Inhaltsangabe zu "Rausch und Klarheit"
Mia liebt den Rausch. Drama, Drinks und Exzess sind fester Bestandteil ihrer Identität. So schlimm wie bei ihrer Oma und ihrem Vater, die der Alkohol umgebracht hat, ist es bei ihr aber noch lange nicht, denkt sie. Doch als die Nächte ihren Glanz verlieren, die Kater schlimmer werden, und sich eine diffuse Hoffnungslosigkeit in ihr ausbreitet, ahnt Mia, dass sie ihr Leben ändern muss.
Mit sprachlicher Wucht seziert Mia Gatow, wie sich die Sucht in ihre Familie und dann in ihr eigenes Leben schlich. Sie erzählt von den romantischen Mythen, die wir einander erzählen, um den Drink nicht loslassen zu müssen – und von der ungeahnten Schönheit, die sich eröffnet, wenn wir es doch tun.
Kluge, nüchterne und schonungslose Selbstanalyse
An dem Tag, als Mia aufgehört hat, ist sie voller Euphorie. Wie sie die Welt jetzt wahrnimmt, das Sonnenlicht, die Vogelstimmen, den Wind in ihrem Haar, sich selbst.
Zuvor hatte sie einen Bogen um Selbsthilfegruppen für Ex-Trinkerinnen gemacht, weil einem stets eine aus der Seele spricht, was bedeutet, dass man da richtig ist, hingehört, dass man mit dem Trinken aufhören muss.
Mia war eine funktionale Alkoholikerin. Sie trank nicht jeden Tag, doch wenn, dann mehr als sie sich vorgenommen hatte. Sie hatte nicht gleich als Jugendliche damit angefangen, obwohl es viele Berührungspunkte gab, denn sie ist damit aufgewachsen. In ihrer Familie war der Missbrauch von Alkohol normal, nicht der Rede wert. Sie fing damit an, weil es sie zu etwas Besonderem machte, schneller, wilder, verrückter, tiefsinniger, weniger langweilig und spießig.
Die Sucht hatte Mia schon vor ihren Alkoholexzessen besessen. Zuerst flutete der Dopaminkick sie in leidenschaftlichen Beziehungen. Sie war nicht wählerisch bei ihren Partnern, bis sie sich auf Männer einschoss, die doppelt so alt waren, wie sie, die gierig war zu gefallen und leicht zu kontrollieren und am Ende emotional ausblutete.
Als sie aufhörte, war das nur der erste Schritt, denn danach trat alles in klare Sicht, was zuvor nebulös geblieben war:
Meine brennende Wut, meine ungeheilten Kindheitswunden, mein irrationales Verhältnis zu Geld, mein verrücktes Beziehungsverhalten, meine Selbstsabotage, mein Selbstmitleid, meine Ausreden, meine falsche Toleranz … S. 12
Den Tiefpunkt, irgendein wirklich schlimmes Ereignis gab es bei ihr nicht. Ja sicher Blackouts:
Man hat ganze Stunden partieller Amnesie erlebt, in denen man wie ein Zombie herumgelaufen ist, sich unterhalten und am Leben teilgenommen hat, ohne selbst dabei gewesen zu sein. S. 17
Fazit: Ich bin ergriffen. Noch nie habe ich eine so glasklare, ehrliche Selbstanalyse einer ehemaligen suchtkranken Frau gelesen. Mia Gatow geht mit klugem, nüchternem, präzisem Erzählstil auf die Suche nach den Mechanismen der Sucht, die vielfältiger nicht sein könnten. Sie zeigt mir ihre Familie, den alkoholkranken Vater, die alkoholkranke Großmutter. Sie erzählt davon, wie die traumatisierte Nachkriegsgeneration in die kapitalistische Falle tappte, die der gestressten Frau Entspannung durch „Frauengold“ und „Klosterfrau Melissengeist“ versprach. Die Autorin verschont weder die emotional unreifen „Sugar Daddies“ noch sich selbst und ihren Hang zu Dramen oder den Hunger nach Aufmerksamkeit und Wertschätzung. Die Autorin hat aus dem Vollen geschöpft und eine Lebenserfahrung gesammelt, die man einer deutlich älteren Frau zutrauen würde. Sie hat sich ihrer eigenen Wahrheit gestellt und emanzipiert. Mia Gatow „spricht mir aus der Seele“ Ihre Geschichte ist meine eigene und ganz sicher die vieler anderer Frauen. Es hat mich getroffen, einen anderen Menschen aussprechen zu sehen, was ich selbst erlebt habe und ich empfinde die gleiche Achtung vor ihr und ihrer Selbsthilfe, wie vor mir. Was für ein wichtiges und auch feministisches Buch, ein Tabubruch.