Otmars Söhne

Buchseite und Rezensionen zu 'Otmars Söhne' von Peter Buwalda
4.5
4.5 von 5 (2 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Otmars Söhne"

„Mit dem, was Psychiater für ein stattliches Honorar Vatersuche nennen, hat es nichts zu tun“ – so beginnt dieser Roman, und tatsächlich: Ludwig Smit, Stiefbruder eines genialen, aber wunderlichen Klavier- und Beethoven-Virtuosen, dessen Vater Otmar auch ihn großgezogen hat, sucht seinen leiblichen Vater nicht. Aber als der junge Shell-Angestellte, zuständig für die umstrittene Vermessung von Erdölfeldern per Dynamit, auf die sibirische Insel Sachalin reist, um dort den Geschäftsführer der Firma Sakhalin Energy zu treffen, kommt ihm der Verdacht, dass dieser Johan Tromp sein Vater ist, der ihn schon im Stich gelassen hat, als er noch gar nicht geboren war. Völlig unverhofft, nämlich in einem Schneesturm, begegnet er in diesem fernen Winkel Russlands einer früheren Mitbewohnerin wieder, der Journalistin Isabelle Orthel, die, wie sich herausstellt, mit Tromp vor Jahren in Nigeria eine Affäre hatte und nun den Plan verfolgt, diverses Dunkle ans Licht zu zerren. Bislang kam Tromp – Hedonist, Alpha-Mann, Kronprinz von Shell – immer einfach so davon.

Format:Gebundene Ausgabe
Seiten:624
EAN:9783498001759

Rezensionen zu "Otmars Söhne"

  1. 4
    19. Dez 2023 

    De Sade und die Sünden von Big Oil

    Wer Peter Buwaldas neuen Roman zur Hand nimmt, erwartet keinen subtilen Text der leisen Töne: Schon „Bonita Avenue“, sein Erstling aus 2014, war ein veritabler Kracher. Wie nicht anders zu erwarten, erweist sich „Otmars Söhne“ als keinen Ton leiser.

    Der Roman ist der erste Teil einer Trilogie, deren Titel: 111. Und so beginnt er, rückwärts zählend, mit Kapitel 111 und endet bei Kapitel 75. Es geht darum, was Familie ausmacht, um Loyalität und Verrat. Es geht um die Dynamik toxischer Beziehungen. Und es geht um patriarchale Macht, ergo Sex - und die Sünden der Erdölkonzerne. Große Teile der Romanvergangenheit spielen in Lagos, Nigerias Hauptstadt; die Romangegenwart im russischen Sachalin.

    Die Geschichte wird aus der Sicht dreier Figuren entwickelt: Ludwig, Stiefsohn des titelgebenden Otmar, Sohn eines Vaters, der sich schon vor der Geburt absentiert hat. Seine Stiefgeschwister sind Stars der klassischen Musik; klassische Musik spielt ebenfalls eine große Rolle im Roman. Dann ist da Isabelle, thailändischer Herkunft, adoptiert von einer großbürgerlichen Familie, die durch eine devot-dominante Liebschaft gesprengt wird. Außerdem Johan, mutmaßlicher Vater von Ludwig, Top Manager bei Shell. Isabelle und Ludwig haben eine Zeitlang in derselben Studenten-WG gewohnt, Isabelle ist nun investigative Journalistin und hat eine Rechnung mit Johan offen. Ludwig ist Sales Rep einer Firma, die seismische Messtechnik an Erdölkonzerne verkauft und Johan der Entscheider auf der Konzernseite. Ludwig, Johan und Isabelle treffen auf Sachalin zusammen – eine riesige sibirische Insel, auf der der Erdölkonzern Shell Förderanlagen betreibt.

    Das erste Drittel des Romans erleben wir aus der von seiner sexuellen Störung beherrschten Sicht von Ludwig; dann wechselt die Perspektive zu Isabelle und die Story bekommt Schub, erst recht, nachdem Johan ins Spiel kommt. Wir erfahren den Hintergrund der Protagonisten, Gegenwart und Vergangenheit sind in den Reflektionen der Figuren eng verflochten. Wie Buwalda jeweils den Blickwinkel und die Zeit wechselt, quasi gleitend von einem Nebensatz auf den anderen, das fand ich wirklich kunstvoll gemacht. Dennoch kommt man nie durcheinander. Überhaupt mag ich Buwaldas Stil - seine originellen Metaphern, die extremen Charaktere und schrägen Ideen. Zum Beispiel heißt Isabelles bester Freund Abélard – der sich irgendwann einer Geschlechtsumwandlung unterzieht und fortan Héloise nennt. Aber genau das, dieses Schrille, die Arabesken, der Overdrive, das eben ist Buwalda. Dabei verliert er nie das Augenmaß für die innere Logik seines Plots – man kauft ihm jede Kapriole mit Vergnügen ab.

    Sex spielt eine große Rolle im Roman. Es geht um Dominanz und Unterwerfung, um Macht also. Nach der Lektüre gab es viele Bilder in meinem Kopf, auf die ich gern verzichtet hätte. Im zweiten Drittel des Romans wird obendrein de Sade zitiert, nichts, was ich jemals lesen wollte. De Sade inszenierte sich mit seinen Schriften als antibürgerlicher Libertin, der die „wahre Natur“ des Raubtiers Mensch befreien wollte. So abstoßend das ist, es hat eine Funktion, denn de Sade und die Männer, die die Natur des Planeten vergewaltigen, haben viel gemeinsam. Johan Tromp glaubt wie de Sade, über Gesetz und Moral zu stehen. Angesichts der grauenhaften de Sade-Zitate verwundert es einen, dass sich tatsächlich, von Beauvoir bis Adorno, namhafte Denker damit auseinandergesetzt haben. In Buwaldas Roman ist das die Rolle seiner weiblichen Protagonistin. Kann man de Sade relativieren? Der Autor lässt Isabelle eintauchen in die Welt der Konzernwölfe – und zunächst verwirrt, dann mit neuer Klarheit daraus hervorgehen. Mir gefiel die differenzierte Sicht dieser Figur – es gelingt ihm, durch ihre Augen Philosophie und Geschehen einzuordnen, ohne zu moralisieren. Ihre Reise ins vergiftete Nigerdelta fand ich höchst eindrücklich - krasse Bilder, die das amoralische Verhalten der Konzerne illustrieren.

    Von daher wäre es aus meiner Sicht verfehlt, aus den vielen pornographischen Szenen auf Buwaldas Misogynie zu schließen. Seiner Isabelle gelingt es trotz allem, Subjekt zu bleiben – sie ist die moralische Instanz des Romans, anders als die männlichen Figuren, die zwischen Schwäche und Grausamkeit, Memme und Monster oszillieren und nicht in der Lage sind, über ihr Begehren hinauszudenken. Wenn ein Autor de Sade mit Andrea Dworkin kontrapunktiert, kann man ihm schlecht Maskulismus vorwerfen. Schon gar nicht, wenn er eine Figur erfindet wie Abélard/Héloise.

    Der ganze Roman steuert mit wachsender Spannung auf das finale Zusammentreffen von Isabelle und Johan, Johan und Ludwig zu. Am Ende hat nur eins dieser Treffen stattgefunden – der Cliffhanger funktioniert. Wenn auch das erste Romandrittel um den zaudernden Ludwig mehr Stringenz hätte vertragen können, ist Buwalda ein starker Nachfolger von Bonita Avenue geglückt. Hoffentlich müssen wir auf Teil II der Trilogie nicht wieder 7 Jahre warten.

    Fazit: Nichts für schwache Nerven und zarte Gemüter – allen anderen sei der Roman empfohlen.

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  1. Öl und Macht. Exzentrik und Perversität.

    Kurzmeinung: Geht unter die Haut. Regt auf. Heiße Story.

    Der Roman „Otmars Söhne“, hier Band 1 von voraussichtlich dreien, ist zwar ein Roman entlang einer Familie, aber den normalen Familienroman, den wir als Leser so gewöhnt sind, und bei dessen Lektüre wir wohlig in unseren Lesesessel geschmiegt, genießen, den werden wir von Peter Buwalda nicht bekommen. Buwalda sei Dank! Denn Peter Buwalda schreibt, wieder einmal, über Exzentriker. Buwaldas Romane sind (herrlich) unbequem. Ich meine, er könnte der niederländische Houellebeq sein.

    Von zwei Handlungsebenen her lässt der Autor seine Protagonisten auf der sibirischen Insel Sachalin aufeinandertreffen. Durch einen Schneesturm in einem Hotelchen gestrandet und festgehalten, stoßen zu ihrer Überraschung zwei alte Bekannte aufeinander. Es sind die beiden Niederländer, die Investigativjournalistin Isabel Orthel und Ludwig Smit. Wegen Überfüllung müssen sie sich sogar ein Zimmerchen, ein Bettchen teilen. Ihre Beziehung enthält von früher her einige unappetitliche Pikanterien, obwohl sie nur kurz zusammenwohnten und niemals ein Paar waren.

    Beide inzwischen mehr oder weniger erfolgreich in ihrem Beruf, haben auf Sachalin dasselbe Zie. Sie wollen Gespräche mit dem maßgeblichen Mann im Ölgeschäft auf Sachalin führen. Isabel will Johan Tromp fertigmachen, weil er vor Jahren in Nigeria eine große Schuld auf sich geladen hat. Schon damals war sie hinter ihm her und setzte nicht gerade zimperliche Mittel ein, um an den großen Mann heranzukommen. Wie man sich denken kann, zeichnet sich Johan Tromp nicht als der Sympath aus. Er ist ein knallharter Geschäftsmann, durch und durch skrupellos und noch dazu ziemlich pervers veranlagt.

    Ludwig Smit soll Johann Tromp im Auftrag seiner Firma eine technische Methode empfehlen, wodurch man unterhalb der Erdölfelder künstliche Erdbeben herbeiführt, um die Ergiebigkeit der Lager festzustellen. Diese Methode, „seismic survey“ genannt, im sibirischen Ochotskischen Meer angewandt, würde dazu führen, dass die Kinderstube der dort ansässigen Grauwale gestört, die Grauwale vielleicht sogar ganz und gar ausgerottet werden. Ludwig ist das egal. Er hat jede Menge gefälschte Gutachten in der Tasche.

    Die erste, jedoch enttäuschend verlaufende geschäftliche Unterredung mit Tromp hat Ludwig Smit bereits hinter sich, während Isabell ihr Treffen mit Tromp noch vor sich hat. Pikant wiederum beim Intermezzo Ludwigs und Isabels, beide haben Geheimnisse voreinander und wissen Dinge übereinander ... und jeder versucht, den anderen für seine Zwecke zu verheizen.

    Mit dem brisanten Gespräch zwischen Isabel Orthel und Johan Tromp endet das Buch.

    Der Kommentar:

    600 Seiten lang ein Gespräch vorbereiten, zugegeben, ein Gespräch, das Sprengstoff enthält … das muss doch langweilig sein.

    Ganz und gar nicht. Denn Buwalda hat seine Protagonisten mit jeder Menge Exzentrik ausgestattet.

    Isabel und auch Ludwig haben ungewöhnlichen Familien im Rücken. Da ist der Stiefbruder Ludwigs, der ihm den Vornamen gestohlen hat, Dolf Appelquist, ein Ausnahme-Musiker, der sich lange Zeit einbildete, Beethoven zu sein. Da ist Ludwigs Stiefschwester Tosca eine versierte Konzertmeisterin, die schwer einzuschätzen ist. Da ist auch Isabels Verwandtschaft. Patriarchat. Reichtum und Heuchelei. Und fast alle haben sexuelle Obsessionen. Die möglichst nicht ans Licht kommen sollen!

    Einige Leserinnen haben sich an der Darstellung sexueller Praktiken gestört. Sie meinen, Buwalda präsentiere ein frauendiskriminierendes, gewalttätiges Bild von Sexualität. Ich weiß nicht, ob man das so sagen kann. Ob man aus dem Roman heraus über den Autoren urteilen kann. Buwalda schreibt über machtbesessene, perverse Männer. Über Männer, die gerne dominieren. Es ist nicht davon auszugehen, dass seine Protagonisten Blümchensex haben. Rassistisch ist der Text auch nicht. Keine Spur.

    Die Story, die Buwalda schreibt, ist jedoch so heiß wie Öl. Obwohl sie eigentlich langsam erzählt wird. Sechshundert Seiten! Aber sie hat Zug nach vorne und es stimmt jedes Detail. Als am Ende sich alles zusammenfügt, finde ich

    Fazit: Dieser Roman ist intelligent, aufdeckend, intellektuell, heiß, und das Beste, was ich bisher in diesem Jahr gelesen habe.

    Kategorie: Belletristik
    Verlag: Rowohlt, 2021 (erscheint im Mai).

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