Schnee: Roman

Buchseite und Rezensionen zu 'Schnee: Roman' von Orhan Pamuk
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Inhaltsangabe zu "Schnee: Roman"

Ein Fremder kommt nach Kars, eine türkische Provinzstadt, um eine merkwürdige Serie von Selbstmorden zu untersuchen: Junge Mädchen haben sich umgebracht, weil man sie zwang, das Kopftuch abzulegen. Plötzlich kommt es zu einem Putsch, inszeniert von einem Schauspieler. Ein Theatercoup? Doch es fließt echtes Blut, es intervenieren echte Soldaten, keiner kann die Stadt verlassen, weil es unaufhörlich schneit ... Ein aktueller Roman, in dessen Zentrum die Frage nach der Identität der Türkei zwischen "Verwestlichung" und Islamismus steht.

Autor:
Format:Taschenbuch
Seiten:528
EAN:9783596174560

Rezensionen zu "Schnee: Roman"

  1. 4
    29. Jan 2024 

    Eingeschneit in Kars

    Seit vielen Jahren schon lebt Ka fern seiner türkischen Heimat in Frankfurt und versucht dort, einzelgängerisch als Dichter sein Leben zu gestalten. Doch dann wird er aus familiären Gründen zu einem Besuch in die Türkei zurückgerufen. Dort ist er zunächst in Istanbul, dem Ort, der dem westlichen Deutschland wohl noch am ähnlichsten ist. Doch dann verschlägt es ihn in die tiefen Fernen des türkischen Staates, nach Kars, ganz weit im Osten an der Grenze zur früheren Sowjetunion. Es ist tiefer Winter und die Reise ist mühsam und lang. Aber es zieht ihn nach Kars, nicht nur wegen dem journalistischen Auftrag (über eine Selbstmordserie unter jungen Türkinnen in der Stadt berichten), sondern auch weil es ihn zu einer Frau zieht, die dort wohnt: Ipek, seine Jugendliebe.
    In Kars angekommen stellt er seine journalistischen Recherchen an und kommt mit allen Seiten, die in der Stadt Gewicht und von der Sache (den Selbstmorden) eine Einschätzung haben sollten ins Gespräch. Und zusätzlich versucht er den Kontakt herzustellen zu Ipek, der Tochter des Hotelinhabers, in dem er sich eingemietet hat.
    Die Recherchen zeigen, dass die Selbstmorde im Zusammenhang stehen mit der „Kopftuchfrage“. Haben die jungen Frauen auf den auf sie ausgeübten Druck, das Kopftuch abzulegen und ihr Haupt zu entblößen, mit dem „Ausweg“ Selbstmord reagiert und damit ihre islamisch feste Einstellung – dokumentiert durch das Kopftuchtragen – konterkariert, indem sie eine der größten Sünden begangen haben, nämlich den Selbstmord? Rund um diese Frage und die Recherchen erhält der Leser einen breitgefächerten Einblick in die türkische Gesellschaft fernab der westlichen Städte, mit all den Zwängen, gesellschaftlichen Regeln und Gepflogenheiten.
    Währenddessen schneit es unaufhörlich, so stark, dass die Verkehrswege heraus aus der Stadt unpassierbar geworden sind. Der Aufenthalt Kas in dieser Stadt kann hinsichtlich seiner Dauer also nicht frei von ihm beeinflusst werden. Die gesellschaftlichen Gruppen in dieser Stadt werden durch diese Abgeschlossenheit verstärkt aufeinander losgelassen und die Konflikte, Gegensätze und die Unvereinbarkeiten erhalten in dieser Situation eine besonders ausgeprägte Form. Da sind die Islamisten, die Kemalisten, die Kurden, die Armenier und so viele andere, die hier von Pamuk detailliert vorgestellt und vorgeführt werden. Bei besserer Kenntnis dieser türkischen Gruppen und Richtungen kann die Lektüre sicher noch anregender und erhellender sein als das bei mir als Leserin der Fall war. Jedenfalls steigert sich das ganze zu einem lokalen Putsch im Theater der Stadt, der so lange Erfolg haben kann wie die Stadt durch die Schneemassen abgeschlossen und Hilfe bzw. Gegenwehr von außen nicht möglich ist.
    Kas Rolle in dieser verworrenen Situation ist immer wieder die eines Vermittlers, eines Überbringers von Botschaften von A an B, während er einerseits parallel versucht, die Liebe seiner angebeteten Ipek zu gewinnen, und andererseits seine kreativen Schübe zu nutzen und die Gedichte zu schreiben, die ihm gleichsam zufallen in der Unordnung der Stadt Kars. Für eine kurze Zeit hat der Putsch Erfolg, für eine kurze Zeit kann er das Liebesglück mit Ipek genießen und von einer gemeinsamen Zukunft in Frankfurt träumen, doch dann fährt der erste Zug und die Straße ist wieder passierbar und beides stürzt wie ein Kartenhaus in sich zusammen.
    Erzählt wird die Geschichte von Ka in Kars durch einen Bekannten, der sich einige Jahre später, nachdem Ka in Frankfurt zu Tode kam, auf die Spuren dieser besonderen Reise seines Freundes Ka und dessen Kars-Gedichten begibt.
    Der Roman „Schnee“ bietet interessante Unterhaltung mit hohem Informationswert. Er braucht für den optimalen Genuss wohl einen Leser, der mit den türkischen Verhältnissen besser vertraut ist als ich das bin. Aber auch für den Außenstehenden wird hier ein Stadt- und Gesellschaftspanorama erstellt, das wertvolle und zum Nachdenken anregende Einblicke gibt, auch wenn sich dabei manchmal Längen ergeben, die für den Eingeweihten nicht als solche erscheinen werden. 4 superdicke Sterne werden es deshalb von mir.

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