Reise nach Laredo: Roman
Mein Lese-Eindruck:
1558. Kaiser Karl V., der mächtige Kaiser, in dessen Reich die Sonne niemals unterging, hatte sich nach seiner Resignation in die Einsamkeit der Extremadura zurückgezogen. Dort begegnet ihm nun der Leser, aber von Glanz, Macht und universalem Kaisertum kann keine Rede sein. Karl ist ausgebrannt, hinfällig, von Krankheiten gezeichnet, hilfsbedürftig, vereinsamt, und umgeben von einem Hofstaat, der nur auf seinen Tod wartet.
Karl aber will ergründen, wer er eigentlich ist. Welcher Mensch befindet sich unter der Krone? Wer ist er, wenn er nicht mehr Kaiser ist? Sein Beichtvater empfiehlt ihm Gebete und Kontemplation, aber damit kommt Karl nicht weiter, und so entschließt er sich kurzerhand für einen Ausbruch. Er will nach Laredo, ans Meer, zusammen mit dem kleinen Pagen Geronimo, seinem illegitimen Sohn.
Und so besteigen die Beiden nachts ihre Reittiere und brechen auf. Nein, kein medizinisches Wunder. Dem Leser wird schnell klar, dass diese Reise nicht real ist. Geiger wendet den schönen Kniff der Zeitdehnung an: die Zeit dehnt sich in Karls Visionen, und der Leser erhält Einblick in die Gedankenwelt dieses sterbenden Menschen.
Es ist eine abenteuerliche Reise, die Karl und das Kind unternehmen, und je einsamer und monotoner die äußere Landschaft wird, umso mehr wendet sich Karls Blick in sein Inneres. Der Mensch, der vom König übriggeblieben war, vergisst nun die halsstarrigen Päpste, die Vertragsbrüche Frankreichs, die Reichstage in Deutschland, Luthers Thesen und die ganzen Wirren und Kämpfe seiner Zeit. „Wozu das Ganze?“ Stattdessen wendet er sich den Dingen seiner nahen Umgebung zu.
Hier ist es vor allem das Kind und sein freudiges Staunen, das ihn fasziniert. Das Kind lebt nur im Moment und geht voller Neugier in jeden Tag seines Lebens, und damit ist es ein Gegenbild zu Karl, der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft im Blick haben musste. Karl erlebt auf seiner Reise das Leben mit seinen Freuden, aber auch mit seiner Niedertracht. Und vor allem erlebt er menschliche Zuneigung und kann am Ende seines Lebens feststellen: „Der Tod kann schön sein, wenn man gelebt hat.“
Geiger vermengt die beiden Erzählebenen schlüssig und einfach nur meisterhaft: manchmal hört Karl die Stimme des Priesters, sein schmerzender Körper meldet sich, er empfindet Berührungen, zudem ist er sich ständig der Nähe seines Todes bewusst, und am Schluss werden beide Erzählebenen souverän und erhellend zueinander geführt.
Ein historischer Roman? Geiger vermeidet bewusst historisierende Wendungen, wenn er z. B. das neuzeitliche „Sie“ für die Ansprache benutzt und damit das Thema der Selbstfindung in unsere Zeit rückt. Gelegentliche Wortspielereien wie Chiasmen fand ich zwar gewollt, aber das schmälert der Gesamteindruck nicht: ein lesenswertes Buch!
Dieses Buch entführt uns ins Jahr 1558. König Karl ist 58 Jahre alt, körperlich und seelisch erschöpft. Gichtkrank und fiebrig verbringt er seine letzten Tage im Kloster von Yuste in Spanien. Sein Tagesablauf ist langweilig, bis er auf Geronimo trifft, einen unehelichen Sohn, der nicht weiß, dass sie verwandt sind. Mit ihm zusammen geht er auf eine abenteuerliche Traumreise.
Da der Klappentext nicht viel über die Geschichte verrät, habe ich erst im Laufe der Geschichte recherchiert, dass Arno Geiger hier das Ende des realen Karl V. imaginiert hat. Mit vielen nachgewiesenen Tatsachen gewürzt ist eine Geschichte entstanden, die mich etwas konfus zurückgelassen hat. Gepflegte Langeweile wechselte sich mit lebhafteren Episoden ab. Dabei gerät Karl „über die Ränder der ihm bekannten Welt hinaus“ (Seite 71). Manch gelungene Redewendung versöhnte mich immer wieder mit der Enttäuschung, die mir dieses Buch bereitete.
Die Idee des Autors, sich dem Lebensende anzunähern, fand ich eigentlich ganz interessant. Doch trotz zum Teil an die damalige Zeit angepasste Sprache konnte ich mit dem Inhalt des Buches wenig anfangen. Vielleicht lag es an der niederdrückenden Stimmung, die sich hier verbreitete. Dabei haben mir Arno Geigers Bücher bisher ganz gut gefallen.
Kurzmeinung: Über das Sterben - warum ausgerechnet Karl V.?
In seinem neuesten Roman widmet sich Arno Geiger den letzten Tagen von Karl V. (1500 – 1558). Es empfiehlt sich, vorab entsprechende Daten über Karl V. nachzulesen, denn allzu viele Informationen über den Herrscher gibt Arno Geiger nicht an die Hand. Er widmet sich dem Innenleben. Und weil Arno Geiger das Gewicht auf das Innerliche legt, ist die „Reise nach Laredo“ zwar ein Roman mit einem historischen Sujet, aber kein historischer Roman.
Karl V. hat sich nach Yuste in Spanien zurückzogen, er leidet schwer an Gicht und sollte aus lebenserhaltenden Gründen Diät halten, sich zumindest in Essen und Trinken mäßigen. Dazu ist Karl V. aber nicht imstande. Er leidet unter Fresssucht. Dies wird von dem Autor zwar nicht verschwiegen, jedoch thematisch nicht in den Vordergrund gestellt, was meines Erachtens etwas schönt. Als Karls Ende naht, fällt er ins Koma.
Der Kommentar und das Leseerlebnis:
Arno Geigers Formulierungskunst fasziniert und begeistert mich immer aufs Neue. Kleine Kostproben: „Der Wahnsinn des Sommers klingt ab“, „In den Pappeln neben der Klosterkirche rieselte der Abend“ oder: „Er brachte die Saiten der Gitarre zur Ruhe, wie jemand für die Geliebte die Bettdecke glatt streicht“.
Wegen der Ästhetik seiner Schreibweise, gehört Arno Geiger zu meinen Lieblingsautoren. Dennoch muss ich an dem neuen Roman herumkritteln, er ist mir gar zu innerlich. Karl V. macht sich viel Gedanken über sein Seelenheil. Und er denkt sehr intensiv über sein Leben nach. Wer bin ich, wenn ich nicht Herrscher bin? Hier höre ich ja fast Richard David Precht reden: „Wer bin ich und wenn ja, wie viele?“
Es stellt sich freilich sehr richtig die Egozentrik des abgedankten Herrschers heraus: er kann kaum jemals über sich selbst hinausdenken, wie auch, ist er doch der Herrscher aller Herrscher und der Mittelpunkt der Welt. Das hat man ihm so beigebracht. Er hat es verinnerlicht.
Arno Geiger lässt zusammen mit einem unehelichen Sohn Karls V., dem 11jährigen Geronimo, ein Geschwisterpaar auftreten, das den Cagots angehört. So macht der Autor diese in Spanien verfemten Menschen sichtbar, die nichts weiter verbrochen haben als zu existieren. Über Geronimos Her- und Zukunft erfahren wir kaum etwas, auch hier müssen wir bei wiki nachlesen (danke, wiki). Er wurde nach dem Tod Karls V. Befehlshaber der spanischen Flotte und Statthalter der habsburgischen Niederlande unter dem Namen Don Juan de Austria. Nun bin ich schon groß und kann selber googeln, dennoch hätte ich diese Information gerne Arno Geigers Roman entnommen; wenigstens in einem Nachwort. Es brauchte doch nur zwei Zeilen dazu. Selten habe ich ein Nachwort so sehr vermisst, wie in diesem Roman!
Auf der doppelt fiktiven Reise nach Laredo, einmal fiktiv, weil eben fiktiv und ein zweites Mal fiktiv, weil sie nur im Delirium Karls stattfindet, verweilt der abgedankte Herrscher (zu) lange in einer Spelunke und ich ermüde leserisch ein wenig. Es wird ersichtlich, dass Karl V. nach Läuterung strebend dennoch vollkommen dem Trunk und der Spielsucht verfallen ist. Ein gläubiger Mensch, der vollkommen haltlos in seinem Leben gewesen ist. Das passt für mich nicht zusammen. Gläubigsein muss sich auch in der Lebensführung beweisen, ein theoretisches Fürwahrhalten reicht nicht aus und ist Heuchelei. Viel Sympathien erntet Karl V. nicht bei mir, gar keine, um ehrlich zu sein, obwohl der Roman mit dem Ankommen in Laredo ein poetisches und versöhnliches Ende nimmt.
Die Reise nach Laredo ist eine sensible Darstellung des Sterbens. Die Schilderung des Hinübergleitens in den Tod, der Übergang vom Sterben zum Tod, ist dem Autor lyrisch aus der Feder geflossen. Der Roman hat demgemäß etwas leicht Fluides, das ich nicht näher beschreiben kann, man muss es selber lesen. Das ist große Erzählkunst.
Womit ich hadere ist die Figur an der entlang Arno Geiger arbeitet. Ist ihm die Historie wichtig, möchte ich mehr Informationen und Daten, kommt es aber hauptsächlich auf den Vorgang des Sterbens an – warum dann ausgerechnet Karl V.? Aha, beides, sagst du Arno? Nun, wie gesagt, dann bleiben auf der Strecke alle diejenigen Basis-Informationen, die man entweder wegs vortrefflicher Bildung sowie sein eigen nennt oder nachlesen muss. Die paar Andeutungen, die du machst, reichen mir nicht.
FAZIT: Obwohl ich ein wenig meckere und mich „im Wirtshaus“ langweilte, goutiere ich das Wagnis des Autors mit seiner speziellen Herangehensweise mittels einer historischen Figur doch über nichts anders als über das Sterben zu schreiben. Arno Geigers Romane sind – so oder so - immer etwas Besonderes. Auch dieser.
Kategorie: anspruchsvolle Literatur
Verlag. Hanser 2024
Im Jahr 1558 hat Karl V., der einst mächtige Kaiser und König, seinen Thron aufgegeben und lebt nun zurückgezogen in einem abgelegenen Kloster in Spanien. Er ist des Lebens müde, leidet unter vielen Krankheiten und fühlt sich von der Monotonie seines jetzigen Daseins erdrückt. Er ringt mit der Sinnlosigkeit seines früher glorreichen Lebens. Karl begegnet dem elfjährigen Jungen Geronimo, der jedoch nicht weiß, dass Karl sein Vater ist. Gemeinsam brechen sie zu einer Reise nach Laredo auf – Karl auf einem Maulesel und der Junge auf einem Pferd. Unterwegs stürzen sie sich in wilde Abenteuer und treffen auf eine Vielzahl unterschiedlicher Weggefährten. Doch nicht alle Begegnungen sind positiv, und auch schmerzhafte Abschiede bleiben ihnen nicht erspart.
Arno Geiger nimmt in seinem Roman einen ungewöhnlichen Fokus ein. Er konzentriert sich auf die Zeit nach der Abdankung von Kaiser Karl V., ein Zeitraum, der historisch oft weniger beleuchtet wird. Geiger stellt nicht die Macht und Herrschaft des Kaisers in den Mittelpunkt, sondern seine letzten Jahre als "Kaiser außer Dienst“. Er schildert facettenreich die inneren Ansichten und Gedanken des abgedankten Kaisers. Dies erlaubt den Leser*innen, einen tiefen Einblick in die Psyche und die emotionalen Zustände eines einst mächtigen Herrschers zu bekommen, der sich nun mit den existenziellen Fragen des Lebens auseinandersetzen muss.
„…, er zieht das Laudanum allem anderen vor, das Laudanum ist großartig, nichts gibt es, was diese großartige Droge ersetzen kann, sie beseitigt den Schmerz und leuchtet die zurückbleibende Leere von innen.“
Der 11-jährige Junge Geronimo spielt eine zentrale Rolle, indem er das Leben des alten Kaisers wiederbelebt. Durch Geronimo entdeckt Karl Freundschaft, Liebe und eine Erneuerung, die ihm hilft, Antworten auf die Frage zu finden, was am Ende des Lebens wirklich zählt. Geronimo wird zu einem Symbol für neue Hoffnung und Lebenskraft.
"Schönheit ist selten wahr und Wahrheit selten schön."
Geiger fesselt die Leser*innen mit seiner Liebe zum Detail und seiner Fähigkeit, historische Figuren lebendig und vielschichtig darzustellen. Seine bekannte und geschätzte Erzählweise lässt diese Figuren menschlich und nachvollziehbar wirken. Der Roman ist nicht nur eine historische Erzählung, sondern beschäftigt sich auch mit großen Fragen des Lebens: Was bleibt von einem Menschen, wenn er alles verloren hat, was ihn einst ausgemacht hat? Welche Bedeutung findet man im Leben kurz vor dem Ende?
„Die Nacht ist lang, das Leben kurz.“
Fazit
Der emotionale Kern des Romans zeigt, dass auch ein mächtiger Herrscher am Ende seines Lebens zu den grundlegendsten menschlichen Emotionen und Erfahrungen zurückkehrt. Die Begegnung mit Geronimo lässt den alten Kaiser über Freundschaft, Liebe und den Sinn des Lebens nachdenken, was dem Roman eine universelle und zeitlose Qualität verleiht. Diese Elemente heben Geigers Werk von anderen historischen Romanen ab und bieten den Leser*innen eine berührende Geschichte sowie tiefgründige philosophische Reflexionen.
"Das Linkslieglassen der Welt ist eine anspruchsvolle Sache."
Letzte Reise
Vor einiger Zeit hat Karl V. Abgedankt. Nun verbringt er seine Tage in Yuste in einem Landhaus nahe bei einem Kloster. Im Jahr 1558 ist der für die damalige Zeit schon ein älterer Herr, der seine Gesundheit nie geschont hat. Entsprechend schlecht ist sein gesundheitlicher Zustand. Eines schönen Tages will er ein Bad nehmen. Gerne würde er mehr Zeit mit seinem Sohn Geronimo verbringen, der allerdings nicht offiziell sein Sohn ist. Der Junge weiß nichts von seinem Vater. Karls letzter großer Traum ist eine Reise ans Meer nach Laredo. Der Gedanke, gemeinsam mit Geronimo könnte er sich auf den Weg machen, lässt ihn nicht mehr los.
Wie Empfindungen hegt ein abgedankter Herrscher, der in seiner Zurückgezogenheit eigentlich nichts mehr zu tun hat als seinen Gedanken nachzuhängen. Reflexionen über die Zeit seiner Herrschaft. Hat er alles richtig gemacht? Eroberungen, Kriege, die Vermählungen seiner Töchter aus Gründen, die dem Land diesen sollten. Und Geronimo, für dessen Zukunft er nichts tun kann oder will. Soll er dessen Position verbessern? Wenigstens mehr Kontakt könnte er mit ihm haben. Der Elfjährige ist so erfrischend ehrlich und impulsiv. Wenn Karl mit dem Jungen zusammen ist, hebt sich seine Stimmung gleich. In seinem Alter eine Reise? Das wäre was.
Beim Lesen des Klappentextes kann man sich fragen, ob die Thematik so packend ist. Wenn man jedoch die ersten Seiten aufblättert und beginnt zu lesen, merkt man gleich, dass einen die Sprache gefangen nimmt. Das Innenlebens eines alten Mannes, der sein früheres Leben aufgegeben hat und es damit auf eine Art wieder selbst in die Hände genommen hat. Die Beschäftigung mit seinem Leben, der Wunsch, seinem Sohn etwas näher zu kommen, seine schmerzhaften Krankheiten und Altersbeschwerden, das ist eine zeitlose Mischung, die auch heute interessant ist. Und auch die Beschreibung der Reise hat es in sich. Kann es sein, dass wenn eigentlich alles schon vorbei ist, das Leben doch noch etwas in Petto hat. Man wünscht es Karl.
Der Weg ist das Ziel könnte man meinen, wenn man das sehr gelungene Cover sieht.
Der Roman ist für den österreichischen Buchpreis 2024 nominiert. Die Jury hat damit eine gute Wahl getroffen.
4,5 Sterne