutbare Beziehung zu einem fürchterlich agierenden Mistkerl (sorry, was Anderes fällt mir zu Shug Bain nicht ein), der sie nach einem Umzug in eine (Sozial-)Siedlung voller Alkoholiker sitzen lässt. Und trotzdem gibt es immer jemanden an ihrer Seite, der sie nicht „loslässt“, der sie bedingungslos liebt: ihr Sohn Shuggie, der wegen seiner „Andersartigkeit“ von allen in seiner Schule verachtet, gehänselt und unterdrückt wird. Er sorgt sich um seine Mutter, steckt sein eigenes Leben „zurück“, um für sie da zu sein – im Gegensatz zu seinen Halbgeschwistern Catherine und Leek, die sich im Lauf der Zeit „absetzen“ und so den Sprung in die Unabhängigkeit wagen. Auch wenn Leek Shuggie aus seiner „Blase“ befreien will und sagt: „Mach nicht denselben Fehler wie ich. Sie wird nicht wieder gesund. Wenn die Zeit reif ist, musst du gehen. Das Einzige, was du tun kannst, ist dich selbst zu retten.“ (S. 410)

    Nun, Agnes überlebt ihre Alkoholsucht nicht und trotzdem blitzt am Ende der (bisherigen) Geschichte (ich hoffe, der Autor erzählt in einer „Fortsetzung“ wie es mit Shuggie weitergeht) ein Silberstreif am Hoffnungshimmel auf: Shuggie findet Anerkennung in Form einer „Leidensgenossin“, die ihn annimmt wie er ist: anders und einzigartig.

    Selten hat mich eine Mutter-/Sohn-Beziehung so berührt wie diese.

    Absolut verdienter Preisträger-Roman und somit eine glasklare Leseempfehlung und 10 von 5*.

    ©kingofmusic

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  1. Die Schatten der Thatcher-Regierung

    Mit dem einjährigen Bergarbeiterstreik 1984/85 erreichte der Widerstand gegen die Politik der britischen Premierministerin Margaret Thatcher einen Höhepunkt. Bis heute werfen die Auswirkungen des Thatcherismus besonders in Schottland lange Schatten, denn die schlimmste Rezession seit den 1930er-Jahren zerstörte ein Fünftel der industriellen Basis und führte zu einem drastischen Anstieg von Arbeitslosigkeit, Alkoholismus, Drogensucht, psychischen Erkrankungen, Gewalt und Selbstmordrate. Im Glasgower Stadtteil East End sank die Lebenserwartung um elf Jahre.

    Douglas Stuart wuchs während dieser Zeit in Glasgow auf. Sein Debütroman Shuggie Bain, für den er 2020 mit dem Booker Prize ausgezeichnet wurde, ist zwar nicht autobiografisch, wurde jedoch von eigenen Erfahrungen von der Erinnerung an seine alkoholabhängige Mutter inspiriert, die er nicht retten konnte.

    Die Schattenseiten von Glasgow
    Shuggie Bain stammt aus der zweiten Ehe seiner Mutter Agnes, die zum Entsetzen ihrer katholischen Eltern mit ihren beiden älteren Kindern aus der Ehe mit einem verlässlichen, aber langweiligen Katholiken ausbricht und mit dem Protestanten Shug wieder bei ihren Eltern in eine Hochhauswohnung im Glasgower Stadtteil Sighthill einzieht:

    "Für die Siedlung hatte man die Familien aus den alten Glasgower Mietskasernen geholt, und alles sollte anders sein, modern, eine große Verbesserung. Aber in Wirklichkeit war die Siedlung zu brutal, zu spartanisch, zu schlecht gebaut, um besser zu sein." (S. 94)

    Shug fährt nachts Taxi, geht fremd und ist gewalttätig. Agnes trinkt zwar schon lang, doch erst als Shug sie 1982 in die dystopische Bergarbeitersiedlung Pithead am Rande von Glasgow verschleppt und sie gleichzeitig verlässt, gerät ihr Konsum von Special Brew und Wodka aus Teetassen völlig außer Kontrolle.

    Unaufhaltsame Abwärtsspirale
    Nun müssen Agnes und die Kinder sich allein durchschlagen. Shuggies ältere Halbschwester Catherine sucht als erste das Weite, den künstlerisch begabten Halbbruder Leek wirft Agnes im Suff hinaus, und so ist Shuggie mit nur dreizehn Jahren alleine für sie verantwortlich: als Beichtvater, Pfleger, als Schutzschirm gegen trinkende und sexuell übergriffige Nachbarinnen und Nachbarn und beim Beiseiteschmuggeln von Geld für Essen. Dabei bräuchte er selbst Hilfe, denn so wie Agnes mit ihrem Streben nach Schönheit und Gepflegtheit Außenseiterin in diesem Milieu bleibt, gehört er als schwuler Junge nicht dazu.

    Keinen Tritt auf der Leiter abwärts spart Douglas Stuart aus. Überwiegend wird die trostlose Geschichte in personaler Erzählform aus der Sicht des 1981 fünfjährigen, am Ende siebzehnjährigen Shuggie erzählen. Die Dialoge im Arbeiterslang klingen authentisch. Shuggies innige, zerstörerische Liebe zu seiner dysfunktionalen Mutter, seine Bewunderung für ihre Schönheit und Würde und seine Scham über die eigene Hilflosigkeit sind nachhaltig erschütternd.

    Preiswürdig, aber trotzdem verbesserungsfähig
    Obwohl mich die dramatischen gesellschaftlichen Umstände sehr interessierten, hätte mich der Autor bei den sich wiederholenden Alkoholabstürzen beinahe verloren, denn es setzte eine gewisse Ermüdung und bedauerlicherweise Abstumpfung ein. Zwar hat Douglas Stuart, wie er sagt, das ursprüngliche Manuskript von 900 engbedruckten Seiten extrem gekürzt, doch hätte eine weitere Straffung aus meiner Sicht den Roman noch eindringlicher gemacht. Verstehen kann ich die Ausführlichkeit trotzdem, hängen doch an vielen Episoden sicherlich Erinnerungen.

    Wie Douglas Stuart es nach einer Kindheit in diesem Milieu und früh verwaist zu einem Studium am Londoner Royal College of Art und einer Karriere als Modedesigner in New York brachte, wäre sicher ein eigenes Buch wert. Vielleicht erfahren wir es irgendwann, denn inzwischen widmet er sich ganz dem Schreiben und will zeitweise nach Schottland zurückkehren.

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  1. 5
    13. Sep 2021 

    Eine Kindheit zwischen Armut und Alkohol

    Glasgow, Anfang der 80er. Der fünfjährige Shuggie Bain lebt mit seinen Eltern und seinen beiden Halbgeschwistern bei den Großeltern in deren 3-Zimmer-Wohnung. Sein Vater Shug, ein stadtbekannter Schürzenjäger, fährt Nachts Taxi, seine geliebte schöne Mutter Agnes ertränkt ihren Frust in Alkohol. Als Shug seine Familie in eine Wohnung in einer Bergarbeitersiedlung außerhalb von Glasgow einquartiert und danach verschwindet, scheint Agnes‘ Abstieg nichts mehr aufzuhalten.

    Zehn Jahre umfasst der erzählte Zeitraum, in dem Shuggie zu einem jungen Mann heranwächst. Sein Leben ist bestimmt vom Alkohol, dem seine Mutter immer mehr verfällt und der ihn bereits als Kind mit acht, neun Jahren zu ihrem Beschützer und Betreuer werden lässt. Seine älteren Geschwister versuchen Abstand zu nehmen und mit 14 Jahren ist Shuggie allein mit Agnes, die das Kindergeld vom Dienstag meist schon am gleichen Tag für Alkohol wieder ausgegeben hat.

    Es ist eine deprimierende Zeit, nicht nur in dieser Familie. Die 80er Jahre sind geprägt durch Thatchers Reformen, die ganze Stadtteile in die Arbeitslosigkeit stürzten, worauf der Alkohol- und Drogenmissbrauch so um sich griff, dass er im ganzen Stadtbild sichtbar wurde und das Schlechte im Menschen zum Vorschein brachte: Überfälle, Vergewaltigungen, Missbrauch, Mord. Shuggie und Agnes bekommen das am eigenen Leib zu spüren: Jeder ist sich selbst der Nächste und der so wenig männliche Junge ist als Opfer ebenso prädestiniert wie seine schöne, fast immer betrunkene Mutter. Dennoch versucht er sie stets voller Liebe und Hingabe zu beschützen und zu versorgen, was ihm angesichts seines jungen Alters vergleichsweise gut gelingt.

    Es ist eine traurige und düstere Geschichte, die nur wenige Lichtblicke aufweist und drastisch vor Augen führt, was Alkoholismus nicht nur bei Abhängigen, sondern insbesondere bei deren Kindern anrichtet. Und trotzdem ist es immer wieder auch eine Lektüre voller Wärme und Mitgefühl, die man nur ungern aus der Hand legt, was an Douglas Stuarts außergewöhnlicher Sprache liegt. Er schafft bemerkenswerte Bilder, die auch das Grauen in Schönheit verwandeln.

    "…, aber als sie jetzt neben Leek stand, ließ sie die bernsteinfarbene Süße des Starkbiers in ihr Herz laufen." Seite 229

    "Agnes packte ihn am Pulloverkragen. Shug griff nach seinem Geldgürtel und küsste sie energisch mit der Zunge. Er musste die kleinen Knochen ihrer Hand zerquetschen, damit sie losließ. Sie hatte ihn geliebt, und er hatte sie vollkommen brechen müssen, bevor er sie endgültig verließ. Agnes Bain war ein zu kostbares Exemplar, um sie der Liebe eines anderen zu überlassen. Er durfte nicht mal Scherben übrig lassen, die ein anderer später einsammeln und kleben könnte." Seite 131

    Ein beeindruckendes Buch, das zu Recht den Booker Preis 2020 erhalten hat.

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  1. Die bedingungslose Liebe eines Kindes

    Douglas Stewart gewann im letzten Jahr mit Shuggie Bain den renommierten Booker Prize. Die Erwartungen der Leser fallen daher hoch aus, in meinem Fall kann ich sagen, dass ich nicht enttäuscht wurde. Im Gegenteil, der Roman bewegt, ist angenehm zu lesen, und klingt nach. Ein gerechtfertigter Sieg.

    Shuggie wächst im Glasgow der 80er auf. Seine Mutter Agnes ist mit ihrem zweiten Mann Shug, der Vater von Shuggie, und den beiden älteren Geschwistern aus der ersten Ehe, wieder bei ihren Eltern eingezogen. Es sind beengte Verhältnisse, kaum jemand hatte zu dieser Zeit in solchen Vierteln eine lohnende Tätigkeit. Alkohol floss in Mengen, auch Agnes greift regelmäßig zur Flasche.
    Shuggie ist ein Junge, der sehr feminin wirkt, er ist sehr sensibel und liebt seine Mutter abgöttisch. Agnes lässt Shuggie für sich tanzen, zieht ihn hübsch an, es wirkt beinahe so, als ob er sie bei Laune halten muss, wenn sie wieder einmal wütend oder traurig ist, weil ihr Mann Shug zu lange Taxi fährt, oder sich mit einer Geliebten vergnügt.
    Agnes hat hohe Ansprüche an sich, sie will immer makellos aussehen. Sie legt viel Wert darauf, sich gepflegt auszudrücken, mag hübsche Dinge, die einfach aus dem Katalog bestellt und abbezahlt werden. Doch glücklich macht sie nichts davon, der Alkohol hilft dabei zu vergessen. Die Aussichtslosigkeit ihren Mann Shug nur an sich zu binden, wird durch ihre Alkoholsucht nur verstärkt.
    Als Agnes eines Tages ein Zimmer in Brand steckt und dabei auch den kleinen Shuggie gefährdet, reicht es Shug, und zieht mit ihr in eine Siedlung namens Pithead. Die Zeche dort wurde vor ein paar Jahren geschlossen, die Männer haben fast alle keine Arbeit, es ist heruntergekommen, und das schlimmste....Shug setzt Agnes dort allein ab mit den Kindern, er trennt sich von ihr. Nun fehlt ihr nicht nur der Ehemann, sondern auch die Hilfe und Unterstützung durch die Eltern.

    Ab hier bewegt sich das Buch durch ein auf und ab an Gefühlen. Höhen lösen Tiefen ab. Shuggie steht immer im Mittelpunkt des ganzen. Seine ältere Schwester verlässt das Heim recht schnell um zu heiraten, geht nach Afrika, ist ab sofort keine Stütze mehr für Shuggie und seinen älteren Bruder Leek.

    Stewart lässt den Albtraum, den Kinder alkoholkranker Eltern erleben, Wahrheit werden. Da seine Handlung an seine eigenen Erlebnisse angelehnt sind, wirkt dies sehr authentisch, und macht es um so tragischer.
    Er schildert wie vor allem Shuggie, der Jüngste, sich nicht abgrenzen kann, und immer wieder hofft, seine Mutter es diesmal schafft trocken zu bleiben. Leek, zog sich schon früh in seine Welt zurück, lernte vor Shuggie bereits die Vorboten eines Aussetzers kennen, und sorgt sich obendrein um den kleinen Bruder.
    Stewart macht deutlich, dass es nicht leicht war mit einer kranken Mutter zu leben. Er zeigt aber auch auf, dass es für Agnes ebenso schwer war. Überall in ihrem Umfeld wird getrunken, Rücksicht auf sie nimmt niemand, sie wird eher noch ermutigt weiter zu trinken. Ein schrecklicher Teufelskreis, denn man nicht leicht durchbrechen kann.
    Shuggie hat es zusätzlich schwer, da seine Andersartigkeit aneckt. Er hat keine Freunde, und gerade die wären doch so wichtig.

    Der Roman hatte mich von Anfang an in seinen Bann ziehen können, und dies zog sich bis zum Ende konstant durch. Shuggie Bain ist ein Highlight gewesen für mich und ich möchte es jedem wärmstens ans Herz legen.

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  1. Besonderes Buch über eine besondere Liebe

    Shuggie Bain ist fünf, der jüngste Sohn einer Patchworkfamilie. Wir befinden uns in einem Arbeiterviertel in Glasgow im Jahr 1981 in einem prekären Umfeld. Die Löhne sind niedrig, die Sozialleistungen ebenfalls, Wohnungen und der ganze öffentliche Raum heruntergekommen, die Umgebung ebenso trostlos wie die Aussichten. Doch Agnes Bain, Shuggies Mutter, die aus einer früheren Ehe schon zwei große Kinder hat, will mit aller Macht den Kopf oben behalten. Agnes ist stolz, sie will bewundert werden, und sie ist eine stramme Trinkerin. Aus Geldmangel lebt sie mitsamt Mann und Kindern wieder bei ihren Eltern, spielt Bingo, trifft Freundinnen und geht aus, während ihr Mann Hugh Bain Taxi fährt und die eine oder andere Tour zu sexuellen Abenteuern nutzt. Das gedrängte Zusammenleben in der engen Wohnung macht keinen Spaß, und so veranlasst der Vater einen Umzug in die trostlose Siedlung Pithead, die von einer stillgelegten Zeche und entsprechender Arbeitslosigkeit dominiert wird. Den Wohnungswechsel nutzt Hugh Bain auch gleich dazu, die Familie sitzenzulassen. Die enttäuschte Agnes sucht zunehmend Trost im Alkohol.

    Der kleine Shuggie, um vieles jünger als seine beiden Halbgeschwister, ist das Lieblingskind der Mutter. Sie bringt ihm bei, was sie für das Wichtigste hält: äußere Haltung, Stolz, dialektfreie Aussprache und gepflegtes Auftreten. Doch schon der Sechsjährige hat begriffen, dass die Mutter ein Problem hat: "Shuggie beobachtete seine Mutter still. Er beobachtete sie immer. Sie hatte alle drei Kinder in der gleichen Weise aufgezogen, und jedes von ihnen war so wachsam und misstrauisch wie ein Gefängniswärter." (S. 65) Spätestens als Shuggie in die Schule kommt, wird ihm klar, dass seine äußerliche Adrettheit, die gepflegte Aussprache ihn zum Außenseiter machen. Und nicht nur das ist sein Problem; er ist anders (wie es im Klappentext heißt): "zart, fantasievoll und feminin". In einer Umgebung, in der schon kleine Jungs die Zurschaustellung geballter Männlichkeit als Standard ansehen, wird er als "Schwuchtel" tituliert, verachtet und bei jeder Gelegenheit gequält.

    Damit sind die Themen des Romans abgesteckt. Agnes versucht, vom Trinken loszukommen; die Familie zieht ein weiteres Mal um, Shuggie wird älter, seine großen Geschwister suchen den Weg in ein selbstbestimmtes Leben. In einigen Rückblenden wird die Vorgeschichte der Großeltern und Agnes' Jugend miterzählt, was ein weiteres, bezeichnendes Licht auf die Familie wirft.

    Es ist nicht leicht, ein Buch zu empfehlen, das so gut wie ausschließlich von vergeblichem Bemühen, Gewalt und Not handelt, wenn die Mutter die Stütze schon am ersten Tag vertrinkt und Shuggie tagelang keine warme Mahlzeit bekommt. Shuggie erhält keinerlei Hilfestellung von behördlicher Seite; ebenso wie alle Kinder um ihn herum, deren Eltern Trinker sind. Zu der äußeren Armut kommen noch die Verachtung der anderen Kinder, sexuelle Übergriffe der Erwachsenen und die Nöte eines Jungen, der sich selbst als "anders" empfindet. Was das Buch so besonders macht, ist die liebevolle Beziehung zwischen dem Jungen und seiner Mutter. Es scheint, als ob nichts diese Liebe zerstören könnte. Ein weiterer entscheidender Pluspunkt ist die Sprachkraft dieses Romans (die ausgezeichnete Übersetzung von Sophie Zeitz ist hervorzuheben), die auch in vulgären Szenen nie platt oder voyeuristisch erscheint, aber auch niemals kühl-distanziert - sondern eine gleichbleibende freundliche Aufmerksamkeit bewahrt. Bisweilen können wir Szenen von geradezu biblischer Kraft lesen, in einer wunderbaren, zärtlichen Sprache verfasst - und zwar umso mehr, je mehr es bergab geht mit Mutter und Sohn. Agnes ist eine hoffnungslose Säuferin, die immer mehr verkommt; aber sie bewahrt ihren Stolz. "(...) als Shuggie sie jetzt ansah, wusste er, dass genau das hier ihre Stärke war. Jeden Tag schminkte und frisierte sie sich und stieg mit hocherhobenem Kopf aus ihrem Grab. Wenn sie sich im Suff blamiert hatte, war sie am nchsten Tag aufgestanden, hatte ihren besten Mantel angezogen und war der Welt entgegengetreten." (S. 312)

    Ein geschickter erzählerischer Kunstgriff ist der Aufbau des Romans. Das Anfangs- und das Schlusskapitel spielen im Jahr 1992; Shuggie ist jetzt sechzehn Jahre alt und ganz auf sich gestellt, verdient seinen Lebensunterhalt und besucht, soweit möglich, weiterhin die Schule. Er ist desillusioniert, aber beim Lesen entsteht Zuversicht, dass er irgendwie seinen Weg machen wird. Douglas Stuart, selbst in Glasgow aufgewachsen, hat seinen Debütroman seiner verstorbenen Mutter gewidmet und erwähnt im Nachwort "ihren Kampf gegen die Sucht"; er weiß also, wovon er schreibt. Vielleicht liegt es daran, dass ihm das Kunststück gelingt, selbst in grotesken, an Hässlichkeit kaum zu überbietenden Situationen die Würde seiner Romangestalten zu wahren; mit einer liebevollen Zugewandtheit über sie zu erzählen, wie ich es bisher in dieser Intensität in keinem Buch zu vergleichbaren Themen gefunden habe. Nicht zuletzt - ich mag auch das Titelfoto sehr, es passt genau und man möchte es immer wieder anschauen.

    Ganz, ganz große Leseempfehlung.

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  1. Shuggies Mission

    Glasgow in den 1980er-Jahren: Seine Mutter Agnes ist Alkoholikerin, sein Vater Shug geht erst fremd und verlässt dann die Familie. Als schmächtiger, schüchterner und feminin anmutender Junge hat es Hugh Bain, genannt Shuggie, schwer. Das Leben in der Arbeitersiedlung ist hart, der Absturz der Mutter nicht leicht zu verkraften. Trotzdem versucht Shuggie alles, um Agnes zu retten. Das macht er zu seiner Mission…

    „Shuggie Bain“ ist der mit dem Booker-Preis 2020 ausgezeichnete Debütroman von Douglas Stuart.

    Meine Meinung:
    Sprachlich ist der Roman sehr eindrucksvoll. Wortgewaltig, atmosphärisch, intensiv, eindringlich und - dank vieler gelungener Metaphern - bildstark, das zeichnet den besonderen Schreibstil aus. Anzumerken ist, dass im Original viel schottischer Dialekt und Slang vertreten ist. Dies macht die Übersetzung nicht einfach und an einigen wenigen Stellen etwas unrund. Im Großen und Ganzen hat Sophie Zeitz beim Übertragen ins Deutsche jedoch hervorragende Arbeit geleistet.

    Die Handlung umfasst die Jahre 1981 bis 1992, wobei es immer wieder größere Zeitsprünge gibt. Die Jahre 1981, 1982, 1989 und 1992 stehen im Fokus und gliedern den Roman. Dabei geht es 1992 los, bevor der Roman an den Beginn der 1980er-Jahre wechselt und ab dann chronologisch erzählt. Des Weiteren besteht das Buch aus 32 Kapiteln. Dieser Aufbau funktioniert gut.

    Anders als der Titel vermuten lässt, konzentriert sich der Roman nicht nur auf die Sicht von Shuggie, sondern nimmt auch die Perspektive seiner Mutter und weiterer Personen ein. Die Protagonisten wirken authentisch. Man kommt nicht nur Agnes Bain und ihren Kindern nahe, sondern lernt das Arbeitermilieu Glasgows in der Thatcher-Ära kennen.

    Inhaltlich ist der Roman recht düster und deprimierend. Armut, Alkoholsucht, Vernachlässigung, Perspektivlosigkeit und weitere tragische Themen, die ich hier nicht vorwegnehmen möchte, haben es mir zunächst schwer gemacht, mich auf die Lektüre komplett einzulassen. Immer wieder aufs Neue zu lesen, mit welchen Schwierigkeiten Shuggie in dem tristen Milieu zu kämpfen hat, ist nicht einfach zu ertragen. Trotzdem hat es der Autor geschafft, mich immer stärker zu fesseln und für die emotional herausfordernde Geschichte einzunehmen.

    Wie aus den Danksagungen am Ende des Buches zu entnehmen ist, beinhaltet der Roman autobiografische Züge. Der Schriftsteller verweist auf die Erinnerungen an seine Mutter, deren Kampf gegen die Sucht und seine Verbindung zu den Geschwistern. Das Wissen um die tatsächlichen Hintergründe des Romans hat die Geschichte für mich ganz besonders bewegend gemacht. Ich bin mir sicher, dass die Lektüre noch länger nachhallen wird.

    Erfreulicherweise hat der Verlag den Originaltitel 1:1 übernommen. Das deutsche Cover gefällt mir ausgesprochen gut und weist einen inhaltlichen Bezug auf.

    Mein Fazit:
    Mit seinem berührenden und sprachlich herausragenden Roman „Shuggie Bain“ hat mich Douglas Stuart gefordert, aber auch begeistert. Die Auszeichnung mit dem renommierten Literaturpreis ist mehr als verdient. Ein sehr empfehlenswertes Lesehighlight 2021.

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  1. Aufopfernde Liebe

    Im Mittelpunkt dieses sehr bewegenden Romans stehen Shuggie Bain und seine Mutter Agnes, die Alkoholikerin ist.
    Die Handlung beginnt im Jahr 1992, Shuggie ist 16 Jahre alt, arbeitet seit über einem Jahr in einem Supermarkt in Glasgow, träumt jedoch davon auf die Friseurschule zu gehen. Er lebt allein in einem möblierten Zimmer, umgeben von "Porzellanballerinas" (15), die immer wieder im Roman auftauchen und ein Leitmotiv bilden. Einerseits erinnern sie ihn an seine Mutter, andererseits symbolisieren sie, dass Shuggie anders ist: Er ist homosexuell und im Verlauf der Handlung wird deutlich, dass er das Tanzen liebt und alles, was "normale Jungs" ausmacht, ablehnt.

    Die Handlung springt ins Jahr 1981, als Shuggie 5 Jahre alt ist und mit seinen beiden älteren Geschwistern Catherine, Alexander, Leek genannt, seiner Mutter Agnes und seinem Vater Shug bei seinen Großeltern mütterlicherseits lebt. Das Geschehen wird aus unterschiedlichen personalen Erzählperspektiven geschildert, hauptsächlich aus der Agnes und Shuggies, aber auch die Sicht der Geschwister und Shugs Gedankenwelt werden vor den Leser*innen ausgebreitet. Die Situation erscheint für fast alle Beteiligten trostlos.

    "Sie (Agnes) spielte mit dem Gedanken, noch weiter zu kippen, als Mutprobe. Wie leicht es wäre, sich einzureden, sie könnte wirklich fliegen, bis sie nur noch fiel und unten auf dem Beton aufschlug. Die Hochhauswohnung, die sie immer noch mit ihren Eltern teilte, engte sie ein. Alles in dem Zimmer hinter ihr fühlte sich klein an, so niedrig und stickig, vom Zahltag bis zur Sonntagsmesse, ein Leben auf Pump, wo nichts rechtmäßig ihr zu gehören schien." (27)

    Agnes ist eine Schönheit mit künstlichen Zähnen, die immer noch für Aufsehen sorgt. Ihren ersten, katholischen Mann hat sie für Shug verlassen, da er ihr nicht genügt hat, zu langweilig, zu fromm, zu brav.

    "Big Shug Bain war im Vergleich mit dem Katholiken betörend gewesen. Er war eitel, wie es nur Protestanten sein konnten, stellte seinen windigen Wohlstand zur Schau und leuchtet rosig vor Prasserei und Verschwendung." (40)

    Shuggie ist der einzig gemeinsame Sohn der beiden und Agnes erkennt, dass er anders als sein großspuriger Vater ist. Aus diesem Grund kauft sie ihm eine Puppe - sehr ungewöhnlich für die damalige Zeit. Sie achtet darauf, dass er sich gut ausdrückt, "dass er die Silben nicht verschliff." (66) Genauso wie sie selbst Wert auf ihre äußere Erscheinung und eine gute Aussprache legt, sie wahrt den Schein, um ihre Sucht zu verbergen, genauso wie ihre Eltern verbergen, dass sie nie aufgehört haben zu trinken.

    "Agnes wusste genau, dass Wullie und Lizzie sich heimlich aus dem Zimmer stahlen, wenn sie dachten, keiner sah hin. Sonntags standen sie vom Esstisch auf oder gingen einmal zu oft aufs Klo. Dann setzten sie sich auf die Kante ihres großen Ehebetts, Schlafzimmertür zu, und holten die Plastiktüten unter dem Bett hervor. Schenkten sich was in eine alte Tasse und tranken schnell und leise im Dunkeln wie Teenager." (35)

    Stuart zeichnet ein schonungsloses Bild derer, die unter der rigiden Politik Magret Thatcher keine anständige Arbeit finden, keine Chance mehr erhalten oder auch ergreifen können und die sich aus Verzweiflung bzw. Resignation dem Alkohol hingeben. Vor allem das Leid der Kinder, die in diesem brutalen, sozialen Milieu aufwachsen müssen, wird im Roman plastisch geschildert.

    "Was immer sie zum Lachen brachte, tat er noch ein Dutzend Mal, bis ihr Lächeln dünn und falsch wurde und er nach dem nächsten Kunststück suchte, das sie glücklich machen würde. (67)

    Catherine scheint einen anderen Weg einzuschlagen, da sie einen Job und einen Ehemann in Aussicht hat, ein Neffe Shugs, Donald Junior. Sie hat sich geschworen als Jungfrau in die Ehe zu gehen, ein Versuch ihre Macht zu demonstrieren?
    Leek ist ein stiller Junge mit einem Talent zum Zeichnen, der seine Ruhe haben möchte, er hat die Kunst perfektioniert, "durch Menschen hindurchzusehen, sich aus Gesprächen auszuklinken, durch Hinterköpfe und offene Fenster seinen Tagträumen hinterherzuschreien." (80)

    Die Situation verschlimmert sich für alle dramatisch, als sie im Jahr 1982 nach Pithead ziehen.
    Die ehemalige Bergmanns-Siedlung wirkt wir ein apokalyptischer Alptraum.

    "Dann lag die Siedlung vor ihnen. Ein Stück voraus endete die schmale staubige Straße am Fuß eines niedrigen braunen Hügels. Jede der drei oder vier kleinen Seitenstraßen ging im rechten Winkel von der Hauptstraße ab. Häuser mit niedrigen Dächern, gedrungen und kastenförmig, zu ordentlichen Reihen gedrängt. Jedes hatte in gleich großes Stück schütteren Garten, und jeder Garten wurde vom gleichen Raster weißer Wäscheleinen und grauer Pfosten zerschnitten. Die Siedlung war von torfigem Marschland umgeben, im Osten war das Land umgekrempelt worden, geschwärzt und verschlackt auf der Suche nach Kohle." (114)

    Agnes Sucht dominiert die Familie, während es Catherine gelingt, sich abzusetzen, kümmern sich Leek und Shuggie um ihre Mutter. Die Verantwortung, die sie tragen müssen, ist beim Lesen kaum zu ertragen. Mit aufopfernder Liebe und voller Verzweiflung bemüht sich Shuggie, Agnes vom Trinken abzuhalten - ein unmögliches Unterfangen. Unwillkürlich fragt man sich, ob dieser Alptraum irgendwann ein Ende finden wird - in dem Wissen, dass dem kaum so sein kann, da Shuggie im Jahre 1992 alleine wohnt.
    Im Roman wird ein schonungsloses Bild einer Frau gezeigt, der es nicht gelingt, sich von ihrer Sucht zu befreien und die von den Männern, die sie liebt, betrogen wird.

    "Sie hatte ihn gelobt, und er hatte sie vollkommen brechen müssen, bevor er sie endgültig verließ. Agnes Bain war ein zu kostbares Exemplar, um sie der Liebe eines anderen zu überlassen. Er durfte nicht mal Scherben übrig lassen, die ein anderer später einsammeln und kleben könnte." (131)

    Andererseits gelingt es ihr in wenigen lichten Momenten, ihrem Jüngsten Selbstvertrauen mit auf den Weg zu geben und ihn in seinem Anderssein zu bestärken, obwohl er von den anderen Kindern deswegen ausgelacht und ausgegrenzt wird.
    "Du weißt, dass sie nur gewinnen, wenn du sie gewinnen lässt. (...)
    "Bei den Mathehausaufgaben war sie nicht zu gebrauchen, und an manchen Tagen verhungerte er regelrecht, bevor er von ihr eine warme Mahlzeit bekam, aber als Shuggie sie jetzt ansah, wusste er, dass genau das hier ihre Stärke war. Jeden Tag schminkte und frisierte sie sich und stieg mit hoch erhobenem Kopf aus ihrem Grab." (312)

    Der Roman trägt autobiographische Bezüge, wie in der Danksagung deutlich wird -
    "Vor allem anderen verdanke ich die Entstehung dieses Buches den Erinnerungen an meine Mutter und ihren Kampf gegen die Sucht, und meinem Bruder, der mir alles gegeben hat, was er mir geben konnte." (494) -

    und was man auch in mehreren Interviews lesen kann. Dadurch, dass er teilweise selbst erlebt hat, wovon er schreibt, wirkt der Roman immer authentisch. Ich hatte beim Lesen nie das Gefühl, er übertreibt oder das sei unrealistisch - alles ist stimmig. Auch die Figuren reden in einem authentischen Slang, der im Kontrast zur der metaphorischen Sprache steht, die mir persönlich gut gefallen hat. Für den Roman spricht auch, dass man ihn, trotz des extrem belastenden Inhalts, kaum aus der Hand legen kann und den ich uneingeschränkt empfehlen kann.

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  1. Shuggie Bain – ein ganz besonderer Junge

    Der Roman beginnt im Jahr 1992 im Glasgower Stadtteil South Side, Shuggie Bain ist 15 Jahre alt und schlägt sich alleine durchs Leben. Er geht noch auf die Schule und arbeitet in einem Supermarkt, um sich die Miete für sein karges Zimmer und seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Douglas Stuart schildert eindrücklich Shuggies Lebensumstände, man sieht sie bildlich vor Augen und empfindet so sehr mit diesem Jugendlichen mit, dass man unbedingt wissen möchte, wie er in diese Lage geraten ist.
    Und der Autor Douglas Stuart nimmt uns dann auch über einen Zeitraum von 10 Jahren mit in die Kindheit und Jugend von Shuggie beginnend im Jahr 1981, einer wirtschaftlich schwierigen Zeit in Großbritannien. Der 5-jährige Shuggie lebt mit seinen Eltern, Agnes und Shug, und seinen beiden älteren Halb-Geschwistern Catherine und Leek bei den Eltern von Agnes im Glasgower Stadtteil Sighthill. Die Wohnverhältnisse sind beengt, der Vater, von Beruf Taxifahrer, geht fremd, die Mutter trinkt und die älteren Geschwister versuchen, sich Rückzugsorte zu schaffen. 1982 zieht Agnes mit den Kindern nach Pithead, einem ehemaligen Bergmannsdorf in der Nähe von Glasgow, und der Vater verlässt die Familie. Von da ab geht es, mit kurzen Lichtblicken, stetig bergab mit Agnes. Der kleine Shuggie liebt seine Mutter über alles, versucht ihr beizustehen und zu helfen, wo er nur kann, und hat dabei aber eigentlich auch genug eigene Probleme, mit denen er alleine klar kommen muss. Er ist eher schmächtig und feminin im Gegensatz zu den eher rowdyhaften Jungs seiner Umgebung, weshalb er auch keine Freunde hat. Er ist oft Ziel von Gewalttaten und sexuellen Übergriffen. Obwohl er öfters in der Schule fehlt ist er ein intelligenter Junge, der sich gut auszudrücken weiß.
    Im letzten Kapitel des Buches sind wir wieder zurück im Jahr 1992 und trotz der im ersten Kapitel geschilderten bedrückenden Situation scheint Shuggie nun sein Leben im Griff zu haben. Es ist ein hoffnungsvolles Ende, man würde so gerne weiterlesen und erfahren, wie es mit Shuggie weitergeht.
    Mir hat der Aufbau des Buches sehr gut gefallen – von der Gegenwart zurück in die Vergangenheit, um am Ende dann wieder in der Gegenwart anzukommen. Dadurch wird ein gewisser Spannungsbogen aufgebaut. War ich am Ende des ersten Kapitels schockiert über Shuggies Lebensumstände, hat es der Autor durch seinen eindrücklichen Stil, mit dem er Shuggies Kindheit und Jugend erzählt, am Ende geschafft, Verständnis und auch Hochachtung für diesen jungen Mann zu empfinden. Dieses Buch ist wahrlich keine einfache Kost, führt es einem doch vor Augen, was Kinder alkoholabhängiger Eltern zu erleiden haben. Aber es ist auch ein hoffnungsvolles Buch, das ich wärmstens zur Lektüre empfehle.

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  1. Ein grandioser Roman über die Abgründe des Alkohols

    „Shuggie Bain“ ist ein Debüt, auf dessen Übersetzung ich sehnsüchtig gewartet habe und die wunderbar gelungen ist. Der Bookerpreis bürgt für Qualität, auch dieses Mal hat mich der Siegertitel sehr beeindruckt. Erzählt wird eine Kindheit in Armut. Shuggie ist das jüngste von drei Geschwistern. Zunächst lebt die Familie noch zusammen in der Wohnung der Großeltern. Als die Spannungen zunehmen, wünscht sich Mutter Agnes einen Neuanfang. Die Familie zieht um in eine runtergekommene Bergarbeitersiedlung in Pithead, einem Stadtteil von Glasgow. Man schreibt das Jahr 1982. Margaret Thatcher regiert England mit eiserner Faust, die Arbeitslosigkeit ist hoch, die Sozialleistungen niedrig. Doch das sind nicht die größten Probleme der Bains. Der Vater ist ein Taxifahrer, dem sexuelle Abenteuer wichtiger sind als zahlende Fahrgäste. Die Mutter fühlt sich vernachlässigt sowie desillusioniert, sie vermisst Abwechslung und flüchtet sich in den Alkohol. Die Kinder leiden entsetzlich darunter, insbesondere Shuggie, der mit seinen 6 Jahren noch auf kindliche Weise an der Mutter hängt. Es ist eine düstere, beklemmende Welt, die Stuart dem Leser präsentiert. Es herrscht Tristesse ringsumher, die Menschen in dieser Gegend leben alle unter ähnlichen Bedingungen.

    „Er streifte gern allein durch die Dunkelheit und sah sich die Schattenseiten an. Dann kamen die Gestalten heraus, die die graue Stadt zugrunde gerichtet hatte, konserviert von Jahren des Trinkens, des Regens und der Hoffnung. Menschen zu transportieren war sein Auskommen, aber am liebsten beobachtete er sie.“ (S. 51)

    Der Neuanfang am neuen Wohnort misslingt. Vater Shug kommt nur noch selten nach Hause, verlässt die Familie schließlich ganz. Auch die älteren Geschwister flüchten aus der häuslichen Umgebung – jeder auf seine Weise. Shuggie ist noch zu jung. Früh muss er lernen, mit der Sucht umzugehen, ihre falschen Trinkkumpane zu tolerieren und sich für seine Mutter auf der Straße zu rechtfertigen. Agnes´ Stimmungen sind wechselhaft wie das Wetter. Wenn sie sich nicht in den Klauen von Teufel Alkohol befindet, kann sie durchaus eine fürsorgliche Mutter sein, die sich um ihre Kinder liebevoll kümmert; diese Phasen werden aber zunehmend seltener. Hinzu kommt, dass Shuggie anders ist als andere Jungen, er erscheint sanfter, femininer. Zudem achtet seine Mutter auf ordentliche Kleidung und eine saubere Aussprache; alles Dinge, die in diesem Milieu verachtet werden und zum Außenseiter machen. Mobbing und Gewalt sind an der Tagesordnung. Immer stärker gleitet Agnes ab. Sie kreist um ihre Sucht, immer seltener gibt es warme Mahlzeiten, das wenige zur Verfügung stehende Geld fließt in Bier und Wodka. Es ist niemand da, der Hilfe anbietet. Shuggie leidet immer mehr.

    Wie begleiten den Jungen über rund zehn Jahre. Man bekommt sein Schicksal, seine ambivalenten Gefühle hautnah mit, weil Stuart die Geschehnisse aus der Perspektive des Kindes und später des Jugendlichen schildert. In Rückblicken oder Erinnerungen werden Episoden aus der Familiengeschichte ergänzt. Dadurch wird das Bild immer vollständiger. Manches Ereignis überrascht nachhaltig, wirft ein neues Licht auf die einzelnen Charaktere.

    Die Abwärtsspirale scheint unaufhaltbar zu sein. Shuggy muss immer mehr Aufgaben übernehmen. Er versucht seine Mutter zu beschützen, ihr alles rechtzumachen, fehlt immer häufiger in der Schule. Sie ist ein Pulverfass, das Zusammenleben mit ihr gleicht einem Tanz auf dem Vulkan, ihre Launen sind extrem und der Zorn schnell entfacht. Als Leser möchte man Agnes schütteln, ihren Egoismus brechen, sie in eine Therapie schicken…

    „Ihr Junge war wohl schon in der Schule. Sie wusste, dass er über sie gewacht hatte wie ein unerlöstes Gespenst, aber als sie die Augen wieder aufschlug, war er weg. Sie rappelte sich hoch, setzte sich auf die Bettkante, den Eimer zwischen den Knien, und versuchte den Puls, der in ihrem heißen Gesicht pochte, zu beruhigen. Sie musste würgen und krümmte sich über den Eimer wie eine keuchende Katze.“ (S. 234)

    Der Autor gibt tiefe, glaubwürdige Einblicke, wird aber niemals larmoyant. Es liegt auf der Hand, dass weite Teile des Romans, den er seiner verstorbenen Mutter gewidmet hat, autofiktional sind. Der Leser wird aus seiner Wohlstandsblase geführt, bekommt die Notlage von Familien gezeigt, die am Rand der Gesellschaft leben. Niemand kümmert sich um die schutzbedürftigen Kinder, sie sind auf brutale Weise sich selbst überlassen und werden ihrer Chancen beraubt. Dass Shuggie sich dazu noch „anders“ fühlt und mit seiner Identität hadert, gibt dem Roman eine weitere höchst aktuelle Thematik.

    Stuart benutzt eine intensive Sprache, mit der Orte, Stimmungen und Figuren sehr treffend beschrieben werden. Er zeichnet das Umfeld in all seiner Komplexität und seinen Widersprüchen, so dass man zumindest versucht nachzuvollziehen. Mit seinen Sprachbildern bringt er Emotionen auf den Punkt, die zahlreichen Metaphern schaffen Atmosphäre, heben den Text literarisch hervor, machen ihn besonders. Stuart ist kein Voyeur, er erspart uns allzu große Brutalität, ohne dass deren Tragweite verschleiert würde. Er bricht entsprechende Szenen gekonnt ab, macht sie damit erträglich und überlässt sie der Fantasie des Lesers. Natürlich gibt es auf den knapp 500 Seiten auch Lichtblicke und Hoffnungsschimmer, es ist ein Auf und Ab der Sucht. Längen sucht man vergeblich. Die Authentizität der Geschichte ist erdrückend, aus den genannten Gründen habe ich sie jedoch nicht als deprimierend empfunden. Vielmehr zeigt Stuart höchst realistisch auf, was die Volksdroge Alkohol (auch heute noch) für betroffene Kinder bedeutet. Das Buch soll die Sinne schärfen, um genauer hinzuschauen und rechtzeitig Hilfestellung anzubieten. Darüber hinaus beinhaltet es den Appell zu mehr Toleranz gegenüber jeglicher sexuellen Orientierung. Was zählt, ist immer der Mensch und die Menschlichkeit.

    Offensichtlich hat der Autor nach dem frühen Tod der Mutter seinen Weg noch finden können. Das ist das Erstaunliche und Tröstliche. Ich bin absolut begeistert von diesem Roman, der den Bookerpreis 2020 völlig zu Recht gewonnen hat. Ich wünsche ihm viele Leser – wohl wissend, dass Shuggie Bain zwar keine Wohlfühllektüre ist, dafür aber eine bereichernde und wichtige.

    Dringende Lese-Empfehlung!

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  1. Der Teufel Alkohol: eine Abwärtsspirale

    Kurzmeinung: Würdiger Preisträger.

    In „Shuggie Bain“, dem Debütroman und Booker Prize Gewinner 2020 von Stuart Douglas, ist Agnes Bain die bemitleidenswerte und tragische Alkoholkranke, die die Familie durch ihre Sucht zugrunde richtet. Man mag sich darüber streiten, ob der Roman in erster Linie die Geschichte des Niedergangs der Agnes Bain ist oder die einer Kindheit im Schatten des Teufels Alkohol.

    Die Familie Bain zieht, bedingt durch tragische Umstände einige Male um, wobei sie vom Regen in die Traufe kommt. Das erste Mal wohnen alle beengt bei Agnes Eltern, das zweite Mal leben sie in einer verarmten Bergarbeitersiedlung, wo der Umgangston womöglich noch rauer ist als vorher, danach leben sie im sozialen Wohnungsbau, kärglich und ärmlich. Die Familienmitglieder diffundieren, zuerst geht der Ehemann, dann die Tochter, dann der ältere Sohn. Wer bleibt, ist Shuggie. Durch die Alkholkrankkeit der Mutter leiden alle, am meisten aber der Jüngste, der als Erzähler fungiert. Meistens fehlt das Geld für das Notwendigste, doch wenn Agnes eine nücherne Phase hat, funktioniert sie und man könnte auf einen grünen Zweig kommen. Doch es währt nie lange, bis sie wieder schwach wird.

    Der Kommentar:
    Die Düsterkeit der Szenen gelingt Stuart Douglas meisterhaft. Die gegenseitigen emotionalen Abhängigkeiten werden schön in Szene gesetzt. Die Abwärtsspirale dreht sich folgerichtig bis zum bitteren Ende. Das vermittelte Männerbild ist rabenduster.

    Sprachlich ist der Roman dicht, die Vergleiche treffend. Jedoch folgen sie auch dicht an dicht und wie immer, ist allzuviel, zu viel. Eine gewisse Monotonie liegt in der Abfolge der immer neuen Szenen des Abstiegs.

    Das Kind Shuggie kämpft neben der Ausgrenzung durch die alkoholkranke Mutter zusätzlich durch die Ausgrenzung wegen seiner „Andersartigkeit“. Erschreckend, dass man sich bereits in den 1980er Jahren befindet, eine Zeit, in der Homosexualität längst toleriert wird. Doch es kommt darauf an, in welchem Milieu man sich befindet. Die Handlung spielt nicht in hippen Großstädten, sondern in einem verengten Lebensraum. Auch über die Darstellung der Andersartigkeit Shuggies könnte man trefflich streiten. Spielen schwule Jungs notgedrungen mit "Weiberspielzeug", gibt es das überhaupt? Bewegen sie sich anders? Ab wann sind Jungs von Jungs „angezogen“?

    Fazit: Stuart Douglas hat einen Roman von beachtlichem Niveau geschrieben, der im Arbeitermilieu spielt, was ihm seine besondere Brisanz verleiht! Man hätte den Roman durch kleinere Kürzungen straffen können, ja müssen, damit er Spannkraft und Sprengkraft behält; er leiert ein bisschen aus. Vor allem sprachlich hätte der Roman einige Straffungen vertragen. Im Großen und Ganzen aber ist der Titel durchaus preiswürdig.

    Kategorie: Belletristik
    Verlag: Hanser, 2021

    Booker Prizeträger 2020

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  1. Eindrucksvolles Familienextrem

    Shuggie Bain wurde in den 1970-ern in so eine richtige Patch-Work Familie hineingeboren - die extreme spielsüchtig, alkoholisch und untreue sind da mit dabei. Shuggie ist aber anders - irgendwie hat man am Anfang gleich das Gefühl, er passt nicht so ganz dazu. Er tanzt gerne und spielt lieber mit Puppen als mit den anderen Jungen Fußball.
    Das Buch ist eine Achterbahnfahrt der Gefühle - von schmerzhaft, tragisch, berührend bis hoffnungsvoll ist alles mit dabei. Ein Hin und Her Zwischen Freundschaft und Ausgrenzung. Auch in der Familie geht es turbulent her - der Vater verlässt die Familie.
    Der Alkoholismus hat in diesem Buch eine ganz besondere Rolle - man liest von wirklich grauenhaften Facetten, das lässt einem nicht kalt.
    Mir hat das Buch sehr gefallen, und es hat mich auf emotionale Weise richtig mitgenommen. Ich bin mir aber nicht sicher, ob das Buch für jeden etwas ist, auf Grund seines doch recht eigenen Stils.

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  1. Ein aufrüttelndes Debüt

    Klappentext von der Verlagsseite:

    Für seinen Roman „Shuggie Bain“ wurde Douglas Stuart mit dem Booker Preis 2020 ausgezeichnet. „Das beste Debüt, das ich in den letzten Jahren gelesen habe.“ (Karl Ove Knausgård) „Dieses Buch werdet ihr nicht mehr vergessen.“ (Stefanie de Velasco)

    Shuggie ist anders, zart, fantasievoll und feminin, und das ausgerechnet in der Tristesse und Armut einer Arbeiterfamilie im Glasgow der 80er-Jahre, mit einem Vater, der virile Potenz über alles stellt. Shuggies Herz gehört der Mutter, Agnes, die ihn versteht und der grauen Welt energisch ihre Schönheit entgegensetzt, Haltung mit makellosem Make-up, strahlend weißen Kunstzähnen und glamouröser Kleidung zeigt – und doch Trost immer mehr im Alkohol sucht. Sie zu retten ist Shuggies Mission, eine Aufgabe, die er mit absoluter Hingabe und unerschütterlicher Liebe Jahr um Jahr erfüllt, bis er schließlich daran scheitern muss. Ein großer Roman über das Elend der Armut und die Beharrlichkeit der Liebe, tieftraurig und zugleich von ergreifender Zärtlichkeit.

    Autoreninfo von der Verlagsseite:

    Douglas Stuart, geboren und aufgewachsen in Glasgow, studierte am Royal College of Art in London. Nach seinem Abschluss zog er nach New York, wo er als Modedesigner arbeitet. Seine Texte erschienen im New Yorker und auf Literary Hub. Für seinen ersten Roman, Shuggie Bain, wurde er mit dem Booker Preis 2020 ausgezeichnet.

    Erster Satz:

    Der Tag war mau.

    Meinung:

    Für “Shuggie Bain” wurde Douglas Stuart im vergangenen Jahr mit dem Booker Prize ausgezeichnet. Schon damals fiel mir das Buch ins Auge und ich hoffte sehr, dass sich ein deutschsprachiger Verlag die Lizenz sichern würde. Der Hanser Verlag hat dies schließlich getan und mit Sophie Zeitz eine sehr gute Übersetzerin für das Werk gefunden. Mit der Übersetzung steht und fällt jedes Werk und Sophie Zeitz hat "Shuggie Bain" sehr gekonnt übersetzt.

    Das Buch nimmt mich immer noch mit, obwohl ich es schon vor ein paar Tagen beendet hatte. Die Geschichte von Agnes und Shuggie musste sich erst einmal setzen, bevor ich meine Gefühle in Worte fassen konnte. Douglas Stuart ist mit “Shuggie Bain” ein atemberaubendes Debüt gelungen, für das er zurecht den “Booker Prize” 2020 gewonnen hat. Es ist zum Teil autobiografisch und beginnt im tristen Glasgow der 80er Jahre des 20. Jahrhunderts zur Zeit der Thatcher-Ära.

    Shuggie Bain ist anders, für einen Jungen unheimlich feinfühlig und feminin, er passt sogar nicht in die raue Arbeiterwelt Glasgows. Hineingeboren in eine Familie, die alles andere als eine behütete Kindheit gewährt. Ein gewalttätiger Vater, eine alkoholkranke Mutter und zwei Geschwister, die versuchen sich so schnell wie möglich aus der desaströsen Familiensituation zu befreien. So bleibt Shuggie auf sich selbst gestellt und versucht verzweifelt seine Mutter zu retten. Dieser kleine Junge ist mir ans Herz gewachsen. Seine Sensibilität, die Art wie er versucht seine Mutter zu retten brechen einen das Herz, gleichzeitig kann er auch unheimlich schlagfertig sein, sodass ich über diesen kleinen Jungen lachen musste, da gerade diese Szenen dann, die Trostlosigkeit seines Lebens durch den Humor unterbricht.

    Auch Agnes ist mir nahegekommen. Stellenweise wollte ich diese Frau einfach nur schütteln und ihr sagen, komm zur Besinnung, du hast einen wundervollen kleinen Sohn. Dann gab es Momente, in denen ich sie am liebsten in den Arm genommen hätte, und getröstet hätte, immer dann, wenn ihr Mann mal wieder unmöglich war, das knappe Geld nicht reichte und das Sozialamt herhalten musste.

    Der gewaltige Sprachstil von Douglas Stuart lässt einen nicht los. Oft musste ich das Buch mal zwischendurch zuklappen um wieder Atmen zu können. So sehr hat mich Shuggies Geschichte, die im Grunde genommen die Lebensgeschiche von Douglas Stuart ist, mitgenommen. Zugleich ist dieser autobiographische Roman eine Milieustudie der Thatcher-Zeit in Glasgow. Er beschreibt diese Trostlosigkeit, die Armut, das raue Klima unter den Bürgern Glasgows deutlich und prägnant. Das gesamte Buch hat einen traurigen Unterton und Shuggies Leben war hart mit dem Mobbing in der Schule, den stets wechselnden Liebhabern der Mutter und der Armut. All dies schreibt Douglas Stuart mit einer wohlklingenden Sprache, bildreich, detailreich, hart, teilweise liebevoll, teilweise deutlich nieder. Eine Sprachgewalt, die ihresgleichen sucht. Eine Sprache, die einen fordert, eine Sprache, die einen dranbleiben lässt, eine Sprache, die einen nicht loslässt – wie das Buch auch. Shuggie Bain klingt nach und wird eines meiner Jahreshighlights sein. Wenn, nicht sogar das Highlight des Jahres.

    Fazit

    “Shuggie Bain” ist ein grandioses Debüt. Ein wundervolles Buch über eine Mutter-Kind-Beziehung, die einen nicht loslässt, die einen aufrüttelt und nachdenklich zurücklässt. Klare Leseempfehlung.

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  1. Schonungslos, tieftraurig und voller Liebe - ein Herzensbuch

    Dies ist die Geschichte des Jungen Hugh „Shuggie“ Bain. Er wächst in einem Arbeiterviertel von Glasgow auf, wo in den 1980er Jahren Arbeitslosigkeit, Perspektivlosigkeit und Armut an der Tagesordnung stehen. Die Gegend, in der Shuggie lebt, liegt nahe einer stillgelegten Zeche. Die ehemaligen Zechenarbeiter sind arbeitslos oder verdienen sich ihr Brot als Taxifahrer. Shuggies Vater hat die Familie dort hingebracht, bevor er sie für immer verlassen hat. Shuggies Mutter Agnes ist aus Frust und Kummer wegen ihres ständig untreuen Mannes dem Alkohol verfallen und lebt von der Stütze. Als er sie verlässt, nimmt das Unheil seinen Lauf. Shuggie hat aber noch ein anderes Problem: er ist so gar nicht wie die anderen Jungs. Viel sensibler und zarter ist er und wohlerzogen, was ihm im kruden Arbeiterviertel und in der Schule Spott, Hohn und Ärger einbringt. Er wird überall gemobbt und ist am glücklichsten, wenn er seiner Mutter Agnes etwas Gutes tun kann...

    Agnes ist aber Alkoholikerin und ihre extremen Stimmungsschwankungen treiben ihre beiden älteren Kinder Cath und Leek bald aus dem Haus, so dass der ca 12jährige Shuggie schließlich allein mit ihr ist und ständig alles dafür tut, um auf seine im Suff sehr umtriebige Mutter aufzupassen...

    Harter Tobak. Diese Geschichte geht irre unter die Haut. Dies ist vor allem auch der sehr intensiven, kraftvollen, bildhaften, schonungslos ehrlichen und unendlich warmherzigen Erzählform des Autors zu verdanken. Er schafft von der ersten Seite an eindrückliche Bilder und lässt mich als Leserin sehr schnell in eine bedrückende, zum Greifen nahe Atmosphäre eintauchen. Im Mittelpunkt des Romans steht eigentlich gar nicht Shuggie, sondern seine Mutter Agnes. Der Autor hat offenbar seine eigenen Kindheitserlebnisse in diesem Roman verarbeitet – wahrscheinlich spüre ich auch deshalb so viel Liebe zwischen all der Verzweiflung und der Wut. Der Glasweger Arbeiter-Slang trägt ebenfalls viel dazu bei, eine sehr authentische, sehr rohe und hoffnungslose Stimmung zu erzeugen. Allerdings ist die Übersetzung dieses Slangs für mich anfangs sehr holperig erschienen – ich habe einige Zeit gebraucht, um mich daran zu gewöhnen und in einen guten Lesefluss zu kommen.

    Zum Ende des Buches rückt mehr und mehr Shuggie selbst in den Mittelpunkt. Bis dahin habe ich noch keine recht enge Beziehung zu diesem Jungen aufbauen können, weil seine Mutter alles eingenommen und mich extrem in ihren Bann gezogen hat. Nun aber dreht es sich tatsächlich. Vielleicht, weil der Junge langsam schon erwachsener wird. Schuggie (evt sogar das Ebenbild des Autors?) bekommt Konturen, Gefühle werden deutlich(er), seine Beweggründe und Taten sind immer klarer nachvollziehbar für mich. Er wächst ans Herz, lässt mich mitfühlen und lässt am Ende auch ein bisschen hoffen.

    Fazit: Hammer! Schonungslos, tieftraurig, voller Liebe und Respekt und mit ein wenig Hoffnung. Eine intensive Sozialstudie, die ich in der Form noch nicht gelesen habe und die mich zutiefst berührt hat. Dieser Roman ist ein Highlight und Herzensbuch.

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