Pici: Erinnerungen an die Ghettos

Buchseite und Rezensionen zu 'Pici: Erinnerungen an die Ghettos' von Robert Scheer
4.5
4.5 von 5 (2 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Pici: Erinnerungen an die Ghettos"

2014 reist der wahldeutsche Autor Robert Scheer nach Israel, um dort seine Großmutter Elisabeth Scheer, genannt Pici, über ihre Kindheit und Jugend zu befragen. Pici feiert in dem Jahr ihren 90. Geburtstag. Ihrem Enkel gegenüber gibt Pici Auskunft, wie sich in den 1940er Jahren durch den Nationalsozialismus die Lage für die jüdische Bevölkerung in Ungarn verschlechterte. Sie berichtet über ihre furchtbaren Erlebnisse in den Ghettos Carei und Satu Mare, im Konzentrationslager Auschwitz, im berüchtigten Außenlager Walldorf, im Konzentrationslager Ravensbrück und im mecklenburgischen Rechlin, bis sie 1945 im mecklenburgischen Malchow befreit wurde. Pici`s Eltern, ihre Schwestern, ihr Bruder, ihr Schwager und ihre kleine Nichte wurden im Holocaust ermordet. Pici`s detailreichen Erinnerungen machen es den Leserinnen und Lesern leicht, sich das Leben in der damaligen Zeit vorzustellen, in der es Alltag und Familie gab, später dann Unmenschlichkeit und Vernichtung und nur vereinzelt auch Mitgefühl und Solidarität. Pici stirbt 2015 mit 91 Jahren.

Format:Taschenbuch
Seiten:228
Verlag: MARTA PRESS
EAN:9783944442402

Rezensionen zu "Pici: Erinnerungen an die Ghettos"

  1. 4
    27. Sep 2017 

    Ein persönliches Mahnmal...

    Robert Scheer liebte seine Großmutter. Dies ist an und für sich nichts Besonderes, doch eigentlich ist es ein Wunder, dass es den Autor überhaupt gibt. Denn eigentlich hätte seine Großmutter Pici nicht überleben, nicht heiraten und keine Familie gründen dürfen. Denn dies war der Plan von Hitler und seinen Schergen. Doch als einzige ihrer weitverzweigten jüdischen Familie überlebte Pici ("die Kleine") seinerzeit die Gräuel des Holocaust.

    "Die Weisen sagen, das Ziel des Lebens sei das Leben selbst. Dem folgend habe ich das Ziel erreicht. Denn ich lebe noch." (S. 56)

    Zum 90. Geburtstag seiner Großmutter beschloss Robert Scheer, diese nach ihren Erlebnissen zu befragen, damit ihr Zeugnis bewahrt bleibt. Und wo Pici jahrzehntelang geschwiegen hat, öffnete sie sich ihrem Enkel gegenüber und gab Auskunft über helle und dunkle Jahre ihrer Vergangenheit.

    Die ersten zwei Drittel des Buches erzählen von Picis Familie und ihrer Kindheit in Rumänien. Dort wohnte die Familie ungarischer Juden und lebte vom Holzhandel des Vaters. Arm, kinderreich, aber zufrieden, so wie viele andere Menschen der kleinen rumänischen Stadt auch. Als etwas langatmig habe ich diese Schilderungen zeitweise empfunden, aber andererseits als durchaus legitim - holte sich Pici auf diese Art noch einmal alle Mitglieder iher großen Familie in ihre Erinnerung zurück, alle in den Jahren des Holocaust ums Leben gekommen.

    Die schlimmen Erlebnisse Picis nach dem Verlust ihrer Heimat in den 40er Jahren nach der Machtergreifung Hitlers nehmen entsprechend etwa ein Drittel des Buches ein. Die Vertreibung ihrer Familie aus der kleinen rumänischen Stadt, die Erfahrungen im Ghetto, die Deportationen in verschiedene Konzentrationslager, die Kälte, die Hitze, der Hunger, die Unmenschlichkeit, die Angst, die Krankheiten, das Trauma, der Tod - Dinge, über die es sicher auch nach 70 Jahren noch schwerfallen dürfte zu sprechen.

    Was mich bei der Lektüre verblüffte, waren die großen Erinnerungslücken Picis, die viele schreckliche Erlebnisse und Details ausgeblendet zu haben scheint.

    "Und auch für die folgenden Zeiten gibt es solche kleinen Momente, die völlig in meinem Gedächtnis fehlen, aber nicht so, dass ich sie nach Jahren vergessen hatte, sondern so, als hätten sie nichts mit mir zu tun gehabt. Vielleicht, weil mein Verstand dies alles nicht nachvollziehen konnte und von sich wegschob..." (S. 90)

    Entsprechend rudimentär erscheinen denn auch teilweise die Erinnerungen, Spotlights der Schrecken, wobei die Schilderungen selbst nahezu nüchtern erscheinen. Dennoch kommt das Grauen beim Leser an, die Bilder lassen sich ncht verdrängen, die Unfassbarkeit der Erinnerungen bricht sich Bahn. Zahlreiche in den Text integrierte Fotos (viele aus dem Privatbesitz des Autors) unterstreichen das Geschriebene, geben dem Erzählten ein Gesicht und verankern das Grauen in der Realität.

    Der Schreibstil ist einfach, erinnert zeitweise an einen ungeübten Schulaufsatz. Doch vieles ist in wörtlicher Rede wiedergegeben und dokumentiert so eher das Gespräch zwischen dem Enkel und seiner Großmutter Pici als dass es literarisch aufgearbeitet ist. Dieses Stilmittel der wörtlichen Rede unterstreicht in meinen Augen die Authentizität der Erzählung.

    Neben den bereits erwähnten Fotos gibt es - vor allem in dem vielseitigen Anhang - auch zahlreiche Kopien von alten Briefen, Dokumenten und Listen, die die Erinnerungen Picis in Raum und Zeit des Holocaust verankern. Hier hätte ich mir eine bessere Qualität der Darstellung gewünscht, denn viele der genannten Quellen waren durch eine blasse und verschwommene Kopie für mich tatsächlich kaum leserlich, was ich wirklich bedauerlich fand.

    Robert Scheer hat mit diesem Buch nicht nur seiner geliebten Großmutter ein Denkmal gesetzt, sondern mit Picis Erinnerungen auch ein persönliches Mahnmal geschaffen. Ein Buch 'Gegen das Vergessen', das sehr persönliche Einblicke gewährt.

    © Parden

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  1. Pici vom Mädchen zur starken, tapferen Frau

    Elisabeth Scheer genannt Pici wurde 1924 in Carei, einer kleinen Stadt im heutigen Nordwesten Rumäniens liegend, nahe der ungarischen Grenze, geboren. Die vierte Tochter eines Holzhändlers, ein Bruder sollte später noch folgen, verlebte ihre ersten Jahre als eine äußerst strebsame Schülerin, die das Lernen über alles liebte. Schon früh begannen Beschimpfungen gegen Juden auszubrechen, im Jahre 1934 dann musste Pici die deutsche Schule verlassen und stattdessen die staatliche, rumänische Schule besuchen. Um auf dem von ihr gewohnten Bildungslevel zu bleiben, musste das Mädchen die rumänische Sprache lernen und sich den Stoff ihrer neuen Schulklasse schnell aneignen. Sie war so sehr damit beschäftigt, dass sie die Weltenlage um sich herum gar nicht mitbekam. Das sollte sich bald ändern, eine traurige Zeit begann ...

    Der Autor Robert Scheer hat 2014 den 90. Geburtstag seiner Großmutter zum Anlass genommen, sich ihre Lebensgeschichte erzählen zu lassen. Er hat die Gespräche auf Tonband mitgeschnitten und sie frei erzählen lassen, nur manchmal hat er einfühlsam Stichworte eingeworfen, um ihre Gedanken wieder in die Bahn zu bringen. Beim Lesen wird mir deutlich, dass Frau Scheer noch hätte viel mehr erzählen können und noch weitaus mehr Geschichten aus ihrem Leben hätte erzählen können. Schön fand ich auch die Episoden, wenn der Großsohn mit der Großmutter über Situationen und politische Lagen diskutiert hat. Für mich als Leserin fühlte es sich dann an, als wäre ich zum Kaffee eingeladen und könnte der Konversation lauschen. Somit ist das Buch ein wichtiges Stück Zeitgeschichte, es zeigt den Lebensweg der Elisabeth Scheer beginnend von ihrer frühen Kindheit, in der es abstoßender weise bereits die ersten Beschimpfungen gab, über das wohl schlimmste Kapitel der Menschheit, dem Holocaust, den Elisabeth Scheer überlebt hat. Elisabeth und Robert Scheer lassen uns Leser dankenswerter Weise teilhaben an einem unglaublichen und unvorstellbaren Schicksal, dessen Bewältigung und ihrem eigenen Stück Familiengeschichte.

    Von Herzen gerne vergebe ich dem Buch seine wohlverdienten fünf von fünf möglichen Sternen und wünsche ihm, dass es noch viele, viele Leser findet, optimal wäre die Aufnahme in die Lektüreliste deutscher Schulen, um das Vergessen dieses bitteren Abschnittes der Geschichte zu stoppen und ein Wiederholen zu verhindern. Unbedingt empfehlen möchte ich das Buch allen Lesern, die sich mit der persönlichen Geschichte von Elisabeth Scheer auseinandersetzen möchten, einer starken, tapferen Frau mit dem Herzen auf dem rechten Fleck.

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