Opus 77: Roman

Buchseite und Rezensionen zu 'Opus 77: Roman' von Alexis Ragougneau
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Inhaltsangabe zu "Opus 77: Roman"

Auf der Beerdigung ihres Vaters hält Ariane am Flügel inne, die gefeierte Konzertpianistin, belauert von der Trauergesellschaft. Eine dröhnende Pause, ein langes Atemholen, und Ariane setzt an – zu Schostakowitschs »Opus 77« und zu der Geschichte ihrer Familie. Ihr Vater, der große Dirigent, der Maestro, übermächtig in Orchester und Familie. Ihr Bruder, Geigenvirtuose, das blasse Gesicht verborgen hinter schwarzen Locken. Ihre Mutter, ehemals leuchtend, nur noch ein schwacher Schatten. Und sie selbst, verdeckt von der perfekten Inszenierung der unnahbaren Pianistin. Vom einsamen Gesang steigert sich Arianes Opus zu einem dämonischen Tanz, der die Ruhe zerreißt und die Missklänge der Vergangenheit aufwirbelt.

Format:Kindle Ausgabe
Seiten:237
Verlag: Unionsverlag
EAN:

Rezensionen zu "Opus 77: Roman"

  1. Wo Musik und Literatur sich treffen

    „Wir werden mit dem Schweigen beginnen. Aber Schweigeminuten dauern ja, wie Sie wissen, nie volle 60 Sekunden, genauso wenig wie Minuten stillen Gedenkens bei einer Beerdigung in einer Genfer Basilika.“ (S. 6)

    So beginnt Starpianistin Ariane Claessens uns ihre Gedanken mitzuteilen, während sie vor dem Flügel in dieser Kirche sitzt. Sie hat ihren Vater beim Sterben begleitet, der über Jahrzehnte der berühmte Dirigent des führenden Sinfonieorchesters der Schweiz war. Nun wird er zur letzten Ruhe gebettet. Ariane soll etwas zum Gedenken an ihren Vater spielen. Sie verwirft alles Gewöhnliche und nimmt sich den Klavierauszug des Opus 77 von Schostakowitsch vor, ein gefühlsaufwallendes Violinkonzert über vier Sätze, das offenbar weitreichende Bedeutung für Familie Claessens hat.

    „Hören Sie mir jetzt gut zu, hören Sie unsere Geschichte; die Geschichte von meiner Mutter, meinem Bruder und Ariane Claessens, die für Sie aus dem Gedächtnis spielt; diesmal, das verspreche ich Ihnen, werde ich die Hüllen fallen lassen, und sie werden mich nackt sehen, wie Gott mich schuf.“ (S. 12)

    Während Ariane nun der Trauergemeinde das dramatische Opus 77 vorträgt, wendet sie sich in einem fesselnden inneren Gedankenstrom an ihre Zuhörer, zu denen auch wir Leser gehören, und berichtet ihre packende Familiengeschichte.

    Die Familie, das sind neben dem dominanten Maestro seine 17 Jahre jüngere Frau Yaël sowie die beiden Kinder David und dessen zwei Jahre jüngere Schwester Ariane. Yaël brillierte einst als aussichtsreiche Sopranistin. An der Seite Claessens verlor sie schnell ihre Strahlkraft und zog sich aus dem Rampenlicht zurück. Als Mutter bleibt sie blass, ist zeitlebens unglücklich bis depressiv. Die beiden Kinder wachsen wie selbstverständlich in ihre musikalischen Karrieren hinein. David wählt frühzeitig die Violine zu seinem Instrument, Ariane entscheidet sich für das Klavier. Jahrelang begleitet sie ihren sensiblen Bruder nicht nur musikalisch, sie übernimmt auch Verantwortung für ihn, denn an den Eltern haben die Kinder wenig Stütze. Im Gegenteil entwickeln sich unüberbrückbare Differenzen insbesondere zwischen Vater und Sohn, für die zwei offenbar dramatische Erlebnisse mitverantwortlich sind. Beide hängen unmittelbar mit dem legendären Opus 77 zusammen.

    Fragmentarisch erzählt Ariane, nicht chronologisch. Sie wechselt dabei die Zeitebenen, weiß Cliffhanger geschickt zu setzen. Man erfährt viel über ihre eigenen Konzerterfahrungen rund um den Globus, ihre Beziehungen, ihre Sorgen und Ängste. Die Musikwelt scheint ein Haifischbecken aus konkurrierenden Künstlern, neidvollen Kritikern und machtvollen Mäzenen zu sein, in dem sich nur die stärksten und besten Solisten behaupten können. Parallel erzählt Ariane von ihrem Bruder, seinen ersten Erfolgen, von seinen Konflikten mit dem Vater, seiner verbissenen Vorbereitung auf einen renommierten Musikwettbewerb in Brüssel, von seinem sich anschließenden Rückzug von der Welt.

    Der Roman wird unglaublich vielschichtig und dicht erzählt. Bezeichnenderweise entsprechen die Unterteilungen des Romans den Satzbezeichnungen des vorgetragenen Opus 77. Parallelen in Ausdruck, Tempi und Stimmungen sind also durchaus gewollt. Man muss kein Musikkenner sein, um diesen Roman zu mögen. Vieles über Komponist und Werk wird uns erläutert. Allerdings schadet es nichts, in das titelgebende, sehr emotionale Werk hineinzuhören: „Opus 77 oder der einzige Rettungsanker eines Menschen, der sich zum Selbstmord getrieben sieht. Nie hat Musik wohl mehr den Kampf des Lichts gegen die dunklen Mächte symbolisiert.“ (S. 147)

    Ich weiß gar nicht, wo ich beginnen soll, meine Begeisterung in Worte zu fassen. Ich habe den gesamten Roman irrsinnig genossen, ihn regelrecht verschlungen. Die einzelnen Erzählstränge Arianes sind sehr geschickt miteinander verwoben. Das eine Thema wird kurz zur Seite gelegt, um das nächste wieder aufzunehmen und fortzusetzen. Die Handlung schreitet kontinuierlich auf einen Höhepunkt zu, der sich abzeichnet, den man aber bis zum Erreichen nur erahnen kann. Insofern erinnert seine Konstruktion durchaus an sinfonische Musik. Im Schreibstil wirkt sich Arianes fehlende Emotionalität aus. Die junge Frau ist stets bemüht, nichts von ihrem Innenleben preiszugeben. Dadurch beschreibt sie ihre Erinnerungen, bewertet sie aus der Distanz heraus. Das Erzählte wirkt aber dennoch nach. Allein aus der sachlichen Beschreibung der Ereignisse erkennt der Leser deren Tragweite und Bedeutung, die mitunter sprachlos machen. Die Charaktere kann man sich nach und nach durch ihr Tun erschließen, teilweise ergeben sich auch Aufschlüsse durch deren aufreibende Vergangenheit. Im Zuge des Romans erfasst man immer mehr Zusammenhänge dieser toxischen Familie, die einen in ihren Bann ziehen. Obwohl hier aus der Distanz und kein bisschen sentimental erzählt wird, fühlt man intensiv mit dem Protagonisten mit.  

    Ragougneau kommt aus der Spannungsliteratur. Das merkt man diesem Roman an, der von Beginn an Fahrt aufnimmt, kontinuierlich an Schwung gewinnt, um erst ganz am Ende wieder zur Ruhe zu kommen. Zu gut beherrscht der Autor sein Metier. Sprachlich hat mich der Text extrem beeindruckt, die Übersetzung aus dem Französischen von Brigitte Große möchte ich als genial bezeichnen; man spürt sie an keiner Stelle.

    Den Roman konzeptionell an die Satzfolge des titelgebenden Opus anzulehnen und jeweils noch ein passendes Zitat von Kafka, Canetti, Bernhard und von Kleist voranzustellen, wirkt organisch und macht ihn besonders. Für mich ist „Opus 77“ ein glanzvolles Highlight dieses Jahres und für Musikfreunde fast ein Muss, da man sehr viel über Licht und Schatten der professionellen Musikwelt erfährt. Hervorzuheben ist zudem die ausdrucksvolle Einbandgestaltung des Hardcovers in Rot-Schwarz, der etwas Teuflisches anhaftet.

    Riesige Lese-Empfehlung!

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