Norden

Rezensionen zu "Norden"

  1. 5
    11. Nov 2020 

    Forty Mile

    Die flämische Autorin Sien Holders stellt in ihrem Roman "Norden" einen ganz besonderen Ort vor: die Goldgräberstadt Forty Mile, welche hoch im Norden von Kanada an der Grenze zu Alaska liegt. Zu ihrer Blütezeit, Ende des 19. Jahrhunderts, zählte dieser Ort etwa 700 Einwohner. Heute ist Forty Mile nur noch eine Geisterstadt, die imTerritorium Yukon liegt und unter der Verwaltung der Territoriumsregierung sowie der Tr'ondëk Hwëch'in, den Ureinwohnern dieser Gegend, steht.
    An diesen legendären Ort führt uns also die Handlung von "Norden" und deutet auf Abenteuerroman und Goldgräberstimmung hin. Doch weit gefehlt, es geht auch anders.

    Zum Inhalt:
    Die, in Vancouver lebende, junge Silberschmiedin Sarah erhält ein lukratives Angebot von einem bekannten Schmuckproduzenten, das sie in ihrer Karriere voran bringen könnte. Zunächst zögert sie und sieht sich noch nicht in der Lage, eine Entscheidung zu treffen. Sie muss sich zunächst darüber im Klaren werden, was ihr im Leben wichtig ist. Dadurch entschließt sie sich zu einer Denkpause an einem abgelegenen Ort, um sich darauf zu besinnen, was sie tatsächlich möchte. Denn Sarah versteht ihre Schmuckarbeiten als Ausdruck ihrer Persönlichkeit und tut sich schwer damit, diese einem kommerziellem Diktat zu unterwerfen. Dieser abgelegene Ort ist für sie Forty Mile.

    "Jeden Herbst, jeden Winter, jedes Frühjahr spürten sie bis in die Knochen, wie der Norden rief und lockte. Die Täler und die Tundra, die Flüsse und die Stille. Die Leere, die niederschmetternd sein konnte. Der Hunger nach Einsamkeit und nach einem Leben in der Wildnis, der die meisten in diesem letzten Städtchen im Norden der bewohnten Welt stranden ließ. Forty Mile. Wo jeder rumhing, jeder fieberte. Wo man einander am Rand der Einöde fand. Wo Kameradschaft durch die knallharten Winter brachte und es immer und überall genügend Alkohol gab, um die eigene Ohnmacht wegzusaufen."

    In Forty Mile ticken die Uhren anders. Menschen, die hier leben sind Individualisten und Aussteiger. Viele von ihnen sind hierher gekommen, um ihre Vergangenheit hinter sich zu lassen. Die Menschen leben ein einfaches Leben, das den Regeln der Natur unterworfen ist. Sarah genießt das unverfälschte Dasein in der Goldgräberstadt. Freundschaften entwickeln sich, sie verliebt sich. Am Ende wird sie sich für die Arbeit mit der Schmuckfirma entscheiden. Doch Forty Mile und seine Menschen werden von da an immer ihre neue Heimat bleiben, in die sie immer wieder zurückkehren wird.
    Es geht in diesem Roman hauptsächlich um die Protagonistin Sarah. Doch auch die Bewohner von Forty Mile haben einen großen Anteil an der Handlung. Die Autorin Sien Volders geht sehr liebevoll auf die persönlichen Geschichten dieser Menschen ein. Eine von ihnen ist Mary, die hier den einzigen Laden führt und Dreh- und Angelpunkt für den Austausch von Nachrichten der Bewohner Forty Miles ist - sowohl der Zugezogenen, der Alteingesessenen als auch der Weggezogenen. Denn Mary kennt alle und alle kennen Mary. Mary ist vor etlichen Jahren mit ähnlichen Beweggründen wie Sarah hergekommen. Doch sie entschied sich damals gegen den kommerziellen Erfolg, verliebte sich aber genauso wie Sarah in einen Bewohner Forty Mile's.
    Zu Sarahs neuen Freunden in Forty Mile gehören auch die beiden Musiker Jacob und Adam. Die beiden Aussteiger sind beste Freunde, die regelmäßig in der einzigen Bar vor Ort Musik machen. Für Jacob ist die Musik ein Hobby, für Adam ist sie - ähnlich wie für Sarah ihr Silberschmuck - ein Ausdruck seiner Persönlichkeit. Wenn Adam auf seiner Geige spielt, verliert er sich in der Musik. Er strebt nach Perfektion, will dabei neue Wege gehen und sucht Inspiration in der Musik der Ureinwohner, die nach wie vor in dieser Gegend zu finden sind.

    "Er erzählte ihr, da wäre sehr wohl noch Leben, den ganzen weiten Weg bis zum nördlichen Polarmeer, in den wenigen Dörfern und Niederlassungen der Ersten Völker. Dort würden die letzten Musiker leben, die noch jene Musik spielten, für die er in den Norden gekommen war. Athabaskische Musik. Die Geigenlieder, die die ersten Trapper vor über hundert Jahren aus ihren irischen und schottischen Häusern und Herbergen mitgebracht hatten. Die Ureinwohner hätten diese aufgeschnappt, und diese wären mit der Musik von hier verschmolzen."

    Für Sarah bedeutet ihre Kunst eine Facette ihrer Persönlichkeit. Adams Persönlichkeit hingegen wird von seiner Musik komplett vereinnahmt. Der hochsensible Mann scheint an dem Streben nach Perfektion zu zerbrechen. Adam ist schwer depressiv und Alkoholiker. Zumindest die Liebe zu Sarah gibt ihm positive Impulse, um sein Leben lebenswert zu finden - wenn sie denn in seiner Nähe ist.

    Die Handlung verläuft über einen Zeitraum von ein paar Jahren (1982 bis 1988), umfasst auch gleichzeitig Erinnerungen aus der Zeit davor, als Mary, die Ladenbesitzerin, ihre Anfänge in Forty Mile genommen hat. Hätte die Autorin sich ausschließlich auf ihre Protagonistin Sarah konzentriert, hätte ich diesen Roman vermutlich nicht gelesen. Die Handlung hätte sich auf eine moderne junge Frau bezogen, die damit beschäftigt ist, sich selbst und den Mann fürs Leben zu finden. Dieser Plot hätte mich zu sehr an die "moderne Herz-Schmerz-Frauenbelletristik" erinnert, gegen die ich eine Abneigung habe. Doch dieser Roman ist viel viel mehr.

    Indem die Autorin die Bewohner auf Forty Nile mit ihren unterschiedlichen Geschichten in die Handlung um Sarah einflicht, schafft sie ein vielfältiges Gesamtpaket, das mich von seiner literarischen Qualität überzeugt hat. Hinzu kommt dieser unglaubliche Schauplatz am Rande der Zivilisation Kanadas, an dem die Menschen, die dort leben der Natur ausgeliefert sind. Ihr Leben richtet sich nach dem Wechsel der Jahreszeiten. Dieser naturbedingte Rhytmus ist in der heutigen Zeit kaum vorstellbar und daher umso faszinierender.

    "Heute setzte die Fähre zum letzten Mal über. Schon seit Tagen treiben Eisschollen vorbei, und die Eisschicht am Rand wuchs immer weiter. Wochenlang würde der Strom noch in Bewegung bleiben, ein kontinuierlich sich veränderndes Schauspiel gefrierender Eisschollen mit einer gefährlichen Unterströmung. Bis er schließlich knirschend und schabend in den Winterschlaf fiel und immer tiefer gefror, zu einer unveränderlichen Eislandschaft wurde."

    Faszinierend war für mich auch der kraftvolle und gleichzeitig poetische Sprachstil von Sien Volders, der die unterschiedlichsten Stimmungen vermittelt hat. Diese Stimmungen standen oft im Kontrast zueinander. So folgten auf Szenen voller Lärm, Musik und Ausgelassenheit, Situationen inmitten der Natur, voller ohrenbetäubender Stille.

    Bleibt am Ende noch die Frage, wie es Sien Volders gelungen ist, einen Kanada-Roman zu schreiben, der dermaßen authentisch wirkt, dass man ungläubig auf die Herkunft der Autorin blickt (Belgien). In einem Interview las ich, dass Sien Volders vor Jahren selbst dort war und tiefgreifende Erfahrungen in diesem Land gemacht hat. Diese Eindrücke wollte sie in einem Roman festhalten. Das hat sie hervorragend hinbekommen. Denn man merkt diesem Buch die Begeisterung der Autorin für dieses wundervolle Land an. Und von dieser Begeisterung habe ich mich sehr gern anstecken lassen.

    Leseempfehlung!

    © Renie

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