Schilf im Wind: Roman.

Buchseite und Rezensionen zu 'Schilf im Wind: Roman. ' von Grazia Deledda
3.45
3.5 von 5 (7 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Schilf im Wind: Roman. "

Format:Gebundene Ausgabe
Seiten:400
Verlag:
EAN:9783717525240

Rezensionen zu "Schilf im Wind: Roman. "

  1. Dem Schicksal beugen

    Ein Dorf in Sardinien in den Jahren kurz vor dem 1. Weltkrieg. Dort dient Efix als Knecht auf dem Gut der Schwestern Pintor. Die Damen sind verarmt, leben äußerst abgeschieden und Efix scheint an einer lang vergangen Schuld zu zehren. Als der junge Neffe vom Festland kommt, um von da an auf Sardinien zu leben, bringt dies viel Unruhe in das Gefüge der Schwester, aber auch der ganzen Dorfgemeinschaft, mit sich.

    „Schilf im Wind“ ist das Werk der mit dem Literaturnobelpreis 1926 ausgezeichneten Dichterin Grazia Deledda. Zu deren 150. Geburtstag ist der Roman in einer wunderschönen Ausgabe im Manesse Verlag neu aufgelegt worden.
    „Wir sind das Schilf, und der Wind ist das Schicksal“ ist das Lebensmotto der Menschen in diesem Roman. Die Menschen beugen sich ihrem Schicksal, sind zwischen Glauben und Aberglauben hin und hergerissen.

    Das Werk erinnert in seinem Aufbau und Dramatik an eine klassische Tragödie. Efix, der dienstbare Geist, ist Dreh- und Angelpunkt der Geschichte, in der es immer wieder um Schuld, Buße und Vergebung geht. In der pittoresken Kulisse der sardischen Landschaft wirkt die Geschichte nahezu zeitlos. Die Beschreibung von Natur und Umgebung ist sehr eindrucksstark und plastisch.

    Sehr viele Fußnoten zu Ereignissen, Geografie, sardischen Eigennamen werden im Anhang erläutert. Hier musste sich die Leserin immer wieder entscheiden, aus dem Lesefluss gerissen zu werden, oder Hintergrundinformationen zu versäumen. Ein Nachwort gibt noch einen schönen Überblick über Grazia Deledda und den historischen Kontext zu dem „Meisterwerk“ der Schriftstellerin.

    Schilf im Wind reizt mit seiner altertümlichen Sprache, macht das Lesen damit aber nicht unbedingt zu einer einfachen Sache. Stellenweise zu viel an Kirche und Gebräuchen machen lesemüde, die Handlungen der schuldgebeugten Protagonisten sind (aus unserer modernen Sicht) mitunter nicht immer nachvollziehbar.

    Dieses Buch war dennoch ein lohnender und bildender Ausflug in eine längst vergangene Welt, sprachlich und inhaltlich. Die optisch unglaublich ansprechende Ausgabe ist jedenfalls eine Empfehlung wert.

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  1. 3
    22. Jun 2021 

    Eindrucksvoll aber düster...

    Auf einem halb verfallenen Landgut inmitten der kargen Landschaft Sardiniens, zwischen Granatapfelbäumen und wilden Kaktusfeigen, verbüßt der Knecht Efix eine geheime Schuld im Dienst der Schwestern Pintor. Doch schon bald werden die Frauen in ihrer trostlosen Abgeschiedenheit, gewissermaßen auf einer Insel innerhalb der Insel, von der Vergangenheit eingeholt. Von dieser archaischen, unwirklichen Welt, mit Kobolden, die ihre Schätze verstecken, und Feen, die auf ihren Webstühlen Goldstoffe herstellen, scheint der Mensch nur widerwillig geduldet zu sein.

    Fast zeitlos, dahinströmend im Rhythmus der Naturgezeiten, wirkt das Geschehen in diesem fast märchenhaft anmutenden Werk Grazia Deleddas (1871–1936). Dem Schilf im Wind vergleichbar sind die Menschen, die uns die Nobelpreisträgerin in ihrem Sardinien-Roman vor Augen führt: geduldig, vom Schicksal erfasst, niedergedrückt und von der Liebe schließlich wieder emporgerichtet.

    Naturschilderungen in allen Farbnuancen bilden das Grundgerüst dieses Romans: sehr bildhaft und stellenweise überaus poetisch - aber die teilweise sehr langen Sätze mit den vielen Details und zahllosen Beschreibungen empfand ich durchaus auch als anstrengend. Andererseits tragen gerade diese Schilderungen zur wohl gewollt elegischen Stimmung bei, so dass sie wiederum passend erscheinen.

    Die Stimmung der Erzählung ist leise, melancholisch, und oftmals fast traumhaft (im Sinne von: wie in einem Traum). Ich gewann zeitweise den Eindruck, in etwas Vergangenem festgehalten zu werden, gemeinsam mit den Figuren. Ein karges, armes Leben führen da die meisten, und abgesehen von den täglichen Ritualen gibt es kaum Erwähnenswertes. Kirchenfeste stellen den Höhepunkt im Leben der Dorfbewohner dar, da lassen es sich alle gut gehen und feiern, dann jedoch zieht nur allzu bald wieder der von Armut geprägte, malariaverseuchte, mühsalgeplagte, von Andachten unterbrochene und von Aberglauben bestimmte Alltag ein.

    Ganz im Stile eines klassischen Dramas, kommen die Charaktere dem Leser nicht wirklich nahe. Efix als Knecht der Schwestern Pinto steht im Mittelpunkt des Geschehens. Er ist es, der alles zu richten versucht, sich den Schwestern verpflichtet fühlt, obschon sie ihm schon seit Monaten keinen Lohn mehr zahlen können, und der von einer Schuld zerfressen scheint, die ihm immer mehr von seiner Lebensenergie raubt.

    Schuld und Sühne sind hier ebenso Thema wie Kirche und Aberglaube, die große Armut allerorten gegenüber der übervollen Schönheit der Natur sowie das traditionelle Dorfleben und der Geisterglaube - und dazu durchweg tragische Figuren. Einige Längen - gerade im letzten Drittel des Romans - sowie eine Anhäufung von Schilderungen von Kirchenfesten bewirkten, dass ich das Lesen zeitweise als etwas zäh empfand.

    Zusätzlich hemmten auch die zahlreichen Fußnoten den Lesefluss, die zwar im Text gekennzeichnet sind, dann aber viel weiter hinten im Buch aufgeführt werden: 103 Anmerkungen auf 26 kleinebedruckten Seiten. Ich fand es schwierig zu entscheiden, welche davon ich getrost übergehen konnte und welche unbedingt nachgelesen werden sollten - und so habe ich letztlich fast alle Fußnoten verfolgt, was den Lesefluss jedoch stets empfindlich unterbrach.

    Ich bin tatsächlich etwas zwiegespalten, was diesen Roman anbelangt. Ich habe ihn nicht ungern gelesen - und tatsächlich ist es doch schön, dass solche alten "Schätze" - immerhin von einer Nobelpreisträgerin für Literatur - nicht verloren gehen und auch der heutigen Leserschaft zugänglich gemacht werden. Aber man muss sich wirklich auf die Erzählung einlassen, was mir nicht durchgehend leicht fiel.

    Immerhin ist diese Neuauflage im Kleinformat mit dem bildschönen Cover ein wahres optisches Kleinod. Und ich freue mich letztlich doch, dass ich die mir bis dahin unbekannte Autorin, die als eine der bislang wenigen Frauen den Literaturnobelpreis gewann, mit diesem Roman kennenlernen durfte...

    © Parden

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  1. Klassisches Familiendrama vor der Kulisse Sardiniens

    Das italienische Original erschien bereits 1913. Der Manesse Verlag hat den Klassiker der Literatur-Nobelpreisträgerin Grazia Deledda neu übersetzt und in einer wunderschön handlichen, bibliophilen Ausgabe neu aufgelegt. Inhaltlich werden klassische Themen bearbeitet. Es geht um Schuld und Sühne, Liebe und Hass sowie die Suche nach der eigenen Bestimmung. Es werden große Emotionen freigesetzt, die an die griechische Tragödie erinnern.

    Im Zentrum steht der bereits betagte Knecht Efix, der seit Jahrzehnten im Hause der adligen Familie Pintor Dienst tut. Einst war Don Zame das Familienoberhaupt, dessen Gemahlin Donna Maria Christina vier Töchtern das Leben schenkte. Donna Maria starb allerdings bereits vor 20 Jahren, so dass sich Don Zame in Folge des Verlustes zu einem sittenstrengen Despoten entwickelte, der seinen Töchtern keinerlei Freude mehr gönnte und sie heillos überwachte. Die dritte Tochter Donna Lia konnte das irgendwann nicht mehr ertragen, riss aus und suchte ihr Glück an der Seite eines bürgerlichen Viehhändlers. Ein Sachverhalt, der für die Familie einen Schandfleck darstellt: Keine der anderen Schwestern würde nun noch einen anständigen Ehemann bekommen können. Nicht lange nach Lias Flucht findet auch Don Zame den Tod. Nun müssen die Schwestern das mittlerweile verschuldete Gut verwalten, wozu sie ohne die unermüdliche Hilfe ihres Knechts Efix nicht in der Lage wären. In dieser zeitlichen Ebene setzt die Handlung ein.

    Efix wirkt wie der gute Geist des Hauses, er fühlt sich aus zunächst unerfindlichen Gründen für die Schwestern Pintor verantwortlich, die noch immer in der Vergangenheit leben, nichts arbeiten und sich in keiner Weise an die realen Gegebenheiten anpassen wollen. Efix arbeitet ohne Lohn, längst ist seinen Arbeitgeberinnen das Geld ausgegangen, so dass er selbst Schulden bei einer Wucherin aufnehmen muss. Man spürt schnell, dass den Knecht eine große Schuld bedrückt. In irgendeiner Weise hat er mit Lias Flucht etwas zu tun: „Wie schwer wiegen Erinnerungen! Sie wiegen so schwer wie der Eimer, der, kaum dass er mit Wasser gefüllt ist, wieder nach unten zieht, hinab auf den Grund des Brunnens!“ (S. 32)

    Das tägliche Einerlei im Hause Pintor wird unterbrochen, als Don Giacinto, der Sohn Lias, seinen Besuch ankündigt. Der junge Mann wird mit sehr unterschiedlichen Empfindungen aufgenommen. Efix ist überzeugt, dass Giacinto dafür sorgen wird, dass das Haus Pintor zu altem Ruhm zurückfindet, und bringt ihm großes Vertrauen entgegen. Donna Noemi sieht den Burschen extrem kritisch und möchte ihn am liebsten schnell wieder loswerden.

    Don Giacinto selbst hat ein charismatisches Wesen, gewinnt die Sympathien der Dorfbewohner. Gleich zwei junge Frauen buhlen um seine Liebe – etwas, das er natürlich sehr genießt. Man erfährt immer mehr widersprüchliche Informationen über den jungen Mann, man fragt sich, ob er unverschuldet in eine Misere geraten ist oder aber ein unmoralischer Leichtfuß ist. Währenddessen bahnt sich ein Liebesdrama an. Auch Efix, der treue Knecht, gerät in dessen Strudel: Wieder will er die Dinge in Ordnung bringen. Er verlässt das Dorf, um am Ende wieder zu seinen Anfängen zurückzukehren (was übrigens großartig geschildert wird).

    Der Autorin gelingt es, die klassischen Themen sehr glaubwürdig in Szene zu setzen. Bestechend ist das Ambiente Sardiniens, dessen Naturschönheiten wunderbar poetisch beschrieben werden: „Vor ihm stieg der Mond immer höher, und die Stimmen des Abends sagten dem Menschen, dass sein Tag zur Neige ging. Da war der gleichförmige Ruf eines Kuckucks, das Zirpen der ersten vorwitzigen Grillen, das Klagen eines Vogels; da war das Seufzen des Schilfs und die immer reiner tönende Stimme des Flusses; da war, vor allem, ein Hauch, ein geheimnisvoller Atem, der aus dem Herzen der Erde selbst zu kommen schien.“ (S. 8)

    Das titelgebende Schilf ist ein wiederkehrendes Motiv. Es raschelt, seufzt, flüstert, wogt und ächzt. Es ist die Metapher für das Leben, für die Kraft, die man seinen Unbilden entgegensetzen muss. Man darf sich nicht brechen lassen. Deleddas Sprache glänzt mit eindrucksvollen Sprachbildern. Sie vermag es, ihre Heimat in vielfältigen, sinnlichen Farben zu schildern. Die detaillierten, naturalistischen Landschaftsbeschreibungen, die Macht der Elemente, Licht und Schatten, die Eintönigkeit des Dorflebens wie auch seine Riten und Festlichkeiten - das alles wird für den Leser erlebbar gemacht. Auffällig ist die archaische Grundstimmung, es herrscht meist ein melancholischer Unterton. Etwas Verdrängtes, Bedrohliches bestimmt weite Teile der Handlung. Das einfache, ländliche Leben wird vom Rhythmus der Jahreszeiten geprägt. Sardinien gehört zu Italien. Einerseits wird das Leben von römisch-katholischer Frömmigkeit, andererseits von heidnisch-mythologischen Riten und Aberglauben geprägt. Man glaubt neben der Dreifaltigkeit an Kobolde, Hexen, Heilige und Geister der Verstorbenen, deren Zeichen man zu lesen versucht.

    Die Figuren werden vielschichtig gezeichnet, kommen aber nicht ohne Stereotype und Klischees aus. Das dürfte den klassischen Themen geschuldet sein: Der treue Diener, die hochnäsigen Adligen, die abergläubische Hexe/Wucherin und so weiter; Gut und Böse ziemlich klar definiert. Besonders in der zweiten Hälfte des Romans fiel es mir schwer, den Handlungsweisen und Stimmungswechseln der Protagonisten zu folgen, während ich in der ersten Hälfte ziemlich begeistert war. Aus meiner Sicht verlässt die Autorin den Fokus ihrer Familiengeschichte. Stattdessen halten mystische Elemente Einzug, die Liebe schlägt Kapriolen, manche Kirchenfeste werden sehr ausufernd erzählt. Die Handlung kam mir persönlich zunehmend zerfleddert vor.

    So bin ich im Verlauf der Lektüre merklich abgekühlt. Trotzdem verbuche ich sie keinesfalls unter verschenkter Zeit. Es ist immer spannend, den Horizont mit klassischer Literatur zu erweitern. Es lohnt sich, Grazia Deleddas Roman zu lesen, das Positive überwiegt. Zu erwähnen sind noch Nachwort und Editorische Notiz, die „Schilf im Wind“ einordnen sowie das Wesentliche über Leben und Werk der Autorin komprimieren . Zur Erfassung aller Details und Hintergründe bieten zudem zahlreiche Fußnoten und Anmerkungen im Anhang hilfreiche Unterstützung.

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  1. Ein poetischer Klassiker

    „Ich habe in Berührung mit dem Volk und den schönsten und wildesten Landschaften gelebt, in die sich meine Seele versenkt hat und daraus ist meine Kunst entstanden, wie ein Lied, ein Motiv, das sich plötzlich von den Lippen eines primitiven Dichters erhebt. (Grazia Deledda)

    Spannend, wenn man ein Zitat einer Literatur-Nobelpreisträgerin findet, bei dem sofort klar wird, warum sie so poetisch und naturverbunden schreiben konnte.

    Grazia Deledda war mir bis vor kurzem völlig unbekannt. Wie gut, dass der Manesse-Verlag sich dem Werk „Schilf im Wind“ in einer wunderschön gestalteten Neu-Edition (Übersetzer: Bruno Goetz) mit zahlreichen Anmerkungen und einem Nachwort von Federico Hindermann angenommen hat und ich das Buch im Rahmen einer Leserunde kennenlerne durfte.

    In „Schilf im Wind“ erzählt die sardische Schriftstellerin, die 1926 u. a. dafür den Literatur-Nobelpreis erhalten hat, eine Familiengeschichte, die auf den ersten Blick unspektakulär aussieht: Efix, ein Knecht, der ohne Lohn ein Gut bewirtschaftet, welches drei Schwestern gehört. Dabei rollt sich die ganze Geschichte aus der personal-erzählten Sicht von Efix vor den Augen der Leser aus.

    Doch hinter jeder Familiengeschichte stecken „Abgründe“, die nun die geneigte Leserschaft entdecken darf und die ich hier nicht preisgebe *g*.
    Dabei gibt es zahlreiche Motive, die während der ganzen Geschichte immer wieder auftauchen wie z. B. Schuld(ein-)geständnisse, Reue, Sühne und dem „Frieden mit sich selbst schließen“. Und auch das titelgebende Motiv, das „Schilf im Wind“, welches auf zwei Bibelstellen anspielt, zieht sich wie ein roter Faden durch den Roman.

    Außerdem gewährt Deledda den Lesern einen intensiven Blick auf die sardische Gesellschaft mit ihrem tief verwurzelten Aberglauben, ihrem Glauben und lässt uns teilhaben an Wanderungen durch die karge sardische Landschaft. Bei all dem spürt man die Hitze, den Wind, sieht den Mond und die Sonne aufgehen, erfreut sich an blühenden Wiesen – ich könnte noch stundenlang aufzählen, was mich an diesem Roman so begeistert hat.

    Das alles in einer poetisch-sinnlichen Sprache vorgetragen, deren Charme man sich schlecht widersetzen bzw. entziehen kann – hier hat der Übersetzer ganze Arbeit geleistet! Ein Beispiel möchte ich euch nicht vorenthalten:

    „[…] Es war der aufgehende Mond. Ganz allmählich erhellte sein Lichtschein die weite geheimnisvolle Landschaft, und dann, wie von Zauberhand, verschwand alles. Ein blau schimmernder See überflutete den Horizont, die klare und kalte Herbstnacht spannte sich über die Berge bis hinunter zum Meer, mit den großen Sternen am Himmel und den weit entfernten Feuern auf der Erde. In der Stille pulsierte der Fluss wie das Blut durch das schlafende Tal.“ (S. 362)

    Und somit hat sich Grazia Deledda mit „Schilf im Wind“ einen dauerhaften Platz in meiner Klassiker-Bibliothek gesichert.

    Absolute Leseempfehlung und ganz klar 5*!

    ©kingofmusic

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  1. Ein Klassiker aus Sardinien

    Die italienische Literaturnobelpreisträgerin Grazia Deledda (1871 – 1936) kannte ich bisher nicht. Sie erhielt ihre Auszeichnung 1926 als zweite von insgesamt bisher nur 14 Frauen nach Selma Lagerlöf (1858 – 1940), unter anderem für ihren 1913 erschienen Roman "Schilf im Wind". In ihrer Begründung lobte die Jury „ihre von hohem Idealismus getragene Verfasserschaft, die mit Anschaulichkeit und Klarheit das Leben ihrer väterlichen Herkunft schildert und allgemeinmenschliche Probleme mit Tiefe und Wärme behandelt.“ Der Manesse Verlag hat diesen Klassiker nun in überarbeiteter Übersetzung und mit über 100 Anmerkungen sowie einer editorischen Notiz von Jochen Reichel neu herausgegeben.

    Aus der Zeit gefallen
    Im Mittelpunkt von Grazia Deleddas Gesamtwerk steht die Insel Sardinien, wo sie geboren wurde und bis 1900 lebte. Obwohl "Schilf im Wind" ungefähr zu seiner Entstehungszeit spielt, wirken Ort und Handlung archaisch. Zentrale Themen sind die alten patriarchalen Familienstrukturen, Standesunterschiede, Verschiebung von Armut und Reichtum, Traditionen, Ehre, Schuld, Buße, Liebe, Katholizismus, Aberglaube und heidnische Fabelwesen.

    Schuld und Sühne
    Hauptcharakter ist der Knecht Efix, der jedoch nicht selbst erzählt. Er bewirtschaftet für die verarmten adeligen Schwestern Pintor ein Gut unterhalb ihres verfallenden Wohnhauses in Galte, die letzten ihnen verbliebenen Besitztümer. Seit vielen Jahren erhält er keinen Lohn von Donna Ruth, Donna Ester und Donna Noemi, trotzdem bindet ihn eine geheime alte Schuld an das tragische Schicksal der Familie "mit der er verwachsen war wie das Moos mit dem Felsen" (S. 152). Einst hat die vierte Schwester, Donna Lia, seine unpassende Verliebtheit ausgenutzt, um sich von ihm zur Flucht vor ihrem despotischen Vater Don Zame verhelfen zu lassen. Dieser wurde kurze Zeit später tot an einer Brücke aufgefunden. Die drei verbliebenen Schwestern wollten Lia ihren Ausburch und ihre unstandesgemäße Ehe auf dem Festland nicht verzeihen, fühlten sich entehrt und blieben unverheiratet. Nach Lias Tod kündigt nun deren Sohn Don Giacinto seinen Besuch an. Nur Efix freut sich, denn er hofft, dass sich die Erstarrung der Schwestern löst und ihr Schicksal sich wendet. Als dieser Wunsch mit dem labilen jungen Mann nicht in Erfüllung zu gehen scheint und seine Pläne zu scheitern drohen, legt sich Efix weitere Buße auf.

    Märchenhaft und metaphernreich
    Gut möglich, dass in meine Beurteilung von "Schilf im Wind" Achtung vor dem Literaturnobelpreis und einer Autodidaktin, die nur vier Jahren die Schule besuchte, einfließen, außerdem meine Vorliebe für die handlichen Manesse-Bändchen mit ihrer Fadenheftung und dem lesefreundlichen Druckbild. Auch wenn die Beweggründe und Handlungen der Charaktere mir nicht immer einsichtig waren und das Buch ab etwa Seite 300 mit Efix‘ Wanderung im Kreis der Bettler von Heiligenfest zu Heiligenfest vorübergehend Längen hatte, bin ich froh über die Begegnung mit dieser italienischen Autorin. Die linear erzählte Geschichte in lyrischer Sprache mit magischen Anklängen, die sich am Ende wie ein Kreis schließt, fremde Sitten, Traditionen und Verhaltensmuster, viele Naturschilderungen und Metaphern, für die das sich im Wind biegende, titelgebende Schilf nur ein Beispiel ist, lohnen das Lesen:

    „Warum bricht uns das Schicksal, wie der Wind das Schilf bricht?“
    „Ja“, sagte Efix da, „wir sind tatsächlich wie das Schilf im Wind, liebe Donna Ester. Genau deshalb! Wir sind das Schilf, und das Schicksal ist der Wind.“ (S. 353)

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  1. Ein klassischer Sardinien-Roman

    „Und mit einem Mal hatte Efix das Gefühl, dass seine unglückseligen Herrinnen endlich eine Stütze, einen Beschützer gefunden hatten, der mehr wert war als er selbst.“ (Zitat Seite 229)

    Inhalt
    Schon zu Lebzeiten ist der despotische Vater von Donna Ester, Donna Ruth und Donna Noemi gezwungen, nach und nach seine umfangreichen Ländereien zu verkaufen. Nach seinem Tod leben die unverheirateten Schwestern in ihrem längst restaurierungsbedürftigen Haus von dem Ertrag des einzigen sich noch in ihrem Besitz befindlichen kleinen Landgutes, das seit vielen Jahren von ihrem alten Knecht Efix bewirtschaftet wird. Als der Neffe Don Giacinto, der Sohn ihrer verstorbenen Schwester Lia, die einst aus dem strengen Vaterhaus geflüchtet war, seinen Besuch ankündigt, hat Efix große Hoffnung, dass sich nun alles zum Besseren wenden und der Neffe sich in Zukunft um seine Tanten kümmern wird. Doch so wie der Wind die Schilfrohre zu brechen versucht, bringt das Schicksal Ereignisse, denen sich Ester, Ruth, Noemi und auch Efix stellen müssen.

    Thema und Genre
    Dieser Roman, erschienen 1913, handelt von Schicksal, Schuld, Buße, Liebe, der Gesellschaftsstruktur auf der traditionsverhafteten Insel Sardinien am Beginn des 20. Jahrhunderts, Religion, Mythen, Aberglaube, und dem einfachen Leben in der herben, kargen Landschaft Sardiniens.

    Charaktere
    Efix lebt ein sehr genügsames Leben umgeben von der Natur seiner Heimat. Seinen langjährigen Dienst für die Schwestern Pintor sieht er als Sühne und selbst auferlegte Strafe für eine tief in der Vergangenheit liegende Schuld. Giacinto, der Neffe der Damen Pintor, ist ein junger Mann mit guten Vorsätzen, doch labil und korrumpierbar. Die einzelnen Figuren dieses Romans sind klar und naturalistisch geschildert und zeigen ein authentisches Gesellschaftsbild auf dieser in sich abgeschlossenen, fest in den alten Traditionen verankerten Insel am Beginn des 20. Jahrhunderts.

    Handlung und Schreibstil
    Es werden die Ereignisse im Leben der Damen Pintor und ihres treuen Knechts Efix in der Gegenwart, also zu Beginn des 20. Jahrhunderts, geschildert. Erklärende Rückblenden ergänzen die aktuelle Handlung, die aus dem personalen Blickpunkt von Efix geschildert wird. Die Beschreibung der Denkweise und Gefühle der einzelnen Charaktere, der unterschiedlichen Konflikte, erinnert in ihrem sprachlichen Überschwang an die Rührstücke, die im deutschen Sprachraum zu Beginn des 19. Jahrhunderts, also hundert Jahre früher, entstanden sind. Interessant machen diesen Roman die vielschichtigen Einblicke in das damalige Leben auf Sardinien, die Armut, die einfachen Lebensumstände, die Situation der Frauen, den Niedergang des Landadels verbunden mit dem Verlust der Güter, der Aufstieg der Kaufleute. Sehr treffend beschrieben ist auch die Geisteshaltung der Menschen zwischen der strengen katholischen Gläubigkeit mit vielen religiösen Festen und Pilgerfahrten, doch gleichzeitig tief in der alten Magie und dem Aberglauben verwurzelt, mit Kobolden und Geisterwesen. Zahlreiche Anmerkungen von Jochen Reichel erleichtern das Verständnis der einzelnen Begriffe. Dennoch zeigt auch die überarbeitete, sehr genaue Übersetzung meiner Meinung nach einige Schwachstellen, man hätte die damals typischen Bezeichnungen in der italienischen Originalform belassen sollen. Das älteren Menschen gegenüber als Zeichen des Respekts verwendete „Zio“ und „Zia“ ist keine verwandtschaftliche Bezeichnung und die Übersetzung mit „Onkel“ und „Tante“ mag in den vielen Fällen, wo es zum Beispiel nicht tatsächlich um die Tanten von Giacinto geht, verwirrend sein (ich habe beide Fassungen gelesen, die italienische und die deutsche).

    Fazit
    Ein interessantes Gesamtbild des Lebens auf der zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch immer abgeschiedenen und den eigenen Regeln folgenden Insel Sardinien. Besonders beeindruckend an diesem Roman der sardischen Nobelpreisträgerin sind vor allem die poetischen, einprägsamen Schilderungen der Natur und Landschaft ihrer Heimat.

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  1. "Warum bricht uns das Schicksal, wie der Wind das Schilf bricht?

    1926 erhielt die sardische Schriftstellerin Grazia Deledda den Literaturnobelpreis, ihr Roman "Schilf im Wind" ist jetzt im Manesse Verlag in einer wunderschönen Neuedition aufgelegt worden. Das italienische Original erschien im Jahr 1913, etwa zu jener Zeit spielt auch das Geschehen in der Heimat der Schriftstellerin.
    Im Mittelpunkt steht "Efix, der Knecht der Damen Pintor" (5), der das Landgut der verarmten Adligen seit 30 Jahren bewirtschaftet. Einst verfügte die Herrschaft über mehrere Ländereien, doch wie ein Junge aus dem Dorf erzählt, liegt "nach dem Tod von Donna Maria Christina, Eurer seligen alten Herrin [...] ein böser Bann auf Eurem Hause" (15). Die jüngste der Pintor-Schwestern, Lia, sei davon gelaufen, um ein selbst bestimmtes Leben zu führen und einen Bürgerlichen zu heiraten, ihr Vater Don Zame habe sie gesucht und sei an der Brücke getötet worden.

    Und nun ist ein Brief Don Giacontos angekommen, der Sohn Lias, die inzwischen ebenfalls verstorben ist. Seine Ankunft bringt das Leben der drei verbleibenden Schwestern Pintor - Donna Ruth, Donna Esther und Donna Noemi - aus dem Gleichgewicht. Auch der Knecht Efix muss sich einer alten Schuld stellen und ist gezwungen seine geliebtes Landgut zu verlassen, um für diese Schuld zu sühnen.

    Folglich sind Schuld und Sühne die bestimmenden Themen des Romans, der jedoch auch aufzeigt, dass unter den bestehenden Normen der Gesellschaft ein selbst bestimmtes Leben kaum möglich ist, da eine Heirat an Standeszugehörigkeit gebunden ist und die Liebe sich dem unterwerfen muss. Vor allem am Beispiel Donna Noemi wird deutlich, dass sie sich nach einer anderen Lebensweise sehnt, jedoch in den Mauern der Konventionen gefangen ist.

    Während die Landschaftsbeschreibungen Bilder beim Lesen entstehen lassen und die Art und Weise, wie die Sarden kurz vor dem ersten Weltkrieg gelebt haben, deutlich wird - v.a. ihr tief verwurzelter Aberglaube, bleiben die Figuren bis auf Efix seltsam blass. Ihre Handlungen und Entscheidungen lassen sich nur teilweise nachvollziehen und das liegt nicht daran, dass uns die Normen und Konventionen der Gesellschaft heutzutage überholt erscheinen, sondern daran, dass die Geschichte hauptsächlich aus Efix personaler Sicht erzählt wird, so dass uns Donna Noemi oder auch Giaconto fremd bleiben. Man fiebert weder mit noch wird von der Geschichte gefangen genommen. Hinzu kommen viele Traumsequenzen, in denen Wünsche und Realität verschwimmen, was den Lesefluss zusätzlich erschwert.

    Ein Roman, der sicherlich viele Leser*innen begeistern kann, zu dem ich aber leider keinen Zugang gefunden habe.

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