Schau heimwärts, Engel

Rezensionen zu "Schau heimwärts, Engel"

  1. Kaum zu übertreffendes Sittengemälde

    Kurzmeinung: Einer der grandiosen Erzähler der klassischen amerikanischen Literatur!

    Thomas Wolfe schreibt in seinem über 700 Seiten starken bekanntesten Roman „Schau heimwärts, Engel“, mit dem bezeichnenden tristen Untertitel „Eine Geschichte vom begrabenen Leben“ an seiner eigene Familiengeschichte entlang. Es ist ein Roman mit mehr als nur biografischem Zungenschlag, was man aber sofort wieder vergisst, da man alsbald in die bildgewaltige Sprache Wolfes eingesogen wird, deren Wirkmacht eigenständige Figuren hervorbringt.
    Die Gants kommen von Europa, Gilbert Gant, Großvater unseres späteren Helden Eugene Gant, zieht 1837 von Baltimore nach Pennsylvania. Sein Sohn Oliver Gant ist ein unruhiger Geist, er durchzieht die Lande und wird schließlich als Steinmetz in Altamont ansässig, einem kleinen Städtchen in den Bergen von North-Carolina, wo er in zweiter Ehe mit Eliza Pentland lebt. Das Eheleben könnte man mit den Schlagworten „sie liebten, hassten und sie schlugen sich“, beschreiben, obwohl Gant, wie er im Roman fortlaufend genannt wird, nie seine Hand gegen Frau oder Kind erhebt. Jedenfalls nicht absichtlich. Aber er ist Alkoholiker. Das Ehepaar hat neun Kinder, wovon nur sechs überleben. Eugene Gant, genannt Gene, ist das jüngste Kind. Er wird zur Jahrhundertwende geboren und mit ihm beschreibt Thomas Wolfe, die ersten zwanzig Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts.
    „Schau heimwärts, Engel“ ist ein Sittengemälde des tiefen Südens. Die Resultate des Sezessionskrieges berühren die weiße Oberschicht des Landes nur peripher, die schwarzen Menschen haben es schwer in jeder Hinsicht.

    Der Kommentar:
    Faszinierend ist es, wie Vater Gant eigentlich alles gelingt, und er dennoch nie glücklich oder zufrieden ist. Liegt es am Alkohol, der ihn fest am Wickel hat oder an angeborener inneren Unruhe? Vater Gant hat einen grünen Daumen und alles, was er anfasst, gedeiht. So kommt er zu Wohlstand. Auch mit seiner Steinmetzwerkstatt hat er Erfolg. Aber das Familienleben ist nicht glücklich. Zu unterschiedlich sind die Vorstellungen von Mann und Frau und zu verantwortungslos verhalten die Eltern sich gegenüber ihren Kindern. Nicht einem von ihnen versucht der Vater etwas beizubringen, weder wie man eine Farm fruchtbar macht oder verwaltet, noch versucht er ihnen seinen Beruf schmackhaft zu machen. Die Kinder werden dagegen angehalten, früh für sich selber zu sorgen und wie sie das machen, ist mehr oder weniger egal. Was Erziehung ist, davon haben die Gants keine Ahnung und wollen auch keine Ahnung haben. Sie sind, das muss man leider sagen, trotz ihres relativen Wohlstands beziehungstechnisch vollkommene Ignoranten und schreckliche Egomanen.
    Der gesamte Roman ist durchzogen mit der Bitterkeit der Kinder, die zwar oberflächlich gesehen, geliebt werden, aber jeden Tag zu hören bekommen, wie undankbar sie wären, nicht dankbar genug für Brot, Leben und Unterkunft. Die Kinder werden von den Alten entweder gnadenlos vereinnahmt und ausgenutzt oder vernachlässigt. Es fällt ihnen dementsprechend schwer, sich von der Familie zu lösen und eigene Wege zu gehen. Besonders an Gene, dem jüngsten, zelebriert Thomas Wolfe die innere Zerrissenheit eines sensiblen Menschen, der mit Leid und sämtlichen Fragen des Lebens alleine gelassen wird, der einerseits nur weg möchte von seiner übergriffigen Familie, andererseits aber die tiefe Heimatverbundenheit, die er empfindet, nicht abschütteln kann.
    Die Stilmittel des Autors sind letztlich überschaubar, werden aber so gezielt eingesetzt, dass man vergisst, wie wenig abwechslungsreich der Autor eigentlich schreibt. Thomas Wolfe beschreibt, er fährt auf, buchstäblich. Opulent, üppig, redundant. Er kann Seiten damit verbringen, die Speisen, Früchte und Mahlzeiten der Gants zu beschreiben, samt dem Duft jedes einzelnen Pfirsichs, dem Aussehen jeder Walnuss, dem Betasten jedes Knöchelchens jeder Wachtel. Man sollte diesen Roman nicht lesen, wenn man Hunger hat. Das Wasser läuft einem im Mund zusammen. Doch, die Gants tafeln fürstlich. Und diese Fürstlichkeit ist ein Bild für die Fruchtbarkeit des Südens.
    Der Autor beschreibt und beschreibt und zwar beschreibt er in endlosen Aufzählungen und Aneinanderreihungen das, was er sieht, er oder eine seiner Figuren. Das wäre langweilig, hätte Thomas Wolfe nicht so ein genaues Auge und Sinn für geschliffene Formulierungen. Teilweise ist es, als ob man sich in einem Film befindet. Landschaften, Menschen, Häuser, Tiere, Berufe, Autos. Wolfe hat ein Auge für Details und verschweigt keines. Manchmal geht mir diese endlose monotone Aufzählung auf die Nerven, aber immer dann, wenn ich mich ärgern möchte, zieht der grandiose Sprecher Christian Brückner mich in die Story zurück: diese Südstaatenatmosphäre hat die Kraft, zu verzaubern. Dass sie ihre ganze magische Kraft entfaltet, dazu muss man die Geschichte freilich hören, nicht lesen.
    Eine andere Art, seinen Roman voranzubringen, sind Gespräche, Unterhaltungen, Dialoge. Direkte Rede beherrscht Wolfe meisterhaft. Nie hat man das Gefühl, etwas würde gesagt oder erzählt, um die Leserschaft zu informieren, nein, die Figuren reden miteinander, sie haben sich etwas zu sagen und sie reden viel! Auf diese Art sieht man ein wenig in die Figuren hinein, die man ansonsten nur von außen betrachten darf.
    Nicht zu vergessen ist das Personal, das Wolfe auftreten, je vorbeidefilieren lässt, man muss hier sagen, dass die Menge der Staffage auch ein Stilmittel des Autors ist.
    Letztlich endet der Roman mit der Beantwortung der Sinnfrage. Freilich verschnörkelt im Dialog Genes mit dem verstorbenen Bruder. Ein wenig spooky ist das schon. Aber so sind die Südstaaten eben auch; abergläubisch.

    Fazit: Thomas Wolfe war ein Vielschreiber und ein Augenmensch! Trotz seines kurzen Lebens (1900 bis 1938) hat er eine unglaubliche Fülle von Notizen und Texten hinterlassen. Man braucht für die autobiografische Fiktion von „Schau heimwärts Engel“ einen Haufen Geduld und Aufmerksamkeit, aber die Anstrengung wird mit einem wahrlich genialen Sittenbild des Tiefen Südens Amerikas belohnt, die mit ihrer Detailfülle unübertroffen ist und wahrscheinlich auch unübertroffen bleiben wird.

    Kategorie: Klassiker. Weltliteratur. USA.
    Zenodot Verlagsgesellschaft, 2016
    als Hörbuch: Parlando, 2010

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  1. Eine Familiengeschichte

    Dieses breitangelegte Epos handelt von der Familie Grant. Der Vater ein Quartalssäufer, der für seine verbalen Ausraster bekannt ist und seine emotionalen Zusammenbrüche. Dann seine Mutter, die jeden ersparten Cent in Ländereien, Häuser investierte, so dass die Familie ein gutes finanzielles Standbein hat und dann die acht Kinder. Eugene Grant ist der jüngste und muss sich seinen Platz in der Familie suchen. Er war immer ein Außenseiter. Er las viel war eher eigenbrötlerisch und hasste es im Mittelpunkt zu stehen. In der Familie gab es immer Auf's und Ab's die mit den Ausraster und alkoholischen Zusammenbrüchen seines Vaters zusammenhingen. Seine Mutter entschied sich räumlich von seinem Vater zu trennen, was auch eine Trennung der acht Kinder beinhaltete. Eugene nahm sie mit, der noch bis 7 in dem Bett seiner Mutter schlief.

    Dies ist eine Geschichte mit autobiographischen Zügen und ich fand die ersten 200 Seiten einfach ein Meisterwerk. Auch mit den Fußnoten von über 400, die mich sonst eher abschrecken.

    Leider plätscherte die Geschichte ab 300 einfach nur vor sich hin. Sie war nacherzählend und es ging eher um die gesellschaftlichen Umschwünge als um diese dysfunktionale Familie. Was mich dazu veranlasste bei Seite 480 abzubrechen.

    Alles in Allem empfinde ich dieses Buch doch ein Meisterwerk. Es fordert den Leser heraus und erschlägt einen. Entweder man hat diese gewisse Leidensfähigkeit und schafft diese Talsohle mit dem Fortgang von Eugene oder nicht. Leider musste ich ab Seite 48ß kapitulieren

    Aber ich empfinde das Buch durchaus lesenswert und ich habe noch nie in Teilen so etwas fesselndes gelesen wie dieses!

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