Phlox

Buchseite und Rezensionen zu 'Phlox' von Jochen Schmidt
5
5 von 5 (1 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Phlox"

Es ist das letzte Mal, dass Richard Sparka, vertraut aus Jochen Schmidts Roman "Zuckersand", mit seiner eigenen Familie, der Gefährtin Klara und den Kindern Karl und Ricarda, ins geliebte Kindheitsparadies Schmogrow im Oderbruch fährt. Nach dem Tod der Tatziets, die jahrzehntelang das Haus und den Garten, das Dorf und die Umgebung zu einem Ferienidyll und Hort des richtigen Lebens gemacht haben, wird das Haus abgerissen und das Grundstück verkauft. Richard, verstrickt in die Erziehungskonflikte mit Klara und konfrontiert mit dem Eigensinn der Kinder, will im Gedenken an die "Wunder von Schmogrow" seinen ewigen Kampf gegen die Verhässlichung der Welt fortsetzen. In Erinnerungen und Erkundigungen, mit einer Art Archiv der Geschichte und der geistigen und praktischen Lebensweisheiten der Familie Tatziet, forscht Richard dem Glück Schmogrows nach und entdeckt, dass Vieles in dem naturnahen Selbstversorger-Paradies - mit seiner Liebe zur Dauer und dem Widerstand gegen jegliche Verschwendung - auch dunkle Züge trägt

Format:Gebundene Ausgabe
Seiten:479
Verlag: C.H.Beck
EAN:9783406793080

Rezensionen zu "Phlox"

  1. »Ich bin für immer geblieben, obwohl ich längst gegangen bin«

    Handlung:

    Richard, Klara und ihre Kinder Karl und Ricarda fahren in den Urlaub; es geht nach Schmogrow im Oderbruch. Hier verbrachte Richard früher als Kind seine Ferien, im Haus des Ehepaars Tatziet, das stets Tür und Tor geöffnet hatte für eine Vielzahl von Besuchern – fast schon eine kleine Kommune, wo jede:r mit anpackte und Gemeinschaft großgeschrieben wurde. Doch die Tatziets sind verstorben, das Haus soll verkauft werden, daher ergreift Richard die letzte Chance, seiner Frau und seinen Kindern wenigstens einen Anklang der alten Idylle zu zeigen. Auf der Fahrt verliert er sich schon in Gedanken und in Erinnerungen, die zu seiner eigenen Überraschung nicht nur idyllisch sind.

    Meine Meinung:

    Schmogrow. Ein Ort der Kindheitserinnerungen, ein Hort der Schönheit und Gemeinschaft. Viele von Richards Wurzeln reichen zurück in dieses Selbstversorger-Idyll mit mehr als einer Prise Aussteigermentalität.

    Hier verbrachte seine Familie jedes Jahr ihre Ferien, hier wurde wohl auch der Samen gesät für Richards hartnäckigen Kampf gegen die Verhässlichung der Welt – und für seine Schwierigkeiten damit, die Kindheit loszulassen. Die Tatziets, die guten Geister von Schmogrow, boten mit ihrem stets offenen Haus vielen Menschen einen Rückzugsort von Stress, Mühen und Widrigkeiten ihres Alltags; ein unerschütterliches Fundament, auf dem ein gutes, naturnahes Leben möglich wurde.

    Richard möchte dies alles seinen eigenen Kindern Karl und Ricarda mitgeben, fühlt sich aber zugleich verstoßen aus Schmogrows Nimmerland. Da schwingt immer mal wieder an, dass nicht nur ‘sein’ Schmogrow mit dem Tod der Tatziets unwiderbringlich verloren ist, auch das Land von Richards Kindheit gibt es seit der Wiedervereinigung nicht mehr so, wie er es erinnert.

    »Karl kann noch nicht schwimmen, ich halte ihn mit den Händen unter seinem Bauch in der Schwebe, er strampelt mit Armen und Beinen und hat Angst, zu ertrinken, sieht mich aber aus unbeschreiblich glücklichen Augen an, stolz, daß er schon tauchen kann, was für ihn noch bedeutet, die Augen zuzukneifen und für eine Sekunde die Nase ins Wasser zu stecken. Daß er gerade das erlebt, wovon ich vergeblich träume, die Kindheit mit ihrem Zauber und ihrer Macht über das ganze Leben, überfordert mich.«
    (ZITAT)

    Richards Gedanken verweben Vergangenheit und Gegenwart; der unwiderstehliche Sog seiner glücklichen Kindheit wird zunehmend durchbrochen von Zweifeln und kritischen Gedanken.

    Je weiter das Buch voranschreitet desto tiefer geht es auch damit, Schmogrow und sein Umfeld im Kontext der Zeitgeschichte zu betrachten. Der Krieg mit all seinen Schrecken klingt an, die DDR-Diktatur. Einerseits will Richard festhalten am goldenen Schein der Idylle, am Sommerglück, an der Lebensfreude – andererseits ist er intelligent und ehrlich genug, um sich einzugestehen: Diese oder jene Person, die eine Lichtgestalt in meiner Kindheit war, hat möglicherweise auch Abgründiges in ihrem Leben erlebt, gedacht oder getan. Und das eine macht das andere nicht weniger wahr. Richards Kindheitsparadies ist letztendlich so real wie dessen Bruchstellen, und daher so problematisch und konfliktbehaftet wie alles im Leben.

    Diese Dualität spiegelt sich in anderen Lebensbereichen: Richard liebt seine Frau, seine Frau liebt ihn, aber sie reiben sich auf an mal grundlegenden, mal trivialen Differenzen. Sie versuchen ihren Kindern Raum zu geben, aber diese Freiheit zugleich in die ‘richtigen’ Bahnen zu lenken, um deren Lebensglück (und anscheinend den Stress der Eltern) zu optimieren. Auch ich wurde erfasst von diesem Zwiespalt: Mal ging mir das Herz auf, mal spürte ich Richards wiederkehrende Depression, seinen ‘schwarzen Mönch’, als lähmenden Phantomschmerz.

    Dennoch ist es ein Roman der durchzogen ist von einem fabelhaften Humor, immer wieder aufgefangen wird von Momenten des reinen Glücks – gerade genug hinterfragt, um Kitsch zu vermeiden, geschweige denn verklärte Ostalgie. Was “Phlox” großartig macht ist eben diese Wechselwirkung: süß, aber mit einer Spur von Bitterkeit. Oder umgekehrt?

    Jochen Schmidts mal witziger, mal feinfühliger Schreibstil, mit seiner Liebe zum Detail und seinen aufmerksamen Beobachtungen, entspricht genau dem Wesen des Schauplatzes Schmogrow, der zugleich Leitmotiv des Romans ist.

    Nichts ist zu klein oder unbedeutend, um in Richards Gedanken Erwähnung zu finden; jedes noch so unscheinbare Steinchen fügt sich ins Mosaik. Eine verlorene Socke stößt genauso Erinnerungen und philosophische Offenbarungen an wie das leise Geräusch eines Holzwurms oder der Geruch der faulenden Falläpfel. Es sind diese Details, die die Geschichte zum Singen bringen, und gerade in den ‘hässlichen’ Details findet sich die Schönheit, die Richard so verzweifelt zu identifizieren sucht.

    Allerdings ist auch nichts zu klein oder unbedeutend, um Richards Hamstertrieb auszulösen, zum Leidwesen seiner Frau. Er kann Gegenstände genauso schlecht loslassen wie die Idylle seiner Kindheit. Im Grunde beißt sich diese Beziehung vor allem an Übersprungshandlungen in der Sinnsuche: Richard hortet, will Glück und Schönheit konservieren; Klara macht gewaltlose Kindererziehung und Selbstfindungstrends zur Religion.

    Wenn ich mich mit einer Sache ein wenig schwertat beim Lesen, dann waren es die langen, zum Teil recht verschachtelten Sätze. Absurd eigentlich, denn gerade die Detailverliebtheit verzauberte mich doch. Doch zwischen diesem Subjekt und jenem Objekt stolperte ich über die Prädikate, verzettelte mich in den Nebensätzen und verlor mich in den Appositionen. Dann ärgerte ich mich. Über den Satz, über mich selbst. Bin ich denn wirklich schon so geprägt von den schnelllebigen Inhalten moderner Medien, dass ich nicht mal die nötige Ruhe habe, einem langen Satz durch sein Labyrinth zu folgen? Wenn Schmogrow (zumindest das Schmogrow der Kindheitserinnerungen) eines bedeutet, dann doch wohl Ruhe und Gelassenheit, den Dingen Zeit und Raum zu geben. Und es ist ja mitnichten so, als seien die Sätze nur sinnentleert aufgebläht; hier findet sich wieder Schmidts wunderbar achtsamer Blick auf die Dinge.

    Die Schachtelsätze seien hier daher nur fürs Protokoll erwähnt. Für mich waren sie zwar ab und an ein kleiner Stolperstein, dennoch war ich von “Phlox” und von Jochen Schmidts Erzählweise mehr als angetan.

    Wem “Phlox” gefällt, dem kann ich übrigens “Zuckersand” ans Herz legen! In diesem Roman aus dem Jahr 2016 begegneten Leser:innen Richard, Klara und dem kleinen Karl zum ersten Mal; man kann beide Romane jedoch unabhängig voneinander lesen. Ging es in “Zuckersand” jedoch vor allem um Beziehungen auf der individuellen Ebene, mit starkem Fokus auf der Vater-Sohn-Beziehung, kommt in “Phlox” eine gesellschaftshistorische Ebene dazu.

    Teilen