Sekunden der Gnade

Southie ist ein Viertel von Boston, in dem Hoffnungslosigkeit und Kriminalität herrschen, aber auch Zusammenhalt und Unterstützung. Allerdings muss man sich an die Regeln des Viertels halten. Als ein Bezirksrichter feststellt, dass schwarze Schüler systematisch benachteiligt werden, soll das Dilemma aus der Welt geschafft werden, indem weiße Schüler per Bus in ein schwarzes Viertel gebracht werden und umgekehrt. Aber Mary Pat hat andere Sorgen. Ihre siebzehnjährige Tochter Jules ist nicht nach Hause gekommen und Mary Pat macht sich auf die Suche. Doch ihre Fragen stoßen entweder auf Schweigen und Beschwichtigungen oder aber es gibt Widersprüche in den Aussagen. Doch Mary Pat lässt sich nicht einlullen. Sie macht sich auf, um die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen – ganz gleich, was es sie selbst kostet.
Es ist eine spannende, aber auch sehr bedrückende Geschichte. Das Leben im Viertel ist hart. Auch wenn man arbeitet, ist es oft nicht möglich, seine Rechnungen zu bezahlen. So geht es auch Mary Pat. Sie ist ausgelaugt und hat nicht genügend Zeit für ihre Tochter. Aber sie liebt sie.
Es gibt aber auch massiven Rassismus. Wenn etwas schiefläuft im Viertel, können nur die Schwarzen daran schuld sein. Auch die Drogen haben sie nach Southie gebracht und daher sind sie schuld, dass Mary Pats Sohn Noel an einer Überdosis Heroin starb, weil er das in Vietnam Erlebte nicht verkraftet hat.
Auch wenn ich Mary Pats Vorgehen nicht gut finden kann, so kann ich sie dennoch verstehen. Sie hat alles verloren, was ihr wichtig war, daher ist es ihr auch egal, was aus ihr selbst wird. In ihr sind Hass und Gewalt und so manch einer bekommt zu spüren, wie stark sie sein kann.
Doch am meisten hat mir der Detective Bobby gefallen. Er weiß um die Schwächen des Systems und doch setzt er alles daran, Schuldige zu überführen. Er führt einen aussichtslosen Kampf, denn überall gibt es Menschen, welche die Hand aufhalten.
Das Finale ist drastisch, aber leider auch glaubhaft.
Ein erschreckend aktuelles Thema und eine spannende Geschichte, die absolut lesenswert ist.
In einem Interview, das der Diogenes Verlag mit dem amerikanischen Bestseller-Autro Dennis Lehane anlässlich der Veröffentlichung von „Sekunden der Gnade“ geführt hat, streut der Autor den Verdacht, dass es sich bei diesem Roman um seinen letzten gehandelt haben könnte - es sei denn, ihm käme eine zündende Idee für ein neues Buch. Auf diese Idee will ich schwer hoffen, denn „Sekunden der Gnade“ ist großes Krimi-Kino und macht Lust auf weitere Romane von Dennis Lehane.
Für „Sekunden der Gnade“ hat der Autor einen Plot gestaltet, der auf Ereignissen in seiner Kindheit beruht.
In den 70er Jahren klagten in Amerika Bürger gegen die Ungleichbehandlung schwarzer Kinder im amerikanischen Bildungssystem. Schwarze Schulen waren für schwarze Kinder und Jugendliche vorbehalten. In die weißen Schulen gingen weiße Schüler. Da diese Abgrenzung durch die amerikanische Gesetzgebung zementiert war, kam ein Bostoner Richter auf die findige Idee, dieses Problem mittels „Desegregation Busing“ in den Griff zu bekommen, einer eigenwilligen und gesetzlich manifestierten Form des Schüleraustauschs zur Überwindung sozialer und ethischer Grenzen. Von September 1974 an sollten in Boston Schulbusse zwischen den Vierteln pendeln, schwarze Schüler in weiße Schulen bringen und umgekehrt, so dass eine Durchmischung des Schulalltags herbeigeführt werden sollte. Diese Idee stieß bei den wenigsten auf Gegenliebe. Das Pilotprojekt sollte in einem Stadtteil, in dem hauptsächlich irischstämmige Bürger der Unterschicht lebten sowie einem schwarzen Stadtteil Bostons durchgeführt werden. Der erste Tag dieser Aktion wurde von dem erbitterten Widerstand der irischen Bevölkerung begleitet und zog die folgenden Monate massive rassistische Ausschreitungen zwischen der weißen und schwarzen Bevölkerung nach sich.
In dieses Wespennest-Szenario hat Dennis Lehane seinen Roman „Sekunden der Gnade“ angesiedelt. Am Vorabend des geplanten Schüleraustauschs kommt ein schwarzer Jugendlicher im weißen Viertel ums Leben. Alles deutet auf ein rassistisch motiviertes Verbrechen hin. Zum Todeszeitpunkt und in der Nähe des Tatorts hielten sich vier irische Jugendliche auf, eine davon ist die Schülerin Jules, die seit diesem Abend spurlos verschwunden ist. Daraufhin versucht ihre Mutter Mary Pat herauszufinden, was mit ihrer Tochter passiert ist. Nur wenig Unterstützung erhält sie dabei von der Polizei, die sich auf die Aufklärung des Mordes an dem schwarzen Jungen konzentriert. Natürlich kommt die Frage auf, inwieweit das Mädchen Jules mit diesem Verbrechen zu tun hat.
Ich habe in einem Roman selten eine Protagonistin erlebt, die dermaßen ambivalent gestaltet ist wie Mary Pat. Die Frau lebt in prekären Verhältnissen, ein mickriger Job hält sie und ihre Tochter einigermaßen über Wasser. Sie säuft, raucht wie ein Schlot, ihre kleine Wohnung ist eine verkommene und dreckige Bruchbude. Manche würden Mary Pat als eine Schlampe bezeichnen, die zudem noch ein Problem mit Menschen anderer Hautfarben hat, wie übrigens fast alle in diesem irischen Viertel von Boston. Mary Pat ist ihr Leben lang mit Gewalt konfrontiert worden. Von klein auf musste sie lernen, sich ihren Platz im Leben mit Brutalität zu erkämpfen und zu bewahren. Das Wichtigste in ihrem verkorksten Leben ist ihre Tochter, die sie bedingungslos liebt und für die sie alles tun würde, egal zu welchem Preis. Damit zeigt sie eine weiche und gefühlvolle Seite, die sie von den anderen Menschen in ihrem Viertel unterscheidet. Auf der Suche nach ihrem Kind entwickelt sich Mary Pat zu einer unvorstellbaren Naturgewalt, die sogar das organisierte Verbrechen in diesem Stadtteil zum Straucheln bringt.
Dennis Lehane hat den damaligen Unruhen in Boston als 9-jähriger Steppke beigewohnt. Der aggressive Protest und Rassismus der betroffenen irischen Bevölkerung haben einen verstörenden Eindruck bei ihm hinterlassen, den er in seinem Roman „Sekunden der Gnade“ eingearbeitet hat. Die Proteste der Bevölkerung haben einen großen Anteil an der Geschichte, die Suche Mary Pats nach ihrer Tochter sowie der Mordfall an dem schwarzen Jugendlichen werden in die damaligen realen Ereignisse eingebunden. Realitätsbezug und fiktionale Erzählung gehen eine hochinteressante und unglaublich spannende Verbindung ein. Das Ergebnis ist ein Kriminalroman der Extraklasse. Die Protagonistin Mary Pat hebt diese Besonderheit noch hervor, da der Autor sie mit Merkmalen ausstattet, die beim Leser auf viel Ablehnung stoßen. Dennoch verdient die Protagonistin den größten Respekt des Lesers, da sie im Verlauf der Handlung über sich hinauswachsen wird. „Sekunden der Gnade“ ist großes Erzählkino! Bitte mehr davon, Mr. Lehane.
© Renie
!ein Lesehighlight 2023!
Klappentext:
„Boston, 1974. Die Stadt kocht. Künftig sollen schwarze Kinder mit Bussen in weiße Schulen gebracht werden und vice versa. Angst geht um und Hass. Eines Nachts kehrt Mary Pat Fennessys 17-jährige Tochter Jules nicht nach Hause zurück. Mary Pat beginnt Fragen zu stellen, stößt auf Schweigen und Widersprüche, bis sie versteht: Man hat ihr das Letzte genommen, was ihr in dieser Welt Halt gab. Außer sich vor Schmerz macht sie sich auf, um Rache zu nehmen an den Verantwortlichen – und um ihre eigene Schuld abzutragen. Um jeden Preis.“
Dieses Mal mein Fazit zuerst: Dieses Buch ist wieder Mal ein typischer Lehane! Seine Geschichte „Sekunden der Gnade“ ist äußerst atmosphärisch und im höchsten Maße emotional. Ein grandioses Buch! 5 Sterne hierfür!
Autor Dennis Lehane hat mit seiner aktuellen Story definitiv keine leichte Kost seinen Lesern beschert. Wer Dehane und seinen Schreibstil kennt, weiß das aber auch. In dieser Story bewegen wir uns in Boston in den anfänglichen 1970 Jahren. Schwarze und Weiße, Rassentrennung sind in den Adern der Menschen fest eingebrannt aber genau das soll sich nun ändern. Die Schulkinder, egal welcher Hautfarbe, sollen gemeinsam in den Schulbussen sitzen. Nun ist endgültig das Pulverfass entzündet! Klüfte tun sich auf, Meinungen werden hinaus geschrien und Rechte wollen verteidigt werden. Allein diese Zeitendarstellung ist Lehane grandios gelungen. Man spürt durch das Buch die beiden Lager aufbrodeln, möchte am liebsten selbst Partei ergreifen, möchte allen am liebsten ins Gewissen reden aber wir sind nur die stille Leserschaft dieser Zeilen. Wir werden des Weiteren mit dem Mutter-Tochter-Gespann Mary Pat (eine äußerst harte Frau in meinen Augen, die keineswegs Ängste scheut) und Jules (in einem Alter, in dem man mit einer gewissen jugendlichen, vielleicht naiven Weitsicht manchmal mehr sieht als die Erwachsenen zu sehen glauben) Fennessys betraut. Um hier im farblichen Spektrum zu bleiben: sie wohnen im weißen Viertel und dieses ist mit den Vorbereitung von Demonstrationen etc. gegen die schwarze Bevölkerung beschäftigt. Lehane führt uns Leser hier wie über ein Schachbrett. Fragt sich nur welche Farbe gewinnt?! Seine Züge in der Geschichte sind bestens austariert und genau beschrieben. Er zeigt dem Leser beide Seiten auf, ist keineswegs wertend und schreit mit jedem verfasstem Wort die Probleme von Damals in das Hier und Jetzt hinaus. Diese sind voller Wut, voller Ärger und auch Hass. Ja, Rassendiskriminierung ist leider noch immer aktuell und es scheint nirgend auf der Welt ein Ende dazu in Sicht zu sein. Egal ob Hautfarbe oder Religion ode sonst etwas. Kurzum: Lehans Geschichte hat an Aktualität keinen Millimeter verloren! Mary Pats Tochter ist verschwunden und wir müssen vom schlimmsten ausgehen - aber lesen Sie selbst. Mary Pat versucht schlussendlich alles um an die Gerechtigkeit zu glauben, nur ist das wirklich die Wahrheit? Das Buch ist jede Seite, jedes Wort wert gelesen zu werden! Es fesselt, es beschäftigt, es rüttelt auf und es hallt im unglaublichen Sinne nach!
Haben wir aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt?
Mit - Sekunden der Gnade - veröffentlicht der Diogenes Verlag am 23.08.2023 einen Roman, der sicher Viele begeistern und zum Nachdenken anregen kann.
Zum Inhalt:
Boston 1974 in den USA. In der Gesellschaft brodelt es. Die Hitze des Sommers ist schwer auszuhalten.
Aufgrund eines Gesetzesentscheid sollen Kinder fortan in den Schulen nicht mehr aufgrund ihrer Hautfarbe getrennt, unterrichtet werden. Um eine faire Verteilung zu erreichen, sollen im nächsten Schuljahr farbige Kinder mit Bussen. in weiße Schulen gebracht werden.
Ebenso werden weiße Schüler in vormals ausschließlich "farbigen" Schulen gemeinsam unterrichtet werden...
Eine Entscheidung, die bei vielen Ängste & Hassgefühle schürt.
Ebenfalls in diesem Sommer: die 17- jährige Jules Tochter von Mary Fennessy verschwindet spurlos. Ihre Mutter versucht sie auf eigene Faust zu finden. Anstatt Antworten gewinnt Mary Gewissheit, dass das Liebste ihr genommen wurde.
Ihrem Hass und Verzweiflung folgend, will sie nun Rache üben.
Der Autor Dennis Lehane: ist ein inzwischen mit Preisen ausgezeichneter amerikanischer Schriftsteller. Für seine Bücher wurde er immer wieder ausgezeichnet und Preise gewonnen.
Er lebt & arbeitet in Boston/Mass. USA.
Die deutsche Übersetzung ist von Malte Krutsch.
Mein persönlicher Eindruck
Erzählstil, Übersetzung, Lesefluss, Thematik und Gesamtkonzept:
Dieses Buch war für mich das Erste von Dennis Lehane.
Ja, ich habe von ihm vorab schon gehört gehabt, aber bisher keinen eigenen Eindruck gewinnen können. Das wollte ich mit diesem Buch ändern.
Die deutsche Übersetzung: ist gut und flüssig lesbar.
Die Geschichte wir in dem damals üblichen Jargon & Wortlaut wiedergegeben. Dieses lässt alles noch viel authentischer erscheinen. Natürlich ist auch der Realitätsbezug in diesem Werk ein wichtiger Faktor. Die Emotionen der Protagonisten werden sehr gut beschrieben.
Die gesamte Erzählung nimmt mich total gefangen.
Ich sehe leider so viele Analogien zu dem heutigen politischen Geschehen in den USA. Es ist erschreckend. Die Story fungiert wie ein Spiegel in dem sich die homophobe Einstellung vieler Bevölkerungsteilen im In - & Ausland zum Greifen nahe, spiegeln.
Zusammenfassung & Fazit:
Ein wichtiges Thema, dass viele Menschen unbedingt lesen sollten. Hier spricht eine vergangene, homophobe Zeitepoche zu uns. Wir, die wir schon wieder beginnen, Menschen, die vermeidlich anders sind, zu verurteilen und zu verunglimpfen.
Ich vergebe überzeugte 5*Lesesterne & verbinde diese mit einer ausdrücklichen Leseempfehlung an alle, die gern über Fakten lesen & nachdenken.
Ich kann mir vorstellen, dass dieses Buch im Schulunterricht ein bewegendes Werkzeug sein kann. Sollten wir doch alle aus unseren gemeinsamen Fehlern, der Vergangenheit lernen.
ISDN: 978-3257072587
Seitenzahl: 400
Formate: elektr. & Taschenbuch
Rassismus, Gewalt und Korruption
1974 - Ein heißer Sommer in Boston und die Stimmung wird noch mehr aufgeheizt mit dem Beschluss, dass die Rassentrennung an öffentlichen Schulen aufgehoben wird und die Schulkinder mit Bussen hin und her gekarrt werden sollen.
Im Mittelpunkt der Geschichte steht Mary Pat Fennessy, eine 42jährige Krankenschwester, die in ihrem Leben schon sehr viel Leid erfahren hat. Ihr erster Ehemann ist gestorben, vom zweiten lebt sie getrennt und ihren Sohn Noel hat sie durch eine Überdosis Heroin verloren. Als eines Nachts ihre 17jährige Tochter Jules nicht mehr nach Hause kommt, läuten bei Mary Pat alle Alarmglocken. Doch bei ihrer Suche und ihren Fragen trifft sie immer wieder auf eine Mauer aus Schweigen und auch die Polizei kann ihr nicht wirklich helfen. Wut und Hass lassen nicht nur ihre persönliche Situation eskalieren.
Die Story ist definitiv nichts für schwache Nerven, hier wird mit Gewalt und Blut nicht gespart. Der Plot überzeugt allerdings mit gut aufgebauten Szenen und lebendigen Figuren.
Dennis Lehane hat in seinem Buch die sozialen Spannungen in Boston der 70er Jahre perfekt mit den Handlungen von Mary Pat's Rachefeldzug verwoben. Der brodelnde Hass zwischen Schwarz und Weiß ist geradezu mit Händen greifbar und die gesellschaftskritische Message der Geschichte regt zum Nachdenken an.
Der Schreibstil des Autors hat mich so gefesselt, ich konnte das Buch nicht mehr aus der Hand legen und gebe für diese erstklassige Unterhaltung eine klare Leseempfehlung.
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