Pfaueninsel: Roman

Buchseite und Rezensionen zu 'Pfaueninsel: Roman' von Thomas Hettche
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Inhaltsangabe zu "Pfaueninsel: Roman"

Eine Insel außerhalb der Zeit
Die Pfaueninsel in der Havel ist ein künstliches Paradies. In seinem opulenten, kundigen und anrührenden Roman erzählt Thomas Hettche von dessen Blüte, Reife und Verfall aus der Perspektive des kleinwüchsigen Schlossfräuleins Marie, in deren Lebenslauf sich die Geschichte eines ganzen Jahrhunderts verdichtet.
Es mutet an wie ein modernes Märchen, denn es beginnt mit einer Königin, die einen Zwerg trifft und sich fürchterlich erschrickt. Kaum acht Wochen nach dieser Begegnung auf der Pfaueninsel, am 19. Juli 1810, ist die junge Königin Luise tot – und der kleinwüchsige Christian und seine Schwester Marie leben fortan weiter mit dem entsetzten Ausruf der Königin: »Monster!«
Damit ist die Dimension dieser Geschichte eröffnet. Am Beispiel von Marie, die zwischen den Befreiungskriegen und der Restauration, zwischen Palmenhaus und Menagerie, Gartenkunst und philosophischen Gesprächen aufwächst und der königlichen Familie bei deren Besuchen zur Hand geht, erzählt Thomas Hettche von der Zurichtung der Natur, der Würde des Menschen, dem Wesen der Zeit und der Empfindsamkeit der Seele und des Leibes.
Dabei geht es um die Gestaltung dieses preußischen Arkadiens durch den Gartenkünstler Lenné und um all das, was es bevölkerte: Palmen, Kängurus und Löwen, Hofgärtner, Prinzen, Südseeinsulaner, Riesen, Zwerge und Mohren – und es geht um die Liebe in ihren mannigfaltigen Erscheinungsformen.
Thomas Hettche ist das Kunststück gelungen, mit dem historisch verbürgten Personal seiner Geschichte von uns Heutigen zu erzählen. Atmosphärisch, detailgetreu und voller Lust an der phantasievollen Ausschmückung.

Format:Gebundene Ausgabe
Seiten:352
EAN:9783462045994

Rezensionen zu "Pfaueninsel: Roman"

  1. Der gute Geist der Insel,

    ... das ist die kleinwüchsige Maria Dorothea Strakon. Sie und ihr ebenfalls zwergenhafter Bruder Christian sind Pfleglinge des Königs Friedrich Wilhelm III und wurden als Waisenkinder auf die Insel bei Potsdam gebracht. Sie verleben dort eine unbeschwerte und abgeschottete Kindheit. Die ersten Zweifel an ihrer Selbstvertsändlichkeit tauchen in Gestalt von Königin Luise auf. Sie erschrickt sich bei einem ihrer seltenen Besuche vor Christian und ihr entsetzt gemurmeltes "Monster" wird gehört und hinterlässt Spuren in den Köpfen beider Kinder. Während ihr Bruder die wilde Freiheit auf der Insel genießt, pendelt Marie zwischen den Repräsentationspflichten als Schlossfräulein und unbeobachteten Ausflügen in die Welt der Inselbewohner. Hierbei verliebt sie sich in den Sohn des Gärtners, der jedoch mit seinem Kopf zusehr den Pflanzen und Dingen zugewandt ist. Marie beschließt ein "Ding" zu sein.
    Waren es bei Friedrichs Vater noch die Menschen, die zum königlichen Amusement -zum Kuriositätenkabinett- gehörten, will der Sohn dem Sittenverfall dieses Mätressen-Eilands mit exotischen Tieren und Pflanzen aus aller Welt beikommen. Er lässt die Pfaueninsel von Peter Joseph Lenné umgestalten. Das Herzstück wird das beheizbare Palmenhaus, in dessen Innern sich eine indische Mamorpagode befindet.
    Fürstin Liegnitz feiert in diesem Prachtbau ein rauschendes Fest. Die Insulaner sollen sich verkleiden und beim Mummenschanz mitmachen. Christian, ganz in der Rolle des Hofnarrs, übertreibt sein Spiel und wird vom Gärtnerssohn in den Tod gestürzt.
    Aber auch Maries Leben ändert sich radikal. Ihr Leben auf der Insel wird gezeichnet von Tod, Verlust und Umbrüchen. Das Schlossfräulein wird 80 Jahre alt und findet ihr Finale eben an der Stelle, an der ihr Bruder starb.
    Hettche taucht ein in eine wundervolle, märchenhafte, aber auch geschichtlich belegte Welt auf diesem Eiland mitten in der Havel. Marie Strakon hat es wirklich gegeben, doch ihr Leben in diesem Roman ist Fiktion. Eine Fiktion, die alles aufgreift was diese Zeit von 1800 bis 1880 zu bieten hatte. Alle Fritzens mit ihren unterschiedlichen Moralvorstellungen, ein wenig Politik mit Frankreich und Russland, viel gesellschaftlicher Pomp mit Lenné und Schinkel, eine Cholera-Seuche, aber vor allem die wechselvolle Geschichte der Pfaueninsel in ihrer Hochzeit. Wer je die Insel schon besucht hat, schreitet mit Marie die Wege ab, kann das Palmenhaus erahnen, hört vielleicht sogar den Löwen brüllen, aber ist sich der Begegnung mit einem Pfau sicher.
    Das Buch hat mich träumen, schnappatmen, kopfschütteln, aber vor allem Marie lieben lassen. Es war magisch.

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  1. Historie und Märchen gleichzeitig: ein Leseschatz!

    Kurzmeinung: Ein Leseschatz, der zu den Klassikern gerechnet werden muss. Jeder sollte ihn kennen.

    Sechs Jahre nachdem Thomas Hettches Roman auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises stand (2014) und leider nicht den Preis errang, der ihm wohl auch zugestanden hätte, doch Lutz Seilers Roman „Kruso“, ebenso stark und auch nicht unverdient, wurde wegen dessen stärkeren Zeitbezugs Sieger (Wendezeit), sechs Jahre danach also lese ich endlich „Pfaueninsel“. Was wäre mir für ein Schatz entgangen, wenn ich es nicht getan hätte! „Pfaueninsel“ ist ein Klassiker und muss unvergessen bleiben!

    Auch Thomas Hettche hat sich wie Lutz Seiler, 2014, eines historischen Themas bedient. Er stellt uns das Leben vom Zwergenfräulein Maria Dorothea Strakon vor und ihres Bruders Christian, die beide als Kinder, vom König angeordnet, auf die Berlin vorgelagerte Pfaueninsel gebracht werden, um dort aufzuwachsen. Und um dem Auge des Hofes entzogen zu sein.

    Friedrich Wilhelm II (1744 bis 1797) und Friedrich Wilhelm III (1770 bis 1840) bestimmten maßgeblich das Leben der Zwergin und ihres Bruders, da die Herrscher die Pfaueninsel je nach Gusto einrichteten. Was der eine aufbaute, riß der andere ein.

    In dieses Setting setzt Thomas Hettche seine Protagonisten. In eine Gartenwelt. Unter Palmen und zwischen Pfauen.

    Man ist verzaubert. Ist in einem Märchen gelandet, in einer Phantasiewelt. Doch gleichzeitig erlebt man die harte Wirklichkeit, in der Menschen und Tiere nur Spielzeuge der göttergleichen Herrschaften sind und strenge Hierarchien den „niederen“ Geschöpfen Wert und Menschlichkeit absprechen. Besonders die Tiere sind Ausgelieferte. (Daran hat sich leider bis heute wenig geändert).

    Erzählt wird aus der Perspektive der kleinwüchsigen Marie, die immerhin stolze achtzig Jahre alt wurde. Ihre Geschichte ist erfunden, doch es hat sie gegeben. Ihr Grabstein zeugte davon. Manchmal durchbricht Hettche seine Geschichte, fast unmerklich, mit wunderschönen philosopischen kleinen Betrachtungen.

    Zitat:

    „Nie weiß man, welchem Anstoß sich welche Erinnerung verdankt, was woran sich bildet, die Träume am Leben oder unser Blick auf die Welt an dem, wovon wir nicht aufhören können zu träumen“.

    Diese Gedanken machen das Buch so kostbar. Das Reflexive über das Leben, die Zeit, die Pflanzen. Die Orte. Über die Dinge und die menschliche Natur. Wenn man es mag, dass der Autor auf diese Weise vor Ort ist und einen in all dem schrecklichen Geschehen an der Hand hält, in den vielfachen Wundern und dem Trauern und dem Staunen, ist dieser Roman einfach nur großartig. Die beste Literatur, die mir in der letzten Zeit untergekommen ist.

    Erzählt wird von der Gartenkunst und Gartenarchitektur des 19. Jahrhunderts, von der beginnenden Industrialisierung, von der Technik, dem Fortschritt und der Zerstörung. Bekannte Persönlichkeiten agieren vor dem Auge der Leserschaft. Peter Joseph Lenné (1789 bis 1866) zum Beispiel macht keine gute Figur und man hasst ihn.

    Fazit: Was für ein Erstaunen, dass ein zeitgenössischer Autor in der Lage ist so herrlich zu erzählen, der erzählten Zeit angepasst, melodiös, ruhig, mit Bedacht und dennoch modern. Ich habe jeden Satz geliebt.

    Mein persönliches Lesehighlight 2020.

    Kategorie: Anspruchsvolle Literatur. Historischer Roman.
    Verlag: Kiepenheuer & Witsch, 2014

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