Realitätenhandlung: neunundvierzig Minuten

Buchseite und Rezensionen zu 'Realitätenhandlung: neunundvierzig Minuten' von Lisbeth Exner
4.5
4.5 von 5 (2 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Realitätenhandlung: neunundvierzig Minuten"

Format:Gebundene Ausgabe
Seiten:148
EAN:9783039300372

Rezensionen zu "Realitätenhandlung: neunundvierzig Minuten"

  1. Lesenswertes Kammerspiel mit realsatirischer Note

    Eine demenziell erkrankte Mieterin kann ihren Alltag nicht mehr bewältigen, so dass Rechnungen und Mietzahlungen im Rückstand sind. Die Eigentümerin hat in Folge dessen die Zwangsräumung (Delogierung) beantragt, die in diesem hier beschriebenen, 49 Minuten dauernden, Termin mündet. Neben Eigentümerin und Mieterin haben sich der (Zwangs-)Vollstrecker und ein Spediteur im Blaumann eingefunden. Jeder taxiert den Inhalt der Wohnung auf seine Weise: der Eine schaut nach Verwertbarem, der andere schätzt das Räumungsvolumen. Daneben steht ein junger Schlosser im Hintergrund, den man brauchte, um die Tür zu öffnen. Jeder hat seine eigene Perspektive auf das Geschehen. Man redet wenig miteinander, macht sich aber durchaus übereinander aufschlussreiche Gedanken. Dazu hat jeder eigene Sorgen und Befindlichkeiten, die die geforderte gedankliche Professionalität durchbrechen. Gerade diese Abschweifungen machen den Charme des Roman aus, durch sie lernt man die Figuren besser kennen, die abwechselnd zu Wort kommen. Ergänzt wird das Figurenaufgebot durch einen transparenten Hausgeist, der dieses Haus seit über 80 Jahren bewohnt. Er weiß nicht nur vieles über die Familien- und Eigentumsverhältnisse der Bewohner, sondern scheint sich auch um die demente alte Frau zu kümmern.

    Ein Setting, das eine ungewöhnliche Lektüre verspricht. Die einzelnen Kapitel sind kurz und immens verdichtet. Jedes reflektiert die Sichtweise einer einzelnen Figur, deren Gedanken authentisch eingefangen werden. Professionelles vermischt sich mit zutiefst Privatem. So wird der Vollstrecker bereits an der Wohnungstür mit seinem akuten Alkoholproblem konfrontiert - auch der Arm des Gesetzes hat demnach seine Schwachstellen. Der Blaumann sieht sich als Opfer seiner südosteuropäischen Herkunft, gesellschaftliche Ressentiments haben ihn seiner Meinung nach zeitweilig in die Kriminalität getrieben. Die Eigentümerin schwankt zunächst zwischen Selbstvorwurf und Rechtfertigung in Bezug auf die Räumungsklage, betrachtet sich dann aber selbstgerecht dem Familienerbe verpflichtet. Ein Erbe freilich, das moralisch nicht völlig unbelastet ist, wie der Hausgeist berichtet.

    Hervorragend getroffen sind die konfusen Gedanken der demenzkranken Mieterin, die sich bemüht, die aktuelle Situation zu erfassen, wobei ihr aber immer wieder andere Gedankensplitter und Erinnerungen dazwischen funken. Die emotionale Ebene erfasst sie jedoch erstaunlich klar. Zeit ihres Lebens war die alte Frau ein Bücherwurm, ihr Vater stellte einen enormen Bücherschatz zusammen, der sich noch heute über die Wohnung verteilt. Die belesene Dame vermag Fragmente aus Schillers Bürgschaft zu rezitieren, das Bibliotheksgespenst stellt weitere Literaten vor. Der Wert der stattlichen Bibliothek differiert je nach Auge des Betrachters.

    Der schlanke Roman wirft einen scharfen Blick auf die beteiligten Figuren, auf ihre Abgründe und Nöte. Er ist anspruchsvoll konzipiert, seine Qualität erschließt sich erst richtig in einem zweiten Durchgang, der die Zusammenhänge verdeutlicht. Die unterschiedlichen Figuren sprechen in differenzierten Tonlagen. Die eine distanziert-kritisch, die andere jugendlich-belehrend oder auch satirisch-ironisch. Man lernt die Charaktere immer besser kennen, weil sie sich zunehmend weniger zurückhalten und mehr von ihrem Innenleben preisgeben. Ein Buch, das man nicht eben so weg lesen kann, weil sich in den Figuren verschiedene gesellschaftsrelevante Themen spiegeln. Es geht um Eigentum und Besitz, um die ethische Seite von Erbschaften, um vermeintliche Chancengleichheit bei ungleichen Startbedingungen und um sozialistisch-kommunistische Alternativen. Auch latenter Rassismus und Frauenfeindlichkeit lassen sich bei einzelnen Figuren feststellen. Dabei werden die Themenbereiche nur angerissen, sie regen zum Nach- und Weiterdenken an. Auch das Ende lässt Freiraum.

    Wer gute Literatur schätzt, kann hier getrost zugreifen. „Realitätenhandlung“ ist ein merkwürdiges, in Teilen auch skurriles Büchlein, das mich gefesselt hat und über das man hier und da auch schmunzeln kann. Österreichische Leser werden noch familiärer mit den häufig vorkommenden Austriazismen umgehen. Es ist in dem Zusammenhang wissenswert, dass Realitäten den deutschen Immobilien entsprechen, was schon dem Titel eine gewisse Doppeldeutigkeit verleiht.

    Kein Buch für Jedermann, aber ein reizvoller Genuss für sozialkritische Literaturfreunde.

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  1. Hochverdichteter Gedankenstoff

    Obdach ist ein Menschenrecht, aber muss es die Wohnung sein, in der man aufgewachsen ist?

    Bei der dementen Mieterin in der Wiener Altbauwohnung sei doch die Frage erlaubt, ob es dem Allgemeinwohl zuträglicher wäre, wenn sie ihren Platz räumen und so der anwesenden Eigentümerin die Sorge nehmen würde, dass die Alte in dem verschlissenen Fauteuil mit ihren Kerzen irgendwann das ganze Haus abfackelt. Zumal diese Kerzen sich auf hüfthohen Stapeln von Zeitungen und Werbeprospekten befinden, die sich fast nahtlos an die gefüllten Bücherregale anschließen.

    Für den Besichtigungstermin einer bevorstehenden Delogierung (Räumung) hat sie sich die nötige Unterstützung eines Gerichtsvollziehers, eines erfahrenen Spediteurs und eines flinken, jungen Mannes vom Schlüsseldienst geholt. Nun stehen sie alle hier in der stickigen, sommerheißen Wohnung und kämpfen mit ihren Dämonen. Alle 5 hängen ihren Gedanken nach, Gedanken über Alkohol, unwirtschaftliches Eigentum, schwierige Vergangenheiten und Kindheitserinnerungen. Sie sind alle nur mit halber Aufmerksamkeit bei der Sache und ob die ungebetenen Besucher der alten Dame die sechste Person im Raum bemerken, bleibt unklar.

    Dabei ist sie doch die wichtigste Person hier im Bunde. Sie war es doch bisher, die größere Unglücke zu verhindern wusste und seit ihrem Ableben sehr angenehm zwischen den Büchern im Regal gehaust hat. Sie kennt auch die Vermieterin, denn sie ist ihre 120 Jahre alte Großmutter und ohne sie hätte die Enkelin nicht diese Immobilie geerbt. Sie muss sich etwas einfallen lassen, das alles so bleibt, wie es ist. Da kommt ihr der überraschend gebildete Türöffner zuvor und referiert über Menschenwürde, Freiheitsrechte und Besitzpflichten.

    Dieses auf knapp 140 Seiten und exakt 49 Minuten verdichtete Prosastück navigiert den Leser mit jedem Kapitel durch die Gedankenströme aller Beteiligten dieser beeindruckenden Demonstration von Ordnung und Anstand. Argumente werden in ihre Bestandteile zerlegt, das wackelige Gesellschaftskonstrukt bekommt gehörige Risse und schließlich wird klar, dass ein Stein im Glashaus lieber ungenutzt bleiben sollte.

    Das schmale Büchlein besitzt viel österreichischen Charme, aber auch viel gesellschaftlichen Zündstoff, der über Alkoholismus, Rassismus und Demenz hinaus geht. Es hält so einige Überraschungen bereit, aber das Ende bleibt (GsD) offen.

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