Noch wach?: Roman

Rezensionen zu "Noch wach?: Roman"

  1. Sprachwitz, wichtiges Thema - aber ohne Biss

    Mein Lese-Eindruck:

    „Dieser Roman ist inspiriert von realen Ereignissen, er ist jedoch eine ... unabhängige fiktionale Geschichte“. Diesen Hinweis des Autors habe ich gerne gelesen, weil er mir die Möglichkeit gibt, den Roman unbelastet von den aktuellen Diskussionen als belletristische Fiktion zu lesen.

    Der Autor machte mir das aber nicht leicht; schon im 2. Kapitel befindet er sich nämlich in Gesellschaft von Rose McGowan, der Schauspielerin, die den Medien-Mogul Harvard Weinstein wegen Vergewaltigung vor Gericht zog und zur Vorkämpferin der MeToo-Bewegung wurde. Und auch in den Folgekapiteln regnet es Referenzen auf Musik-, Literatur- und Mediengrößen, allen voran der Besitzer des Senders als der beste Freund des Autors und der Chefredakteur. Also doch ein Schlüsselroman, quasi ein öffentlicher Nachklapp zu seiner mehr oder weniger erfolglosen Beschwerde von 2019??

    Was das Literarische angeht: Das Thema ist schnell auf dem Tisch. Der Ich-Erzähler begegnet in den USA den Anfängen der MeToo-Bewegung und erkennt, wieder zurück in Berlin, hier dasselbe Phänomen. Es geht um Machtmissbrauch in hierarchischen Strukturen, speziell im Medienbereich, konkret: um sexuelle Übergriffe gegenüber jungen Journalistinnen, die aus Scham den Übergriff nicht öffentlich machen. Und wenn sie es machen, werden sie unter Druck gesetzt, mit Verleumdungsklagen überzogen und geraten beruflich aufs Abstellgleis. Dazu kommt die populistische und menschenverachtende Medienpolitik des Senders, mit der der Ich-Erzähler schließlich so wenig klarkommt, dass die jahrelange Freundschaft zerbricht.

    Diese Themen stellt uns der Autor in einer ausgesprochen eigenwilligen Sprache vor. Schreibt er zunächst im Stakkato-Stil – abgehetzt, eilig, irrlichternd -, wird sein Erzählen im Fortgang des Romans ruhiger, und damit setzt er einen auffallenden Kontrapunkt zur immer rasanter werdenden Handlung. Mit Versalien setzt er Betonungen; an diese Schreibweise gewöhnt sich der Leser schnell.

    Ausgesprochen originell und unterhaltsam sind seine Wortschöpfungen, sein Wortwitz und seine Wortbilder : da kennt er Prominente „einbahnstraßig“, die „Aussegnungshallenatmosphäre mit unserem, schweinepeinlichen Feuerschweifauto“ will er „mit etwas Heiterkeit durchlüften“, er spricht von „Meinungsfreiheit und Deinungsfreiheit“ und dergleichen. Diese Sprachspielereien schmälern das ernste Thema nicht, man kann also seinen Spaß daran haben.

    Das Thema ist unbestritten wichtig, aber dennoch bleibt nach der Lektüre ein schaler Nachgeschmack übrig. Eigentlich ist alles da: die betroffenen Frauen kommen zu Wort, ihre Stimmen wirken auch authentisch, die juristischen Winkelzüge des Sender-Eigners und seines Chefredakteurs werden vorgeführt, der sexualisierte Machtmissbrauch findet in aller Öffentlichkeit statt, jeder weiß davon, aber niemand sagt etwas, die merkwürdige Männerfreundschaft zwischen Ich-Erzähler und Sender-Besitzer, überhaupt diese patriarchalischen Strukturen und diese verlogene Formel der Einvernehmlichkeit – alles ist da.

    Aber: Hätte Stuckrad-Barre nicht mehr mit seinem Material machen können? Er bezeichnet sich selber als „fassungslos“, aber damit darf es doch nicht getan sein. Der Roman zündet einfach nicht, wie auch immer, bei den Patriarchen findet keinerlei Bewegung statt, es bleibt bei „the same procedure as any year“. Oder bildlich gesprochen: der Autor macht ein großes Fass auf und beschreibt den Inhalt, aber den Deckel kriegt er nicht drauf.

    Meiner Meinung nach hat der Autor hier eine Chance vertan.

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