Oben Erde, unten Himmel

Buchseite und Rezensionen zu 'Oben Erde, unten Himmel' von  Milena Michiko Flašar
4.9
4.9 von 5 (12 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Oben Erde, unten Himmel"

»Alleinstehend. Mit Hamster«, so beschreibt sie sich selbst. Suzu lebt in einer japanischen Großstadt. Unscheinbar. Durchscheinend fast. Der neue Job aber verändert alles. Ein umwerfender Roman über Nachsicht, Umsicht und gegenseitige Achtung: Herr Ono ist unbemerkt verstorben. Allein. Es gibt viele wie ihn, immer mehr. Erst wenn es wärmer wird, rufen die Nachbarn die Polizei. Und dann Herrn Sakai mit dem Putztrupp, zu dem Suzu nun gehört. Sie sind spezialisiert auf solche Kodokushi-Fälle. »Fräulein Suzu«, wie der Chef sie nennt, fügt sich widerstrebend in die neuen Aufgaben. Es braucht dafür viel Geduld, Ehrfurcht und Sorgfalt, außerdem einen robusten Magen. Die Städte wachsen, zugleich entfernt man sich voneinander, und häufig verschwimmt die Grenze zwischen Desinteresse und Diskretion. Suzu lernt schnell. Und sie lernt schnell Menschen kennen. Tote wie Lebendige, mit ganz unterschiedlichen Daseinswegen. Sie sieht Fassaden bröckeln und ihre eigene porös werden. Und obwohl ihr Goldhamster sich neuerdings vor ihr versteckt, ist sie mit einem Mal viel weniger allein. Milena Michiko Flašar hat eine frische, oft heitere Sprache für ein großes Thema unserer Zeit gefunden. Und sie hat liebenswert verschusselte Figuren erschaffen, die man gern begleitet. Ein unvergesslicher, hellwacher Roman über die ›letzten Dinge‹.

Format:Gebundene Ausgabe
Seiten:192
EAN:9783803133533

Rezensionen zu "Oben Erde, unten Himmel"

  1. Der Punkt an dem der Himmel auf die Erde trifft

    Suzu, Anfang zwanzig, ist bei ihren Eltern auf dem Land aus- und in eine kleine Wohnung in der Stadt eingezogen. Dort lebt sie alleine. Obwohl sie jeden Tag in die Arbeit geht, dort auf Leute trifft und sich sogar eine Zeitlang unverbindlich mit einem jungen Mann trifft, ist sie doch die meiste Zeit allein. Sie hat es nicht so mit Menschen. Auch den Kontakt mit ihren Eltern hält sie mehr schlecht als recht aufrecht.
    Eines Tages muss sich Suzu allerdings auf die Suche nach einer neuen Arbeitsstelle machen. Ihr gelingt es zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen zu werden, auch wenn sie nicht genau weiß welche Tätigkeiten dort genau anfallen werden. Gemeinsam mit einem jungen Mann Takada, steht die junge Frau vor ihrem zukünftigen Chef Sakai.
    Herr Sakai betreibt eine Reinigungsfirma, die sich auf Kodokushis spezialisiert hat. Ein Kodokushi bezeichnet den Tod eines Menschen, der in sozialer Isolation lebte und dessen Tod daher zunächst unbemerkt bleibt.
    Sakai und seine Leute kommen dann in solch einem Fall zum Einsatz. Sie reinigen die Wohnung des verstorbenen Menschen, räumen sie leer und übergeben die kostbaren Hinterlassenschaften den Verwandten.
    Und obwohl diese Tätigkeit mit einigen herausfordernden Gerüchen und undefinierbaren Körperflüssigkeiten einhergeht und der Tod täglich allgegenwärtig ist, findet Suzu sowohl durch ihre Arbeit, als auch durch ihre neuen Kollegen zurück ins Leben.

    Milena Michiko Flasar präsentiert uns mit ihrem, inzwischen dritten, Roman eine berührende Geschichte.
    Durch Suzu erfahren wir zu Beginn der Handlung viel über die stetig zunehmende Vereinsamung von Menschen in Großstädten bzw. in der Gesellschaft generell. Die Technisierung schreitet weiter voran, es ist nicht mehr erforderlich sich persönlich miteinander auseinanderzusetzen. Selbst um ein Date zu vereinbaren, braucht es lediglich einen Computer sowie eine Datingplattform. Das Interesse an den Mitmenschen nimmt merklich ab.
    Diese anfänglich beschriebene, unterkühlte, anonyme Stimmung in der Gesellschaft spiegelt sich auch in Suzus Verhalten bzw. in ihren Einstellungen wieder. Sie verhält sich anderen gegenüber ablehnend, zieht sich immer weiter von ihrer Umgebung zurück. Erst die Auseinandersetzung mit dem Tod und die Arbeiten mit ihren neuen Kollegen, allen voran natürlich Sakai, verdeutlichen ihr, dass das „Leben keine Generalprobe ist. Man kann es nur einmal leben.“ Eine Wiederholung gibt es nicht.
    Besonders gut hat mir gefallen die Protagonisten auf ihrer persönlichen Entwicklung durch die Geschichte zu begleiten. Sie dabei zu begleiten, wie sich ihre Sichtweise aber auch ihre Handlungen im Laufe der Zeit verändern.
    Obwohl ich die entscheidende Wendung kurz befürchtet habe, hat sie mich letztendlich dennoch unerwartet getroffen und auch sehr mitgenommen. Überhaupt hat mich schon lange kein Roman mehr so angerührt wie „Oben Erde, unten Himmel“.

    Fazit:
    Meine Rezension endet daher mit einem Zitat aus dem Buch:
    „Wenn der Himmel unten wäre und die Erde oben, dann würden wir auf Wolken gehen.“

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  1. Absolute Leseempfehlung!

    !ein Lesehighlight 2023!

    Klappentext:

    „Herr Ono ist unbemerkt verstorben. Allein. Es gibt viele wie ihn, immer mehr. Erst wenn es wärmer wird, rufen die Nachbarn die Polizei. Und dann Herrn Sakai mit dem Putztrupp, zu dem Suzu nun gehört. Sie sind spezialisiert auf solche Kodokushi-Fälle. »Fräulein Suzu«, wie der Chef sie nennt, fügt sich widerstrebend in die neuen Aufgaben. Es braucht dafür viel Geduld, Ehrfurcht und Sorgfalt, außerdem einen robusten Magen. Die Städte wachsen, zugleich entfernt man sich voneinander, und häufig verschwimmt die Grenze zwischen Desinteresse und Diskretion.

    Suzu lernt schnell. Und sie lernt schnell Menschen kennen. Tote wie Lebendige, mit ganz unterschiedlichen Daseinswegen. Sie sieht Fassaden bröckeln und ihre eigene porös werden. Und obwohl ihr Goldhamster sich neuerdings vor ihr versteckt, ist sie mit einem Mal viel weniger allein.

    Milena Michiko Flašar hat eine frische, oft heitere Sprache für ein großes Thema unserer Zeit gefunden. Und sie hat liebenswert verschusselte Figuren erschaffen, die man gern begleitet. Ein unvergesslicher, hellwacher Roman über die ›letzten Dinge‹.“

    Autorin Milena Michiko Flašar hat den Roman „Oben Erde, unten Himmel verfasst“. Wir lernen ihre Hauptprotagonistin Suzu von Beginn an ehrlich und ohne Umschweife kennen (inklusive Hamster). Fest steht, sie ist eine junge verkappte Existenz, die auf der Suche nach ihrer Berufung, im wahrsten Sinne des Wortes, ist. Durch so einige Umstände kommt sie schlussendlich an Herrn Sakai. Herr Sakai ist nicht der Chef eines gewöhnlichen Putztrupps, sondern eine Art Tatortreiniger. Flašar gelingt es aber mit feinen, direkten Worten diese Arbeit nicht gekünstelt auszuschmücken, sie beschreibt einen ganz normalen Beruf den es eben nunmal auch geben muss und Menschen dazu, die die Kraft haben, Tote und deren Überbleibsel sowie alle Hinterlassenschaften wie eben Hausstand etc. zu verwalten. Sicher ist diese Arbeit nicht für jeden geeignet und rund um Suzu wird es spannend zu beobachten wie sie damit umgeht und fertig wird. Flašar führt uns mit ihr über eben leere Wohnungen und Tatorte aber wir gehen nicht allein voller Angst oder trüber Gedanken dadurch, sondern werden von Suzus Chef, Herrn Sakai, bestens angeleitet. Ich mochte ihn vom ersten Erscheinen im Buch, denn seine Art einerseits mit Toten und eben den Hinterlassenschaften umzugehen, war nunmal mehr als würdevoll. Er spricht mit den Toten in den Wohnungen und erklärt ihnen was er nun mit seinem Team machen wird. Er spricht mit ihnen als wären sie noch da…Milena Michio Flašar zeigt somit einerseits den Respekt vor dem Tot an sich auf, aber auch wie andere Kulturen damit umgehen, was es eben auch gibt, was möglich ist und führt den Leser somit an ein Thema, welches gern unter den Teppich gekehrt wird (Herr Sakai und sein Team schauen aber auch nach dem Ableben da drunter! - die Augen also davor verschließen, ist vollkommen zwecklos!). Die Zwecklosigkeit die Flašar hier aufzeigt fand ich mehr als gekonnt und stimmig in dieser Geschichte eingesetzt. Die komplette Geschichte hat mehrere Hauptpunkte: der Tot ist eine unumgängliche Sache - wir müssen uns mit ihm, mit dem eigenen Tot beschäftigen!; man wächst mit seinen Aufgaben wenn man sich ihnen stellt (eben Suzu!); wenn man vermeintlich unumgängliche Themen aber anspricht, wird man lockerer, weiser und vor allem zugänglicher zu ihnen und genau darum geht es in diesem Buch. Suzu lernt dazu und vor allem wächst ihre Seele nicht nur durch die Arbeit, auch ihr Selbstvertrauen wächst und steigert sich. Sie nimmt sich Herausforderungen an und stellt sich ihnen und das zeigt, wie gut das einem tun kann wenn man es nur zulässt. Sie merken schon, die Geschichte der Autorin hatte (das tut sie auch nach beenden des Buches immer noch!) mich komplett gefesselt und eingenommen. Der Schreibstil der Autorin und auch ihr Ausdruck hatten immer Stil und waren stets stimmig. Ich hatte ausnahmslos ein stetiges Lesevergnügen mit philosophischen und eben auch menschlichen Sichtweisen die real und von großer Wichtigkeit waren/sind. 5 Sterne für dieses Buch!

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  1. 5
    22. Mär 2023 

    Kodokushi...

    Im Japanischen gibt es für den einsamen Tod ein eigenes Wort: Kodokushi. Menschen, die unbemerkt versterben und erst nach Wochen oder Monaten tot aufgefunden weden, gibt es bekanntermaßen auch hierzulande - ein Phänomen, das auf die wachsende Vereinsamung der Gesellschaft hinweist. Doch in Japan scheint Kodokushi noch viel weiter verbreitet zu sein - Einsamkeit inmitten wachsender Städte, ein einsamer Tod nach einem einsamen Leben...

    Milena Michiko Flašar stellt die 25jährige Suzu als Ich-Erzählerin in den Mittelpunkt des Romans. Nach gescheitertem Studium jobt sie als Kellnerin, doch verliert sie dort bald wieder ihre Stelle. Arbeitslos, alleinstehend, mit Hamster - so das nüchterne Fazit ihres bisherigen Daseins. Die Annonce von Herrn Sakai stellt schließlich einen Wendepunkt in ihrem Leben dar. Suzu bewirbt sich auf die Stelle und geht von einem geläufigen Reinigungsunternehmen aus. Doch Herr Sakai führt einen Putztrupp der besonderen Art. Gereinigt werden Wohnungen von Kodokushi-Fällen... Als Leichenfundortreiniger werden von Suzu plötzlich ganz andere Qualitäten gefragt...

    Liebenswert verschusselte Figuren bevölkern diesen Roman. Suzu ist eine davon, daneben ihr junger Kollege Takada, der zeitgleich mit ihr bei Herrn Sakai zu arbeiten beginnt, Mrs. Langfinger, auf die Suzu nun regelmäßig nach ihrer Arbeit stößt und die ihre ganz eigene Geschichte hat, u.v.m. Der Schreibstil ist lakonisch-spröde und passt dadurch sehr gut zur Charakterzeichnung Suzus. Durchsetzt ist die Erzählung mit einem leisen Humor, der den oftmals ernsten Themen auf angenehme Weise die Schwere nimmt.

    Tatsächlich zieht sich das Thema Einsamkeit in den verschiedenstene Facetten durch den Roman. Viele in Suzus Umfeld (einschließlich Suzu selbst) leben isoliert, selbst das alte Ehepaar, das neben Suzu wohnt, ist in einer gemeinsamen Einsamkeit gefangen. Herr Sakai mit seiner Reinigungsfirma und seiner besonderen Gabe, den einsam Verstorbenen ihre Würde wiederzugeben, stellt sich auch für die Lebenden als Glücksgriff heraus. Für Suzu ist er ein väterlicher Mentor, der ihr immer wieder Anstöße gibt, die sie letztlich aus ihrer verkrusteten Einsamkeit herauslocken.

    Mich hat der Roman überzeugen, berühren, verblüffen können. Gerade die vielschichtigen Deutungsebenen und damit die Tiefe bei vermeintlich leichter Oberfläche des Geschriebenen: genial! Eine gelungene Mischung von ernsten Themen, Gesellschaftskritik, leisem Humor, Einsamkeit in vielen Facetten und letztendlich doch der Weg zum Du - und all dies ohne Kitsch, Trivialität oder Klamauk. Ergänzt durch immer wieder eingestreute lebenskluge Sätze. Und ganz nebenher lernt man hier auch etwas über japanische Lebensarten, Gebräuche und Denkweisen, was mir ebenfalls gut gefallen hat.

    So viele Sorten von Einsamkeit - und doch kein trostloser Roman. Für mich definitiv ein Jahreshighlight!

    © Parden

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  1. Kritik und Infragestellung vorherrschender Denkmuster

    Das wunderschöne Cover des Buches wie auch die Tatsache, dass die Autorin neben ihren österreichischen auch japanische Wurzeln hat, waren für mich ein Anreiz , den Roman lesen zu wollen. Sehr gerne begebe ich mich auch literarisch auf die Reise in unterschiedliche kulturelle Regionen, um mehr über deren Eigenheiten, Besonderheiten und Traditionen zu lernen.

    Dabei ist die Thematik dieses Romans, genauer betrachtet, gar nicht spezifisch japanisch, obwohl die Geschichte in Japan spielt. Doch worum geht es? Im Mittelpunkt der Geschichte steht die 25jährige Suzu. Einst kam sie des Studiums wegen in die Großstadt. Nun lebt sie mit ihrem Hamster Punsuke in einer kleinen Wohnung. Sie arbeitet als Aushilfskellnerin und kann mit ihrem Gehalt gerade mal genug verdienen, um die anfallenden Kosten zu decken. Sie hat zudem wenig gesellschaftliche Kontakte und versucht hier und da, mithilfe von Onlineplattformen einen Partner zu finden. Zuletzt wurde sie geghosted. Ihr Leben würde man eher in tristen Farben zeichnen. Sie ist kurz davor, (sich) aufzugeben. Was wäre, wenn sie ihren Job nicht hätte? Mit dem Angesparten könnte sie ihre Monatsmiete für maximal zwei Monate bestreiten, jedoch müssten sie und ihr Hamster hungern und dursten. Irgendwann würde man vielleicht in der Zeitung auf eine Mledung stoßen, dass sie und ihr Hamster als Gerippe tot aufgefunden worden seien. So ist es in der Gesellschaft, wenn man ein einsames und isoliertes Dasein führt. Nicht mal bemerkt wird das eigene Ableben. In Japan bezeichnet man das einsame, der Sichtbarkeit entzogene Sterben einsam und zurückgezogen lebender Menschen als "kokodushu". Dieses Phänomen spielt im Roman eine sehr große Rolle.

    Es ist im Grunde eine recht düstere Thematik, über die die Autorin jedoch sehr leichtfüßig, mitunter auch heiter erzählt. Als Suzus Chef ihr kündigt, will es der Zufall, dass Suzuku eine Tätigkeit als Tatort-Reinigerin annimmt. Gemeinsam mit Sakais Leichenfundort-Reinigungsteam nimmt Suzuku sich der heruntergekommenen Wohnungen von im Leben vergessenen und einsam gestorbenen Menschen an. Es handelt sich um eine Tätigkeit, die ihr alles abverlangt: physisch wie auch psychisch. Denn es braucht nicht nur einen stabilen, unempfindlichen Magen, sondern auch viel Fingerspitzengefühl, um das letzte Residium dieser Verstorbenen mit dem gebührenden Respekt und erforderlicher Anerkennung zu reinigen. Spezielle Rituale helfen, die unter Umständen verlorene Ehre der Verblichenen zu reparieren. Suzu tut, weas getan werden muss.

    Ironischerweise ist es genau diese Tätigkeit, die ihr wieder neues Leben einhaucht. Sie entdeckt den Wert von Mitgefühl und Empathie völlig neu, öffnet sich ihren Kolleginnen, mit denen sie in Austausch tritt. Und Gelegenheiten hierzu gibt es zuhauf, da Sakai auch viel Wert auf eine Art psychische Hygiene legt, die nach Feierabend gepflegt werden muss, um bei dieser anspruchsvollen Tätigkeit nicht aus dem Gleichgewicht zu geraten. Es ist letztlich also der Tod, dem Suzu ihr (neues) Leben verdankt. Insofern würde ich sagen, dass ein zentrales Motiv des Romans die Durchqueerung von vorherrschenden Dualismen ist: ""Oben Erde, unten Himmel", "Leben oder Tot", "Einsamkeit oder Geselligkeit" - man könnte weitere unzählige Beispiele nennen, die unsere Art zu Denken auf Dualismen reduzieren. Doch zeigt Flasar auf eindrucksvolle Weise in ihrem Roman, wie sich die beiden dualen Pole einer Gegenüberstellung letztlich widersetzen, wie sie quasi beginnren, in den Zwischenräumen zu tanzen. In diesem Kontext, denke ich, ist auch der Titel des Werks zu interpretieren. Er wird an verschiedenen Stellen der Geschichte aufgegriffen und in verschiedenen Facetten durchgespielt.

    Diese Durchkreuzung von Dualismen wie Leben und Tod, Himmel und Erde ist für mich auch der Grund, warum die Geschichte letztlich überall spielen könnte. Mit der Kritik an gesellschaftlicher Vereinzelung und einem Mangel an Respekt und Achtsamkeit gegenüber vereinzelten und isolierten Menschen, wird eine Problematik angesprochen, die nicht typisch für die japanische Gesellschaft an sich ist, sondern sich universall stellt. Ich musste während der Lektüre gerade zu Beginn immer an die Arbeit zur "Müdigkeitsgesellschaft" des koreanischen Philosophen Han denken. Er arbeitet dezidiert heraus, wie gerade ein Übermaß an Positivität, die FIktion, dass durch Arbeit alles erreicht werden kann, zur Selbstausbeutung führt und neuronale Erkrankungen wie Depression, Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom, Borderline, Burnout bis hin zum Selbstmord begünstigt. Letztendlich scheitert man an der Unendlichkeit der Möglichkeiten, kollabiert aufgrund des Übermaßes an Leistungsstreben, dem man sich so lange aussetzt, bis man irgendwann nicht mehr kann. Die Hauptprotagonistin Suzu erschien mir über eine Strecke des Romans als eine Person, die möglicherweise in diesem Sinne übermüdet und dadurch motivsationslos geworden ist, sich vom Leben zurückgezogen hat. Anders jedoch als in der düsteren Prognose Hans, erleidet sie keine dieser neuronalen Erkrankungen oder nimmt sich das Leben. Vielmehr ist es die Auseinandersetzung mit dem Ableben vereinsamter und vergessener Menschen, die ihr neues Leben einhaucht - sie vielleicht also gerade durch diese Konfrontation mit dem Tod wachgerüttelt und somit "gerettet" wird.

    Ich habe dieses Buch begeistert gelesen. Es ist nicht mal die Sprache, die irgendwie besonders poetisch und eindrücklich ist. Vielmehr ist es die Meisterschaft der Autorin in einer unaufgeregten, leichtfüßig daherkommenden Sprache diese komplexe Thematik aufzugreifen und schier en passant zahlreiche Lebensweisheiten einzuflechten. Außerdem wurden sämtliche Charaktere sehr empathisch und facettenreich gezeichnet. Kurzum, Flasar hat mir in diesem Jahr ein erstes Lesehighlight beschwert - eines, dass ich unbedingt zur Lektüre weiterempfehle und dass mir lange im Gedächtnis bleiben wird. Konsequenterweise vergebe ich für diese literarische Perle 5 Sterne - denn mehr stehen mir nicht zur Verfügung.

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  1. 5
    21. Mär 2023 

    Ausweg aus einer Lebenskrise

    Die Autorin wendet sich in ihrem neuen Buch wieder dem Thema der Einsamkeit zu, dieses Mal dem sog. Kodokushi, dem „einsamen Tod“. Mit diesem Begriff bezeichnen die Japaner das unbemerkte Sterben eines Menschen, der erst Tage, Wochen, Monate nach seinem Tod aufgefunden wird.

    Suzu, die junge Protagonistin, befindet sich in einer Lebenskrise: ihr Studium hat sie aufgegeben, ihr Job als Aushilfskellnerin wurde ihn gekündigt, und weil sie Geld für sich und ihren Hamster braucht, landet sie eher zufällig in einer Reinigungstruppe, die die Wohnungen solcher Kodokushi-Fälle säubert.

    Wie die Autorin mit diesem düsteren Thema umgeht und wie sie es verknüpft mit dem Ausweg ihrer Heldin aus einer Lebenskrise – das hat mich begeistert!

    Wieder ein Buch der leisen Töne und der Zwischentöne.

    Das Thema ist wie in Flasars vorhergehenden Büchern auch wieder ein gesellschaftliches Thema, aber es wird heruntergebrochen auf die Entwicklung einer jungen Frau, die sich diesem Thema persönlich stellt und ihren Blick auf die Welt und ihre Mitmenschen ändert. Sie bewegt sich in kleinen Schritten, die in kleinen Schlaglichtern, einem kurzen Nebensatz aufleuchten, und es bleibt dem Leser überlassen, von diesen äußeren Handlungen auf das Innere der Heldin zu schließen. "Show not tell" in Reinkultur! Hier gelingen der Autorin eindringliche Bilder von großer Dichte und Aussagekraft, die gerade durch die zurückhaltende Erzählweise ein hohes Maß an Emotionalisierung bewirken. Und die lange im Gedächtnis bleiben.

    Die Sprache passt sich der noch jungen Protagonistin an, sie ist eher berichtend, frei von jeder Dramatik, unaufdringlich und zugleich leichtfüßig. Die Ich-Erzählerin verschont ihren Leser zwar nicht mit den eher grausigen Details ihrer Arbeit, aber es bleiben Details, die weiter nicht ausgewalzt werden. Alle Berichte von ihrer Arbeit lassen den tiefen Respekt spüren, den ihr Arbeitgeber von ihr und ihren Kollegen einfordert.

    Der ganze Roman vermittelte mir das Gefühl des leichten Lesens, aber immer wieder blättert man zurück und liest manche poetisch-schönen Stellen nochmals. Die Leichtfüßigkeit des Erzählens sollte nicht unterschätzt werden: der Roman ist kunstvoll konzipiert mit einer aussagestarken Rahmenkonstruktion, die sich besonders sinnfällig im 1. und letzten Satz zeigen.

    Eine entscheidende Rolle bei der Entwicklung der Ich-Erzählerin kommt Herrn Sakai zu, dem väterlichen Mentor: ein Mann, der zwar vom einsamen Tod lebt, aber alles dafür tut, um der Vereinsamung der Menschen in seinem Umfeld entgegenzuwirken.

    Und genau das tut die Heldin auch: sie wendet sich den Menschen in ihrem räumlichen und emotionalen Umkreis zu.

    Und das gilt nicht nur für Japan, denke ich.

    Fazit: ein gedankenreiches Buch, lesenswert!

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  1. Respekt für die Toten

    Suzu, süße 25 Jahre, lebt in einer Stadt in Japan. Ihr Leben wirkt trist, neben ihrem Job als Bedienung passiert nicht allzu viel. Das einzige Highlight ist ihr Hamster, den sie zwar eifrig umsorgt, doch der kleine Kerl lässt sich selten blicken.
    Eine Datingsache endete in einer derben Enttäuschung, da der Mann mit dem Suzu sich traf gar nicht ernsthaft etwas von ihr wollte, er gab ihr aber das Gefühl das es anders ist. Als er sie dann plötzlich fallen ließ, war sie sehr enttäuscht.
    Zu allem Überfluss verlor sie dann auch noch ihre Anstellung und versank kurzfristig in einem Loch. Die Eltern wollte sie nicht um Geld bitten, das abgebrochene Studium hatte sie schon überstrapaziert.
    Als sich dann Herr Sakai auf eine ihrer Bewerbungen meldete, war sie guter Dinge.

    Das ist der Scheidepunkt in Suzus Leben, denn durch die Anstellung bei Herrn Sakai, die sie gemeinsam mit einem jungen Mann namens Takada, antritt, verändert sich eine ganze Menge. Die Tätigkeit verlangt den beiden jungen Menschen enorm etwas ab, denn sie sind nun Leichenfundortreiniger. Das dies nicht immer appetitlich ist, kann man sich denken, doch die zwei wachsen mit ihren Aufgaben.
    Schnell sind sie aufgenommen in der kleinen Truppe. Und alle miteinander profitieren von Herrn Sakais Art!

    Das oben beschriebene ist das Grundgerüst der Handlung, die mir zu Beginn ein wenig skurill vorkam. Doch nach und nach wurde mir bewusst, dass diese Tätigkeit den Verstorbenen, es sind meist Menschen die allein sind, niemand vermisst sie, deshalb bleibt ihr Tod so lange unbemerkt, ihre Würde wiedergibt. Die gesamte Truppe zollt diesen Menschen Respekt, eine schöne Vorstellung!

    Des Weiteren steht natürlich Suzu im Fokus, die mit ihren alten Nachbarn zu Beginn keinen Kontakt pflegt. Sie wundert sich zwar, dass sie teilweise tagelang keine Geräusche aus der Nachbarwohnung vernimmt, doch den Antrieb mal nachzuhaken hat sie nicht. Generell kann man sagen, dass sie über sich hinaus wächst, durch das Gefühl gebraucht zu werden, einen guten Job zu machen, auf den richtigen Weg gebracht durch die Anregungen von Herrn Sakai.

    Der Roman hat unheimlich Spaß gemacht, auch die Gebräuche des Landes finden Einzug, ein toller Einblick in dieses Land, dass in vielem so anders ist, als das was wir kennen.

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  1. 5
    22. Feb 2023 

    Über das Leben und den Tod

    Würde ich Buchrezensionen ganz „old school“ zu Papier bringen und nicht am PC, lägen jetzt um mich herum haufenweise zerknüllte Papierfetzen. Denn selten ist es mir so schwergefallen, den Anfang einer Buchrezension zu formulieren, wie dieses Mal. Der Roman, der mich gerade beschäftigt, ist "Oben Erde, unten Himmel" von Milena Michiko Flašar, einer österreichischen Autorin mit japanischen Familienbanden.
    Meine Schwierigkeiten liegen an dem Facettenreichtum und der Tiefgründigkeit dieses Romans, so dass ich mich kaum in der Lage sehe, seiner außergewöhnlichen Qualität gerecht zu werden.
    Darum geht es in „Oben Erde, unten Himmel“:
    In der Anonymität einer japanischen Großstadt lebt die 25-jährige Suzu ein Leben in Einsamkeit. Ihre Kontakte zu anderen Menschen beschränken sich auf ihre Arbeit als Bedienung in einem Schnellrestaurant sowie gelegentliche Dates mit Männern, die sie über ein Dating Portal "kennenlernt". Zu Hause wartet nur ein Hamster auf sie. Nachdem sie ihren Job verloren hat, begibt sie sich auf Arbeitssuche. Sie ist dabei nicht wählerisch, so lange sie genügend Geld verdient, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Schließlich fängt sie als Reinigungskraft in der Putzkolonne eines Herrn Sakai an. Seine Firma hat sich auf die Reinigung von Wohnungen spezialisiert, in denen Menschen einsam und zunächst verstorben sind.
    Menschen, die allein gelebt haben, sterben meistens auch allein, so dass oft viel Zeit vergeht, bis ihr Tod bemerkt wird. Wie man den „Worterklärungen“ zu japanischen Begriffen, die in diesem Roman verwendet werden, entnehmen kann, gibt es sogar eine japanische Bezeichnung für diese Verstorbenen: Kodokusha“ = „einsam Verstorbener, so werden Menschen bezeichnet, die alleine in ihrer Wohnung versterben und deren Leichen lange Zeit unentdeckt bleiben“
    Es bedarf scheinbar Firmen wie der des Herrn Sakai, um die Wohnungen eines Verstorbenen wieder in einen bewohnbaren Zustand zu versetzen. Suzu tritt also die Stelle an, und ihre Arbeit bei Herrn Sakai erweist sich nach anfänglicher Skepsis als Glücksgriff.
    Denn ihr Chef ist ein Menschenfreund, dem das Wohl anderer am Herzen liegt. Durch ihn lernt Suzu viel über das Leben, genauso wie über den Tod.

    „Oben Erde, unten Himmel" ist ein Wohlfühlbuch. Trotzdem es anfangs als ein Buch, das die Einsamkeit thematisiert, erscheint und das Thema „Sterben und der Tod“ die Handlung permanent begleitet, ist es doch ein lebensfrohes Buch, was nicht zuletzt an seinen wundervollen Charakteren liegt: eine zurückhaltende und introvertierte Suzu, die trotz aller Tiefschläge des Alltags ihren Humor nicht verliert und sich im Verlauf der Geschichte immer mehr öffnet und andere Menschen an sich heranlässt, genauso wie sie sich immer mehr für andere Menschen interessiert und sich um sie kümmert. Diese Entwicklung hat sie der Fürsorge des Herrn Sakai zu verdanken, der sich als ein Mensch voller Lebensweisheit und Empathie erweist.
    Einen weiteren Wohlfühlfaktor stellt der Sprachstil in diesem Buch dar. Denn die Erzählweise ist eine interessante Mischung aus Federleichtigkeit, Esprit und Tiefsinn. Man huscht durch den Text, empfindet Spaß, aber auch Unbehagen bei manch eigenartiger Situation in Verbindung mit der Tätigkeit eines Leichenfundortreinigers und bleibt plötzlich an Sätzen hängen, die einen durch ihre Symbolik verzaubern und den Leser bis ins Mark treffen.

    Fazit
    „Oben Erde, unten Himmel“ erzählt eine eigenwillige, manchmal auch skurrile Wohlfühlgeschichte voller Weisheit und Lebensfreude. Dieser Roman wird mir noch lange im Gedächtnis bleiben. Da bin ich sicher!

    ©Renie

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  1. Die "letzten Dinge" - und ihre Einsamkeit

    "Wie viele Formen von Einsamkeit es gibt. (...) Es gibt wohl so viele, wie es Menschen gibt. - Menschen und Dinge ..." (S.211)

    Bei der Ich-Erzählerin dieses Romans, der jungen Japanerin Suzu, sind auch die Dinge allein."Ich war gern allein", mit dieser Feststellung beginnt sie. Und fügt gleich an, dass sich das zwar eigentlich nicht geändert hat; aber inzwischen ist ihr jedenfalls klar geworden, dass sie nicht immer allein sein kann. Sie hat gelernt, die Gesellschaft anderer anzuerkennen und anzunehmen. Von dieser Veränderung handelt der Roman "Oben Erde, unten Himmel".

    Suzu ist ein "Freeter", eine junge Frau, die sich mit Anlernjobs über Wasser hält. Sie kellnert, aber die Betriebsamkeit in der Gastronomie ist für sie nicht das Richtige. Schließlich landet sie in einer ungewöhnlichen Branche. Der freundliche und geduldige Herr Sakai betreibt ein Reinigungsunternehmen für Leichenfundorte. Es geht dabei nicht um Bestattung: Herr Sakai und seine Angestellten treten auf den Plan, nachdem der Leichnam das Haus verlassen hat, aber aus Gründen der Hygiene noch geputzt und für Ordnung gesorgt werden muss, sprich: wenn der Leichnam schon einige Tage oder Wochen unbemerkt gelegen hat. "Kodokushi" nennt man in Japan das Phänomen, den einsamen Tod. Er betrifft Menschen, deren Abwesenheit zumindest eine Weile nicht auffällt.

    Man braucht einen starken Magen und eine robuste Psyche für diese Arbeit. Doch Suzu lernt schnell, wie es im Klappentext heißt. Und dank ihrer ruhigen und zugewandten Beobachtungsgabe lernt sie vor allem, wie jeder Mensch, auch die vereinsamt Gestorbenen, Bestandteil eines Netzwerks ist und Beachtung verdient. Am Ende des Buches ist sie immer noch gern allein, weil das einfach ihre Art ist. Doch ihr Blick auf die Welt, ihre Mitmenschen, auch auf ihre schrulligen Kollegen ist intensiver und wacher geworden.

    "Oben Erde, unten Himmel" könnte eines unter vielen "Lies es und du fühlst dich besser"-Büchern sein, das mit platten Weisheiten aufwartet. Aber unsere Autorin macht es anders und viel eindrucksvoller. Anhand ihrer teilnehmenden jungen Erzählerin führt sie vor, wie wir die Sinne schärfen für sprechende Kleinigkeiten: die Bilder in den Wohnungen anderer Menschen, die Bücher in den Regalen, die Requisiten des Alltags, die liegengelassenen Dinge. "Eine der augenfälligsten Überschneidungen war die Einsamkeit dieser Gegenstände" bemerkt Suzu über die profanen Sachen, mit denen die Verstorbenen zuletzt umgingen, sei es das Essbesteck,die teure Handtasche oder auch die Klopapierrolle. Durch den geschärften Blick Suzus hat jede Kleinigkeit das Potential, zum Sinnbild zu werden: die Musik, die eine Verstorbene zuletzt gehört hat, der Geschmack von Erdbeeren ("zumindest etwas, wofür es ich lohnte, am Leben zu sein"), der Regen, der im Fallen Himmel und Erde verbindet. Man kann diese Erzählweise, die Schlichtheit mit unaufdringlichem Tiefsinn zwanglos vereint, gar nicht genug hervorheben. Milena Michiko Flašar gelingt es meisterhaft, unterhaltsam und mit feinem Humor zu erzählen und dabei gleichzeitig ernsthafte Gedanken über die letzten Dinge anzusprechen.

    "Oben Erde, unten Himmel" spielt im urbanen Milieu in Japan. Die Autorin, die in Wien lebt und in deutscher Sprache schreibt, kennt als Halb-Japanerin das Umfeld sehr gut. Für uns europäische Leser steht die japanische Großstadt geradezu symbolisch für die Vereinsamung in der Masse, besonders krass zu sehen in einem "Manga-Kissa", einem Internetcafé mit Übernachtungszellen, in dem Suzus Kollege wohnt. Das fremde Milieu täuscht aber nicht darüber hinweg, dass Einsamkeit und der Umgang mit dem Tod universelle Themen sind. Dringende Leseempfehlung für dieses Buch, das unaufdringlich und leise, aber nachhaltig zum Denken und zu wachem Blick in die Welt anregt! Fünf Sterne reichen nicht für diesen außergewöhnlichen Lesegenuss, aber mehr habe ich leider nicht zur Verfügung.

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  1. Kennen Sie Ihre Nachbarn?

    Die 25-jährige Ich-Erzählerin Suzu ist eine Einzelgängerin. Sie braucht keine Gesellschaft, lebt allein mit ihrem Hamster Punsuke in einer kleinen Wohnung in einer japanischen Großstadt. Sie hat gerade eine gescheiterte Beziehung hinter sich. Nach abgebrochenem Studium schlägt sie sich mit Gelegenheitsjobs durch, momentan arbeitet sie als Kellnerin in einem Familienrestaurant. Als sie dort gekündigt wird, führt die Stellensuche sie zu Herrn Sakai, der Verstärkung für sein kleines Team sucht. Zusammen mit dem gleichaltrigen Takada wird sie tatsächlich eingestellt. Die Arbeit ist einigermaßen ungewöhnlich: In Japan sterben viele Menschen völlig vereinsamt, so dass ihre Leichen erst Wochen später gefunden werden (Kodokushi). Herr Sakai hat sich mit seiner Firma darauf spezialisiert, diese Leichenfundorte zu reinigen, zu desinfizieren und so herzurichten, dass die Wohnungen wieder bewohnbar werden.

    Suzu stellt sich dieser herausfordernden Arbeit. Zusammen mit Takada wird sie kameradschaftlich in die kleine Arbeitsgruppe aufgenommen, deren Mittelpunkt der menschenfreundliche Herr Sakai ist. Er zollt sogar den Gestorbenen größten Respekt, lädt seine Mitarbeiter nach harten Tagen zum Essen oder zum Picknick am Kirschblütenfest ein. Langsam und allmählich vollzieht sich ein Wandel mit Suzu. Dank ihres Chefs lernt sie, auf andere Menschen zuzugehen, sich auf sie einzulassen, zu kommunizieren und sich ihnen zu öffnen. Das gilt nicht nur für ihre betagten Nachbarn, sondern auch für ihren Kollegen Takada…

    Wer eine Liebesgeschichte an dieser Stelle erwartet, ist komplett auf dem Holzweg, denn dieser Roman ist viel, viel mehr! Man bekommt einen Einblick in die japanische Gesellschaft, in ihre Sitten und Gebräuche, aber auch in deren soziale Schieflagen. Das alles wird uns im Plauderton vermittelt. Man lernt verschiedenste, teilweise skurrile Charaktere kennen, über die Erzählerin Suzu nachdenkt und reflektiert. Sie ist eine sympathische, zurückhaltende Frau, der es aber an Selbstbewusstsein mangelt. Sie berichtet sehr ehrlich von ihrem eigenen Leben, ihrer Vergangenheit und ihren Beziehungen, schildert auch ihre persönlichen Defizite sehr aufrichtig. Dazu benutzt die Autorin wunderbare Sprachbilder, in die man eintauchen kann und über die man nachsinnen muss, weil sie viel Weisheit besitzen: „Mit Beziehungen war es wie mit Weihnachtsbäumen. Es war schön, einen zu haben, andererseits auch egal, wenn man keinen hatte. Problematisch wurde es eher dann, wenn man unbedingt einen haben wollte und keinen bekam.“ (S. 112) Oder: „In jemandes Herz zu schauen, bedeutete, sich in die Tiefe und in die Dunkelheit zu begeben, die in ihm waren.“ (S. 122)

    Flankiert werden Suzus Gedanken von der Lebensklugheit Herrn Sakais, der die Schaltstelle des kleinen Universums ist. Er ist ein Mann, der mit Optimismus voranschreitet, der seinen Mitarbeitern die Augen öffnet über so manches menschliche Schicksal oder über soziale Missstände. Sein empathischer Ansatz ist dabei immer: Was kann der Einzelne tun, um die Welt ein bisschen besser zu machen? Es macht regelrecht Freude, seinen Ausführungen zu lauschen, sein Charisma wirkt ansteckend auf alle, die ihn kennenlernen.

    Die zahlreichen Dialoge sind pointiert und präzise, sie sind mal ernst und mal humorig gehalten. Der ganze Roman pendelt zwischen den Polen. Immer wieder gibt es humorvolle Szenen zum Schmunzeln. Auf der anderen Seite kommt man mit manch traurigem Lebensweg in Berührung, der mitunter im einsamen Tod sein Ende gefunden hat. Dieser Spagat ist bewundernswert gelungen, die Autorin beherrscht die verschiedenen Stimmungslagen, ohne kitschig, sentimental oder lächerlich zu werden. Man wird mit philosophischen Gedanken konfrontiert, die sowohl das alltägliche Leben behandeln wie auch das Altwerden und Sterben. Es geht dabei um Zwischenmenschliches, um die Notwendigkeit, besser hinzuschauen, seine Nachbarn kennenzulernen, miteinander zu sprechen und sich gegenseitig zu helfen. Es geht um gesellschaftliche Vereinsamung, um Respekt, Beziehungen und Familie, um Verantwortung für sich und andere. Der Roman vermittelt seine Inhalte im selbstverständlichen Fluss und auf berührende Weise verpackt in die fesselnde Handlung. Erde und Himmel tauchen als wiederkehrendes Motiv auf, so dass der Buchtitel sehr treffend gewählt ist.

    Ich bin total begeistert von diesem Roman und der Schreibkunst Milena Michiko Flasars, die als Tochter einer japanischen Mutter viel Insiderwissen über deren Heimatland mitbringt. Das Buch liest sich auf den ersten Blick locker-leicht. Doch oft gibt es eben diese zweite Ebene, diese Bedeutung hinter dem Offensichtlichen, die dem Erzählten Tiefe und Wärme verleiht. Die Handlung ist durchgängig fesselnd, die Charaktere sind ebenso facettenreich wie glaubwürdig und die Szenerie wirkt plastisch und bildreich. Ich bin Suzu gebannt über die 290 Seiten dieses Romans gefolgt, der nicht nur haptisch äußerst liebevoll gestaltet wurde, sondern auch über ein informatives Glossar am Ende verfügt.

    „Oben Erde, unten Himmel“ sollte breite Leserschichten ansprechen, auch als Geschenk ist das Buch bestens geeignet. Ich spreche eine riesige Lese-Empfehlung aus!

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  1. Nur ein Jahr! (Einblicke in die japanische Gesellschaft)

    Vorab: seit unser Sohn und seine Frau sich vor über 16 Jahren in Japan fanden, ist mein Interesse am Heimatland unserer Schwiegertochter riesengroß und ich sauge jede Information darüber auf wie ein Schwamm! Dieses vorliegende Buch mit seinen interessanten Einblicken in die japanische Gesellschaft war somit ein weiterer Puzzlestein für mich!

    Es ist völlig logisch und nachvollziehbar, dass in einer Gesellschaft mit vielen Singles (wie in Japan) etliche davon einsam sterben und dann auch wochen- wenn nicht sogar monatelang unentdeckt in der Wohnung liegen bleiben - ‚Kodukusha‘ in Japan genannt! Suzu, unsere – mit Hamster - alleinlebende Protagonistin, ihre Kollegen und ihr Chef, Herr Sakai (meine absolute Lieblings-Figur) nehmen dann ihre Arbeit als Leichenfundortreiniger auf, reinigen die Wohnung gründlich, so dass sie wieder vermietet und bewohnt werden kann.

    Wir lernen aber nicht nur die Geschichten dieses Personenkreises kennen, sondern auch die einiger ihrer ‚Kunden‘, Nachbarn, Eltern, ja sogar eines ‚Ghosters‘, der Suzu nach drei Monaten von heute auf morgen hat fallen lassen ‚wie eine heiße Kartoffel‘.

    Die österreichisch/japanische Autorin beschreibt sehr warmherzig und respektvoll auch heikle Situationen. Ich hoffe, noch viele Bücher von ihr lesen zu können. (Die zwei Vorgänger stehen schon auf meiner Wunschliste!) Die ‚Worterklärungen‘ im Anhang sind außerdem sehr hilfreich für eine Leserschaft, die nicht meinen Bezug zu Japan hat!

    Wer sich für dieses beeindruckende Land zwischen Tradition und Moderne interessiert und sich nicht nur oberflächlich auf die Komplexität des Lebens ihrer Bewohner in diesem Spannungsfeld einlassen will, ist bei diesem Meisterwerk richtig! Diese ausdrucksstarke Sprache mit vielen wunderschönen Sätzen, herrlichen Beschreibungen und philosophischen Momenten macht die literarische Reise außerdem zu einem lohnenden Vergnügen! Ich vergebe deshalb aus voller Überzeugung die Höchstzahl von 5 Sternen!

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  1. Von Menschen und anderen Einsamkeiten

    Milena Michiko Flasar war mir bisher nur dem Namen nach bekannt, obwohl "Ich nannte ihn Krawatte" seit einiger Zeit auf meinem Tsunny liegt. Nun, da wird er sich wohl nicht mehr lange aufhalten, denn der neue Roman "Oben Erde, unten Himmel" (erschienen 2023 im Wagenbach Verlag) hat mich stark beeindruckt und tief berührt, so dass ich unbedingt schnell etwas weiteres der Autorin lesen will.

    Nun, die Leserinnen und Leser treffen hier auf Suzu, die mit ihrem Hamster in einem 1 Zimmer-Appartement in einer japanischen Großstadt lebt und arbeitet. Zunächst als Aushilfskellnerin und dann als Leichenfundortreinigerin. Ja, ihr habt richtig gelesen.

    Es geht aber weniger um die Arbeit an sich. Milena Michiko Flasar erzählt uns eher von einem nicht nur in Japan vorkommenden "Phänomen", nämlich dem einsamen Tod von Menschen, die mitunter lange Zeit tot in der Wohnung liegen (auf japanisch "Kodokushi"). Um solche "Fälle" kümmert sich Herr Sakai (die heimliche "Hauptfigur" in diesem Roman) und sein Team. Hier liegt eine große Stärke des Romans: es steht immer der Mensch und sein Schicksal im Vordergrund. Effekthascherei sucht man während der knapp 300 Seiten des Romans, der übrigens vom Verlag mit einem wunderschönen Schutzumschlag versehen wurde, vergeblich. Hier wird den Toten eine Würde verliehen, die mich tief berührt und beeindruckt hat.

    Ebenso wie sich hinter der scheinbar oberflächlichen Art und Weise, wie und was die Autorin schreibt, eine tiefgründige Geschichte verbirgt. Die Weisheit und Tiefsinnigkeit vieler Sätze lassen mein persönliches Notizbuch dicker und dicker werden *g*.

    Abgerundet wird dieser großartige Roman von einem umfangreichen Glossar japanischer Begriffe und vielen Hinweisen auf die japanische (Lebens-)Kultur.

    Ich vergebe glasklare 5* für diesen beeindruckend tiefsinnigen Roman und spreche eine absolute Leseempfehlung aus!

    © kingofmusic

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    10. Feb 2023 

    Über Einsamkeit & den unkonventionellen Weg in eine Gemeinschaft

    Die in einer größeren japanischen Stadt lebende Suzu ist gerade nicht nur aus ihrem Job als Kellnerin in einem Familienrestaurant gefeuert worden, sondern auch „geghostet“, das heißt ein Liebhaber hat von jetzt auf gleich vollständig den Kontakt zu ihr abgebrochen und Suzu wie eine heiße Kartoffel fallengelassen. Sie selbst zog eigentlich vor fünf Jahren in die Stadt, um zu studieren, brach das Studium jedoch nach nur kurzer Zeit wieder ab. Nun treibt sie durch ihre einsames Leben und trifft unvermittelt durch ein nebulöses Stellenangebot auf ihren neuen Chef Herrn Sakai, sowie einige neue Kollegen und zukünftige Freunde. Ihre neue Arbeit ist nichts Alltägliches – zumindest für uns Europäer:innen – , denn die ist nun Leichenfundortreinigerin. Im Japanischen gibt es eigenes ein Wort für den „einsamen Tod“ von Menschen, die in sozialer Isolation leben und mitunter erst Wochen später nach ihrem Versterben in den eigenen vier Wänden gefunden werden. Dieses Wort ist „Kodokushi“ und ein einsamer Verstorbener ist ein sog. „Kodokusha“.

    Flašar entwirft nun eine reizende Geschichte um die Mitte Zwanzig Jährige Suzu und die vielen, toll ausgeleuchteten Nebenfiguren um sie herum. Es geht um die Vereinsamung in den städtischen Häuserblocks, aber eben auch um den Weg hin in eine neue Gemeinschaft. Vom Allein- und Einsamsein hin zum Zusammensein mit anderen, selbst wenn einen mit diesen zunächst nicht viel verbindet.

    Sprachlich schreibt die Autorin sehr solide, nutzt ab und an Anglizismen, die ich persönlich manchmal als etwas störend empfand, führt aber letztlich ganz sanft durch diese Welt der Verstorbenen und vor allem der Lebenden. Ganz präzise Beobachtungen und Formulierungen bleiben dabei im Gedächtnis, wie zum Beispiel „Mit Beziehungen war es wie mit Weihnachtsbäumen. Es war schön, einen zu haben, andererseits auch egal, wenn man keinen hatte. Problematisch wurde es eher dann, wenn man unbedingt einen haben wollte und keinen bekam.“ Will Suzu zu Beginn noch unbedingt eine Beziehung und sieht sich auf den entsprechenden Dating-Online-Portalen um, rückt dies mit dem Einzug der realen menschlichen Gemeinschaft in ihre Leben immer mehr in den Hintergrund. Sie entwickelt sich und ihre Wahrnehmung weiter und bemerkt, was viele als selbstverständlich annehmen würden: „Wir lachten. Menschen waren seltsam, dachte ich. Unberechenbar, kompliziert und zutiefst komisch waren sie.“ Suzu entdeckt soziale Kontakte und damit das Soziale in sich selbst. Dabei hilft ihr vor allem der herzliche neue Chef Sakai, eindeutig meine Lieblingsfigur in diesem Roman. Durch seine unkonventionelle Art, sich mit immer neuen Menschen in seinem Umfeld anfreunden zu wollen und sie damit von einem Roboter zu einem Menschen zu machen, ist einfach herzerwärmend.

    Beim Verstehen des Textes und seinen vielen Bezügen zu Japan helfen die Worterklärungen in alphabetischer Reihenfolge im Anhang. Wie immer hätte ich mir gewünscht, dass die entsprechenden Begriffe schon im Romantext auf irgendeine Weise hervorgehoben worden wären. Aber sei es drum. Insgesamt handelt es sich um eine wunderschöne Veröffentlichung des Wagenbach Verlags, die sich optisch ebenso schön in die vorangegangen Romane der Autorin einordnet.

    Somit ist „Oben Erde, unten Himmel“ ein äußerst lesenswerter Roman, der zwar zum Thema Einsamkeit und Gemeinschaft im Allgemeinen nicht mehr allzu viel Neues beitragen kann, aber dafür im Speziellen mit Blick auf die japanischen Kultur und das Kodokushi wirklich sehr wissenswert und erhellend ist. Ich habe das Buch sehr gerne gelesen und wünsche ihm sowie dem behandelten Themenbereich viel Aufmerksamkeit.

    4/5 Sterne

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