Seemann vom Siebener: Roman

Arno Frank hat mich schon mit seinem Erstling „ So, und jetzt kommst du“, einem autobiographisch grundierten Roman, restlos überzeugt. Dort schickte er eine Familie mit einem Hochstapler als Vater auf ihrer Flucht durch halb Europa.
In seinem neuen Buch dagegen beschränkt er sich in Ort und Zeit „ Seemann vom Siebener“ spielt an einem einzigen Tag in einem Freibad. Wie in einem Kammerspiel lässt er hier unterschiedliche Figuren aufeinandertreffen.
Es ist einer der letzten heißen Sommertage. Das treibt einige in Ottersweiler, einer Kleinstadt in der pfälzischen Provinz, ins heimische Freibad. Renate, kettenrauchend und kreuzworträtsellösend, sitzt an der Kasse. An ihr ziehen alle vorbei, Stammgäste wie Isobel Trautheimer und andere, die eher selten kommen, wie Josefine. Über allen wacht Kiontke; als Bademeister Herr über den Platz und zuständig dafür, dass alles sauber ist und funktioniert.
Arno Frank erzählt wechselweise aus verschiedenen Perspektiven. Dabei gewinnen die Figuren langsam an Profil, bekommen ihre eigene Geschichte.
Isobel, frühere Gymnasiallehrerin, kennt beinahe alle, die hierherkommen. Und sie kennt das Freibad von Anbeginn, hat doch ihr verstorbener Mann das Bad entworfen. Sie ist körperlich noch fit, schwimmt täglich ihre Runden, doch ihr Kopf lässt nach. Immer wieder hat sie Aussetzer, die sie zu verbergen sucht.
Lennart, weit gereister und berühmter Photograph, ist zur Beerdigung seines früheren Kumpels Max in seine Heimatstadt zurückgekehrt. Beruflich ausgebrannt steht er an einem Kipppunkt seines Lebens. Ein Besuch im Schwimmbad weckt Erinnerungen an früher. Und hier trifft er auf Josefine, seine Jugendliebe. Doch auch die fragt sich gerade, wie ihr Leben weitergehen soll, nach dem Unfalltod ihres Mannes.
Die Erzieherin Melanie kommt mit ihrer Kindergartengruppe, um heute mit denen das „ Seepferdchen“ abzulegen. Und dann ist da noch das namenlose Mädchen, das an diesem Tag unbedingt den „Seemann“ vom Siebener machen möchte. Und das, obwohl der Siebener - Turm seit jenem Unglück gesperrt ist.
Dieser Unfall liegt wie eine dunkle Wolke über dem ansonsten wolkenlosen Tag. Nur in Andeutungen erfährt der Leser immer mal wieder etwas darüber und erst am Ende wird man Genaueres wissen und mit viel Aufmerksamkeit auch hinter die erzählerische Pointe kommen.
Kiontke z.B. fühlt sich verantwortlich und macht sich Vorwürfe, obwohl ihn keine Schuld daran trifft. Und das Mädchen hat sich seit jenem Tag völlig von der Welt zurückgezogen. Sie ist auch die Einzige, bei der Arno Frank aus der Ich- Perspektive erzählt. Bei allen anderen wendet er die personale Erzählform an.
Beide Erzählperspektiven erlauben ihm aber, ganz dicht an seinen Figuren zu sein.
Doch neben dieser Tragödie geht es auch um kleinere und größere Dramen im Leben der handelnden Figuren. Das alles wird mit leichter Hand und viel Humor und einer gewissen Melancholie erzählt. Dabei beweist Arno Frank Empathie, ein Gefühl für Spannung und sprachliches Können. So gibt er z.B. jeder seiner Figuren einen eigenen unverwechselbaren Ton. Und beinahe jede hätte das Potential für einen eigenen Roman.
Am Ende bleibt zwar manches offen; es liegt nun an der Phantasie des Lesers, sich auszumalen, wie es weitergehen mag.
Arno Frank versteht es auch meisterhaft, die Atmosphäre eines Sommertages im Freibad heraufzubeschwören. Man hört das Gelächter und Schreien vom Beckenrand, das Plätschern der Duschen, riecht die Mischung aus Sonnenöl und Pommes - Geruch, schmeckt die vertrauten Aromen der alten Eissorten vom Kiosk. Das weckt sicherlich bei vielen Lesern nostalgische Gefühle.
Dabei ist das Buch auch eine Liebeserklärung an das gute, alte Freibad, das man heute beinahe nur noch in der Provinz antrifft. Ohne großen Schnickschnack, ohne irgendwelchen Wellness - oder Fun- Bereich. Doch sein Ende scheint auch in Ottersweiler in greifbare Nähe gerückt zu sein.
„ Seemann vom Siebener“ ist ein unterhaltsamer, aber keineswegs banaler Roman, dem ich viele Leser wünsche.
Der „Seemann“ ist übrigens ein Kopfsprung, bei dem die Arme hinter dem Rücken bleiben.
Arno Frank entführt uns in ein Freibad in der pfälzischen Provinz. Es ist ein heißer Tag am Ende der Sommerferien. Wir sind nah dabei, wenn Bademeister Kiontke und Kassiererin Renate die letzten Vorbereitungen vor der Öffnung des Bades treffen und lernen zunächst in kurzen, fein beobachteten Alltagsszenen die wichtigsten Charaktere des Romans kennen.
Sie alle werden diesen Tag im Freibad verbringen und dabei mit ihren persönlichen Erinnerungen und ihrer gegenwärtigen Situation konfrontiert werden.
Rasch wird klar, dass das Schwimmbad vor einigen Jahren Ort eines großen Unglücks gewesen sein muss, unter dessen Folgen einige immer noch leiden; zudem drückt ein kürzlich stattgefundener Verkehrsunfall auf die Stimmung.
Von Beginn an versteht es Arno Frank durch kleine Hinweise Spannung aufzubauen, aber auch in die Irre zu führen.
Im Freibad sind alle Schichten und Altersgruppen der kleinen Gemeinde präsent, so dass wir ganz nebenbei noch einen kurzen Blick auf das Soziogramm und die gesellschaftlichen Gegebenheiten innerhalb des Ortes werfen können.
Die Stärken dieses ruhig erzählten, melancholischen, zuweilen aber auch äußerst amüsanten Romans liegen in der authentischen Figurenzeichnung, der präzisen Beschreibung von Alltäglichem, der Schaffung einer überzeugenden Schwimmbadatmosphäre inklusive Geruch von Chlor, Frittierfett und Sonnencreme sowie dem Geflecht aus dezent platzierten Hinweisen, die am Ende alles in einem neuen Licht erscheinen lassen und für einen Gänsehautmoment auf der letzten Seite sorgen. Nach Beendigung der Lektüre musste ich das Buch erneut aufschlagen, die Szenen mit dem Mädchen und ihrem Bruder noch einmal lesen. Dabei staunte ich, wie sich meine Wahrnehmung mit der letzten Szene komplett verändert hatte. Großartig!
Arno Frank zeichnet seine Figuren dicht, mit großer Empathie und stattet alle mit einer eigenen Sprache aus. Beim Lesen hatte ich filmreife Bilder und Szenen vor Augen. Erstaunlich auch, wieviele Informationen über das Leben, den jeweiligen Charakter und die Gedanken der Hauptfiguren auf relativ wenigen Seiten enthalten sind.
In diesem kleinen Roman steckt sehr viel mehr als auf den ersten Blick sichtbar ist, weshalb ich langsames, konzentriertes Lesen empfehle.
Menschen im Schwimmbad – ihr Leben, ihre Erinnerungen, ihre Probleme, ihre Beziehungen zueinander
Witzig: zuerst gefiel mir das Buch wegen der zu saloppen Umgangssprache nicht, nun gebe ich 5 Sterne. Man soll eben nicht vorschnell urteilen. Daher kann ich die Empfehlung aussprechen, sich ganz auf die Geschichte einzulassen, langsam zu lesen und die versteckten Hinweise zu einem Bild zusammensetzen.
Es geht um das Schwimmbad in einer Kleinstadt, das noch ganz altmodisch ist, kein Spaßbad, wie es heute modern ist und wie es auch ein bisschen kritisch anklingt. Nein, es ist alles ein wenig spießig und weckt bei manchen Lesenden vielleicht Erinnerungen an die eigene Jugend. Die manchmal etwas derbe Umgangssprache und auch der hin und wieder verwendete Dialekt ist ausschließlich an bestimmte Personen gebunden. Andere denken und sprechen ganz anders und das nimmt manchmal fast poetische Formen an und äußert sich in kreativen Formulierungen: 'als sich das Leben wieder zurechtgeruckelt hatte...' (7), 'Anblicke, die wie eine Kettensäge durch die Seele gehen' (9).
An diesen beiden Formulierungen merkt man aber schon, dass etwas Schlimmes passiert sein muss, das wahrscheinlich mit dem Bad und dem Schwimmmeister Kiontke zu tun hat und auch die anderen Menschen immer noch beschäftigt. Kiontke und ein paar andere Personen werden in kurzen Kapitelchen vorgestellt; man lernt sie näher kennen und auch die Beziehungen der Personen untereinander.
Da ist ein traumatisiertes Mädchen, eine gelangweilte Kassiererin, der schon erwähnte Kiontke, der mit etwas Schlimmem fertig werden muss, die ehemalige Lehrerin, die dement zu werden beginnt, die frisch verwitwete Josefine vom Gestüt und Lennart, der Fotograf, der sich in einer Schaffenskrise befindet und jetzt in seinem Heimatort ist, um an der Beerdigung von Josefines Mann teilzunehmen – sie alle treffen sich im Schwimmbad, sie alle kennen sich und es ist interessant zu beobachten, wie ihre Erinnerungen ein immer genaueres Bild ergeben und wie sich ihre Beziehungen zueinander entwickeln.
Vieles löst sich am Ende auf, viele Fragen werden beantwortet, aber nicht alle, so dass man keine endgültigen Lösungen erwarten darf und das Buch mit einer Ungewissheit zuklappen muss, die auch das wirkliche Leben bestimmt.
Wer damit als Leser:in leben kann, für den ist dieses Buch empfehlenswert: vielschichtige Personen, Gedanken, die nachhallen, feinsinnigen Beobachtungen in bildhafter, fast poetischer Sprache.
P.S. Nicht unerwähnt lassen möchte ich zwei Aspekte: Die farbliche Gestaltung ist vom Feinsten. Das Coverbild passend in Blau, innen türkis wie das Wasser im Schwimmbad. Vor allem aber ist dieses Buch umweltfreundlich: die kurzen Kapitel sind durch eine Tilde ~ getrennt und es wurde nicht jeweils eine halbe Seite frei gelassen, wie ich es gerade bei einem anderen Buch erlebe.
Ein Badetag mit Tiefgang
Auf den ersten Blick wird hier ein Sommertag in einem Freibad der deutschen Provinz geschildert. Da sind zum einen die unterschiedlichen Besucher. Allen voran die namenlose Ich-Erzählerin mit dem ihr lästigen Bruder im Schlepptau. Sie hat heute Großes vor: Sie will den Seemann vom Siebenmeterbrett springen, einen Sprung, der äußerst schwierig ist und viel Konzentration erfordert. Langsam tastet sie sich an die Aufgabe heran, indem sie zunächst aus niedrigerer Höhe springt. Der Bruder ist skeptisch, traut ihr den Sprung nicht zu. Zwischendurch beobachtet sie das Treiben in und um die Becken. Die letzten warmen Sommertage locken viele Menschen ins kühle Nass.
Verwundert sind die Badegäste, ausgerechnet heute Josefine Brinkmann beim Schwimmen anzutreffen. Schließlich ist ihr Mann Max, Sohn des erfolgreichsten Unternehmers der Stadt, kürzlich mit dem Auto verunglückt. Später am Tag soll die Beerdigung stattfinden. Auch Max´ Schulfreund Lennart, ein berühmter Fotograf, kommt aus diesem Anlass in die Heimat, geht zunächst aber ins Freibad. Erzieherin Melanie hat zehn quirlige Kindergartenkinder mitgebracht, die heute das Seepferdchen ablegen sollen. Die hoch betagte, pensionierte Lehrerin Isobel Trautheimer kommt täglich zum Ziehen ihrer Bahnen, sie war mit dem bereits verstorbenen Erbauer des Schwimmbades verheiratet. Ihre demenzielle Erkrankung bringt es mit sich, dass sich ihre Erinnerungen verselbständigen und sie aus der Zeit treiben lassen. Es hat durchaus etwas Rührendes, wenn ihre Rückblicke sie in glückliche Ehejahre und zur Entstehungsgeschichte des Freibads leiten, dessen Zukunft heute mehr als ungewiss ist.
Jeder scheint jeden zu kennen, das Freibad wirkt wie eine Art Mikrokosmos, der jedem Leser bekannt vorkommt, weil sich die mittlerweile aussterbenden Freibäder in der Provinz so sehr ähneln. Man bekommt nostalgische Gefühle, so präzise und authentisch wird der Schauplatz beschrieben. Die individuellen Gedanken der Protagonisten werden ergänzt durch Begegnungen, Gespräche und Beobachtungen der Figuren unter- und übereinander. Neben der Ich-Erzählerin steht Bademeister Kiontke im Fokus. Er ist seit Jahrzehnten eine feste Instanz und kümmert sich um Ordnung, Sauberkeit und die technischen Abläufe im Bad. Zum weiteren Personal gehören Renate an der Kasse und Sergej hinter der Kiosktheke.
Bereits auf der ersten Seite des Romans wird klar, dass Kiontke durch ein schweres Unglück belastet ist, das vor etwa drei Jahren am Sprungturm geschah. Trägt er die Schuld oder zumindest die moralische Verantwortung dafür? Oder ist er nur das Opfer übler Nachrede? Was genau passiert ist, erfährt man erst nach und nach, dass es den Bademeister aber nachhaltig bis in seine Träume hinein verfolgt, spürt man dauerhaft. Dieses Unglück schwebt wie ein Schatten über der Handlung und durchzieht den Roman mit latenter Melancholie. Daneben gibt es aber auch allerhand alltägliche, lockere und zuweilen lustige Szenen. Die Späße von Witzeerzähler Sergej mögen nicht die neuesten sein, zum Lachen sind sie aber allemal. Die Figuren treffen aufeinander, entwickeln im Zusammenspiel ihre eigene Dynamik. Es passiert de facto nicht viel, aber doch wird die Handlung kontinuierlich vorangetrieben, das Menschliche dominiert. Man spürt, dass etwas von Bedeutung in der Luft liegt, zentral dabei ist der titelgebende Sprung vom (seit dem Unglück gesperrten) Siebener.
Jede Figur hat ihren eigenen Hintergrund, der sachte und mit einfühlsamer Hinwendung offengelegt wird. Dabei treten verschiedene Themen, Probleme und Sehnsüchte hervor, die die einzelnen Menschen umtreiben: Wunsch nach Veränderung, Orientierung oder Neuanfang; Umgang mit Alter, Tod und Verlust; Brüche im Leben, vergangene Liebe, alte Freundschaften; Heimat, Herkunft, Rückkehr und anderes mehr. Man lernt das Figurenkarussell immer besser kennen, dringt in die Tiefe der vielschichtigen Charaktere ein. Die einzelnen Perspektiven wechseln sich ab, was die Lektüre extrem kurzweilig macht, aber auch den ein oder anderen Cliffhanger mit sich bringt, so dass man das Buch kaum aus der Hand legen mag.
Stilistisch beherrscht der Autor sein Handwerk. Jede Perspektive hat ihren eigenen unverwechselbaren Ton. Insbesondere die Ausführungen der Ich-Erzählerin regen mit ihrer Allgemeingültigkeit und Tiefe zum Nachdenken an, viele Sätze mag man sich herausschreiben.
Arno Frank ist es gelungen, einen absolut nicht alltäglichen Sommerroman zu schreiben, der immer mehr Tiefgang entwickelt und zum Ende mit einem großartigen, bemerkenswerten Twist zur Höchstform aufläuft – wenn man den Roman denn aufmerksam gelesen hat. Denn Konzentration ist notwendig, um all die kleinen Hinweise zu erkennen, die am Ende ein Ganzes ergeben und die wichtigsten Fragen klären. Für mich ganz ein herausragendes Buch, das definitiv Lust auf weitere Werke des Autors macht und breite Leserschichten jeden Alters ansprechen sollte. Riesige Leseempfehlung!
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