Schwäbisches Capriccio
Mein Lese-Eindruck:
Ein junger Lette, gebildet, aus gutem Haus, wird durch die kriegerischen Ereignisse zum Heimatlosen und strandet eher zufällig in der kleinen Stadt Pfifferlingen auf der Schwäbischen Alb. Die autobiografischen Bezüge sind unübersehbar, und man kann davon ausgehen, dass der Protagonist das Alter Ego des Autors ist, der ebenfalls auf der Flucht vor der Roten Armee einige Jahre im Schwabenland verbrachte.
Vier Jahre wird Dursts dort bleiben, so wie der Autor auch, und seine Erinnerungen legt er in mehreren Episoden vor. Es sind skurrile und schwankhafte Geschichten, die oft genug an die Schildbürgerstreiche erinnern, aber in fast allen Geschichten schwingt auch etwas Bitteres mit. Der Blick des eher großbürgerlichen Ausländers auf die Schwaben ist nicht frei von Kritik. Er sieht die sprichwörtliche Sparsamkeit der Schwaben, wenn er mit subtiler Ironie z. B. die außergewöhnlich feinen Schneidemaschinen der schwäbischen Metzger erwähnt. Oft genug schlägt die Sparsamkeit in Geiz und auch Gier um. So zerlegt z. B. ein Pfifferlinger gierig ein verwehtes Dach in seine Einzelteile, bevor er merkt, dass es sich um das Dach seines eigenen Stalles handelt. Es sind aber nicht nur schwäbische Eigenschaften, sondern vielleicht auch allgemeinere deutsche und auch menschliche Eigenschaften, die er fein dosiert vorführt. Es ist nicht nur der schwäbische, es ist auch der deutsche Spießbürger, den er betrachtet.
Und diesem Spießbürger hält er wie schon Eulenspiegel einen Spiegel vor, und damit es nicht allzu weh tut, verkleidet er seine Beobachtungen in kleine Schwänke, über die man als Leser getrost lachen kann.
Die Geschichten spielen am Ende des I. Weltkriegs, aber Pfifferlingen liegt abseits der großen Zeitgeschichte. Trotzdem zeigt sich ab und an ein Widerhall. Auch in Pfifferlingen sind die Lebensmittel rationiert, der Schwarzmarkt blüht, die Leute hamstern und horten, Geldentwertung, Armut, Kriegsgewinnler – all das findet in den Geschichten ein Echo. Auch das unbeschadete Erstarken der alten Nazi-Funktionäre und die fehlende Entnazifizierung beobachtet Eglitis sehr genau, wenn er seinen Protagonisten sagen lässt: „Nie hatte Hitler so viele Gegner gehabt wie nach der Kapitulation.“ Auch diese sehr kritischen Befunde kommen eher nebenher zur Sprache, freundlich verpackt in einen heiter-ironischen Ton.
Und immer wieder thematisiert er sein Heimweh. Schon im 1. Kapitel erzählt er es seinem Leser, wenn er eine Übernachtung im Gasthaus "Zum Bären" ablehnt, weil der Name ihn offensichtlich an den russischen Bären erinnert. Der Schmerz über den Verlust seiner Heimat Lettland ist unüberhörbar, aber gerade durch die kurzen Erinnerungen sehr eindringlich.
Die Episoden bestechen durch eine wunderbar elegante und leichtfüßige Sprache, mit witzigen Vergleichen und viel subtiler und humorvoller Ironie. Ein absoluter Lesegenuss!
Schön, dass der Guggolz-Verlag uns diesen Schriftsteller zugänglich gemacht hat!
Vier Jahre lang hatte der Schriftsteller Anšlavs Eglītis (1906 – 1993) während seines Exils in Tailfingen auf der Schwäbischen Alb Zeit, die Eigenheiten der Älblerinnen und Älbler und ihr Miteinander zu studieren. 1944 aus seiner Heimat Lettland vor der vorrückenden Roten Armee geflohen und in Berlin ausgebombt, strandete er Anfang 1945 auf dem Weg in die Schweiz zufällig in der schwäbischen Kleinstadt, die er erst 1949 Richtung USA wieder verließ. Diese Eckdaten stimmen, obwohl das 1951 im US-Exil erschienene Buch "Schwäbisches Capriccio" gewiss keine Autobiografie ist, mit denen seines Protagonisten Pēteris Drusts überein. Auch der will zunächst nur eine Nacht in „Pfifferlingen“ bleiben:
"Was für eine lächerliche Vorstellung, ohne Not in diesem unbedeutenden Nest zu bleiben." (S. 15)
In 20 Episoden, in denen Pēteris Drusts nicht immer selbst auftaucht, werden die Pfifferlingerinnen und Pfifferlinger auf höchst unterhaltsame Art lebendig. Manche tauchen mehrmals auf, bei anderen weiß man es wegen häufiger Namensgleichheit nicht genau, denn bei den Vor- und Nachnamen herrscht wenig Kreativität. Überhaupt ist der Gleichklang in Pfifferlingen groß: die Hausfrauen führen ihre Arbeiten synchron durch, alle Einwohnerinnen und Einwohner haben die gleichen roten Wangen, mutmaßlich wegen der arktischen Temperaturen in den ungeheizten Schlafzimmern, und die "Liliputhäuschen" sind einheitlich weiß und adrett.
Am Ende der Welt
Warum aber bleibt der studierte Weltbürger Drusts trotz des merkwürdig unverständlichen Dialekts, der sprichwörtlichen Sparsamkeit bis hin zum peinlichen Geiz, dem ungenießbaren Most, der allgemeinen Schläfrigkeit und bisweilen Einfältigkeit, sonderbaren Traditionen, dem Beharren auf dem Althergebrachten, der übersteigerten Standorttreue und der Ignoranz der Welt draußen trotzdem ganze vier Jahre in diesem „schlimmen Krähwinkel“? Schon als seine Zimmerwirtin ihm die erste Mahlzeit serviert, schwant ihm, solche „Provinznester“ könnten ihre Vorzüge haben. Und wirklich:
"In ganz Europa tobte der Krieg, aber in Pfifferlingen bekam man davon so gut wie nichts mit." (S. 59)
Nach der Trümmerstadt Berlin ist Pfifferlingen zwar ein überaus spießiges Provinzstädtchen, dafür aber intakt und gepflegt und mit optimal an ihren Mikrokosmos angepassten Einheimischen. Man grüßt freundlich, nie herrscht Eile, ein natürlicher Widerspruchsgeist sorgt für den kreativen Umgang mit Anordnungen von oben oder außerhalb und Ausländern geht es „eindeutig besser als in Preußen“ (S. 43), ein Landstrich, der bei Drusts nach den verhassten Russen ebenfalls schlechter wegkommt als Schwaben. Beim Abschied schwingt daher Wehmut mit:
"Er verspürte eine eigenartige Wärme gegenüber dieser fremden Stadt, die ihm einen friedlichen und behaglichen Unterschlupf gewährt hatte." (S. 294)
Nicht nur heiter
„Ein ungewöhnliches Buch, das in keine Kategorie passen will“, nennt der Übersetzer Berthold Forssman "Schwäbisches Capriccio" in seinem vorzüglichen Nachwort, und das Titelblatt nennt keine Genrezuordnung. Für mich ist es trotz der Einzelepisoden ein Roman: mit der Kleinstadt Pfifferlingen als durchgängigem Protagonisten und einem Schlusskapitel, das virtuos den Bogen zum Anfang schlägt, was das Buch großartig abrundet.
Auch oder gerade als Schwäbin habe ich "Schwäbisches Capriccio" mit großer Freude gelesen und darüber gegrübelt, was davon typisch schwäbisch, deutsch oder einfach ländlich ist. Ich habe über die grotesk überzeichnete Pfifferlinger Einfalt, die messerscharfe Beobachtungsgabe des Autors und seine humorvoll-bissige Erzählweise gelacht, wurde ernst bei Themen wie der sowjetischen Okkupation Lettlands oder der zweifelhaften deutschen Entnazifizierung und war gerührt von Pfifferlinger Befindlichkeiten, Drusts Heimweh oder seinem Liebeskummer.
Ein weiterer neuentdeckter Klassiker aus dem Verlag Guggolz, dessen Lektüre sich unbedingt lohnt.
Kurz vor Ende des Zweiten Weltkrieges – ein Mann auf der Flucht, ein Lette namens Pēteris Drusts, der im Zug durch zerbombte trostlose deutsche Städte und Landschaften fährt, mit unklarem Ziel. Nur durch Zufall steigt er an einem Bahnhof um, in einen kleinen Zug, der ihn nach Pfifferlingen bringt. Allein schon der Name dieses idyllischen Städtchens in einem Tal der Schwäbischen Alb! Aber erst seine Bewohner! Da ist zuerst mal ein im Dunkeln kaum erkennbarer neugieriger, aber hilfsbereiter Mitreisender, der sich später als eine Frau Bitzer entpuppt, die Drusts hilft, eine Unterkunft zu finden. Und was eigentlich nur kurz dauern sollte, wurde ein Aufenthalt von fast drei Jahren.
In dieser Zeit lernen wir durch die Augen Drusts die Pfifferlinger Bürger und Bürgerinnen kennen, von denen viele den gleichen Namen tragen, z.B. Bitzer. Mit viel Humor und liebevoller Ironie beschreibt der Autor Anšlavs Eglītis die Marotten, Schrullen und Eigenschaften der Menschen im Städtchen. Dabei versteckt er auch einiges an Gesellschaftskritik in den lose zusammenhängenden Episoden und Geschichten. Mal ist Drusts Beteiligter, mal stiller Beobachter, der die menschlichen Schwächen und schlechten Eigenschaften aufs Korn nimmt. Was dieses Buch in meinen Augen zu einem Klassiker macht, ist die Allgemeingültigkeit, die Übertragbarkeit, denn man meint, in dem ein oder anderen Pfifferlinger Bekannte zu entdecken. Indem Drusts sehr genau beobachtet, vergleicht und beurteilt und damit immanent Gesellschaftskritik übt, legt er allgemein menschliches Verhalten offen und bloß.
Da werden Kriegsgläubigkeit und die Nazis kritisiert, Geiz, Neid und Missgunst, Karrierestreben und Geltungssucht, sich Unrecht 'schön reden' u.v.m. Das alles wird in einzelnen Geschichten erzählt, die lose miteinander verbunden sind und bei denen manchmal ein wenig übertrieben wird. Wie immer bei solchen Sammlungen gefallen einige Episoden mehr, andere weniger. Meine Lieblingsgeschichte war die mit der zarten, ätherischen Melusine, die sich am Ende als pragmatische Metzgerstochter entpuppt, nicht nur köstlich zu lesen, sondern auch sprachlich umwerfend originell, wenn die Elemente ihrer Schönheit mit Rinderleber, Räuchersalami u.a. Metzgereiprodukten verglichen werden.
Außer einer oft poetischen, bildhaften Sprache finden sich auch zitierenswerte Sätze, hier zwei Beispiele:
'...Andeutungen, Gesten und Geräusche krochen aus dem Morast seiner Erinnerungen hervor wie ekelhafte Insekten' (102)
'Dem Alltag wohnt eine enorm tröstliche Kraft inne. Er wickelte den Menschen ein wie ein warmes Wollgewand und dämpfte schonungsvoll die Größe und die Schrecken der Welt...' (292)
Und was ist jetzt eigentlich aus Frau Bitzer geworden, die von Drusts gesucht wurde, damit er ihr die geliehene Taschenlampe zurückgeben kann und auch, weil er neugierig ist? Wird Drusts dort bleiben oder das übliche Emigrantenschicksal erleiden? Das muss jeder selbst lesen... Ich habe das Ende jedenfalls als rund und wunderbar geschlossen empfunden und war auch ein wenig überrascht.
Fazit
Es ist ein 'buntes Kaleidoskop', wie der zu lobende Übersetzer Berthold Forssman in seinem Nachwort anmerkt, aus dem auch hervorgeht, dass der Autor Anšlavs Eglītis sich von eigenem Erleben hat anregen lassen.
Mir hat dieser schelmenhafte Episodenroman ausgezeichnet gefallen. Ich empfehle ihn gerne weiter und werde ihn irgendwann noch einmal lesen.
Vielseitige Portraits aus der schwäbischen Provinz
Der lettische Autor Anslavs Eglitis (1906 – 1993) floh 1944 vor der Roten Armee und strandete zufällig auf der Schwäbischen Alb, wo er einige Jahre verbrachte. „Schwäbisches Capriccio“ dürfte eindeutig durch diesen Aufenthalt inspiriert und Protagonist Peteris Drusts ein Alter Ego des Schriftstellers sein.
Das Buch vereint zwanzig lose verbundene, im fiktiven Städtchen Pfifferlingen angesiedelte Episoden, die die Kriegs- und Nachkriegszeit in der deutschen Provinz beleuchten. Die Stimmungen wechseln von traurig-tragisch bis hin zu ironisch-humorvoll. Sie skizzieren persönliche Schicksale, Kriegserlebnisse, lustige Begebenheiten oder Schelmengeschichten. Oft werden typische Klischees der Schwaben karikiert, sei es sprichwörtlicher Geiz, Pedanterie, Bürokratie, Obrigkeitsdenken oder übertriebene Moralvorstellungen. Viele dieser Beobachtungen dürften auf andere ländliche Regionen übertragbar sein. Die Schrullen der Einheimischen werden kritisch und doch meist liebevoll mit einem Augenzwinkern karikiert. „Pfifferlingen ist wie eine Oase in der Trümmerwüste“.
Aus der Perspektive des Flüchtlings Drusts erlebt man das tragische Kriegsende, die anschließende Wohnungsnot, Lebensmittelrationierung, die reihenweise Verleumdung der Nazi-Gesinnung oder die mangelhafte Entnazifizierung mit. („Nie hatte Hitler so viele Gegner gehabt wie nach der Kapitulation.“) Auffällig sind die vielfältigen Kontraste. Das Schwere wechselt sich mit leichteren Themen ab, die Beobachtungen des menschlichen Zusammenlebens betreffen. Der Autor nimmt dabei schwäbischen Pragmatismus, Bauernschläue, Spießertum oder Berechenbarkeit humorvoll wie pointiert aufs Korn. Hauptpersonen sind Bürgermeister, Firmeneigner, Bürokraten oder Wachtmeister ebenso wie Arbeiter, Hausfrauen, Metzgerinnen oder Schüler. Erinnerungen an Schildbürgerstreiche werden wach. Jede Episode ist ein Juwel für sich, jede ein gesellschaftliches Streiflicht, das sich kaleidoskopartig zu einem Ganzen zusammensetzt. Der Blick ist kritisch und gleichzeitig versöhnlich.
Einzelne Figuren tauchen wiederholt auf. Protagonist Drusts findet sich mal in einer Haupt-, mal in einer Nebenrolle wieder. Mit wenigen Worten schafft der Autor eine intensive Atmosphäre, beschreibt anschaulich seine Schauplätze und vielgestaltigen Figuren. Es gelingt Eglitis trotz der Unterschiedlichkeit seiner Geschichten einen stimmigen Erzählbogen zu spannen, der den Anfang mit dem Ende des Buches verbindet und offen gebliebene Fragen beantwortet. Trotz aller karikierender Überzeichnung wird Eglitis niemals flach oder niveaulos. Er ist ein genauer Beobachter mit Sinn für Nuancen und Zwischentöne.
Dieses Capriccio ist eine Perle des Literaturherbsts, das eine breite Leserschaft ansprechen und begeistern sollte. Hoffentlich wird es dem Guggolz Verlag gelingen, noch weitere Werke dieses talentierten Schriftstellers zu veröffentlichen. Hervorzuheben ist die fein geschliffene Sprache, die von Berthold Forssman perfekt ins Deutsche übertragen wurde.
Riesige Leseempfehlung!