Noch alle Zeit: Roman

Buchseite und Rezensionen zu 'Noch alle Zeit: Roman' von  Alexander Häusser
4.9
4.9 von 5 (12 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Noch alle Zeit: Roman"

Die Spurensuche nach seinem Vater wird für Edvard zur Suche nach dem eigenen Glück. Er begibt sich auf eine Reise hoch in den Norden Norwegens. Es ist die Reise seines Lebens. Nach dem Tod seiner Mutter entdeckt Edvard ein Sparbuch auf seinen Namen. Ein kleines Vermögen hat sich angesammelt. Warum hat seine Mutter ihm das Sparbuch verschwiegen? Steckt vielleicht sein vor 50 Jahren verschwundener Vater dahinter? Jetzt will Edvard die Wahrheit wissen und eine erste Spur führt ihn zu einer Bank in Oslo. Auf der Überfahrt lernt er die junge Berliner Journalistin Alva kennen. Auch sie ist auf der Suche nach sich selbst. Eine Reise durch Fjorde, Gebirge, einsame Hochebenen und magische Orte beginnt, die beide für immer verändert.

Format:Gebundene Ausgabe
Seiten:280
EAN:9783865326553

Rezensionen zu "Noch alle Zeit: Roman"

  1. Roadtrip durch Norwegen

    Zwei Menschen auf der Suche nach sich selbst begehen einen Roadtrip durch Norwegen. Edvard hat die besten Jahre hinter sich und das Gefühl, in seinem Leben nichts erreicht zu haben. Seit der Vater verschwunden ist, hat er sich um die geistig verwirrte Mutter gekümmert und nie eine eigene Familie gegründet. Nach dem Tod der Mutter findet er Hinweise darauf, dass der totgeglaubte Vater in Norwegen lebt. Edvard bricht auf, ohne wirklichen Plan, und will den Vater finden. Alva, eine Berliner Journalistin, hat eine schwierige Beziehung zu ihrem Elternhaus und zu sich selbst. Sie hat eine fünfjährige Tochter, und obwohl sie diese sehr liebt, kann sie die Rolle der liebevollen, zuverlässigen Mutter nicht so recht erfüllen. Für eine Reportage über magische Orte reist sie nach Norwegen. Auf der Fähre lernen sich Edvard und Alva kennen und gewisse Vorfälle führen dazu, dass sie in einem gemeinsamen Mietwagen durch Norwegen reisen.

    Mir hat die Schilderung des Innenlebens der beiden Hauptcharaktere gefallen. Alexander Häusser ist es gelungen große und auch subtile Gefühlsregungen treffend in Worte zu fassen. Auch die Unterschiedlichkeit der beiden Hauptcharaktere (jung, weiblich, verrückt trifft alt, männlich, rechtschaffen) fand ich interessant. Ich habe mir bei der Lektüre so sehr gewünscht, dass Edvard und Alva zu sich selbst und zu ihrem jeweiligen Glück finden. Ich bin bis zur letzten Seite voller Hoffnung geblieben und mit einem sehr emotionalen Ende belohnt worden. "Noch alle Zeit" ist ein toller Roman, den ich sehr empfehlen kann.

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  1. Ein Überraschungsei in Buchform

    Wir alle kennen Ü-Eier. Unter der bunten Silberschicht, die das Ei schützt, kommt leckere Schokolade zum Vorschein. Doch – oho, was klappert denn da im Inneren? Gespannt lösen wir vorsichtig die beiden Ei-Hälften und zum Vorschein kommt – ein gelbes (Plastik-)Ei. Was da wohl drin sein mag? Auch das wird voller Spannung und vorsichtig „ausgepackt“, bis man nun endlich das Objekt der Begierde (Sammelfigur) oder enttäuschendes, nutzloses Zeugs findet und sich alsbald an das Verschlingen der Schokolade macht *g*.

    Was hat das Ganze nun mit Alexander Häusser´s Roman „Noch alle Zeit“ zu tun, fragt ihr euch (wohl) zu Recht. Nun, ich will es euch in ein paar Worten erklären: dieser Roman ist so vielschichtig wie ein – nun, Ü-Ei.

    Man startet die Lektüre voller Spannung und erwartet zunächst einmal gemäß Klappentext „nur“ eine Familiengeschichte mit (auto-)biografischen Zügen. Man blickt sozusagen auf die schützende Silberschicht, weiß aber noch nicht, was sich darunter (wirklich) verbirgt.

    Man beginnt zu lesen, lernt die Protagonisten Edvard und Alva ausführlich kennen und weiß zunächst nicht, was beide Figuren miteinander zu tun haben (werden). Doch schnell merkt die geneigte Leserschaft, dass Alexander Häusser weit mehr zu bieten hat, als eine „schnöde“ Familiengeschichte nach dem 08/15-Baukasten-Prinzip.

    Geschickt verknüpft der Autor die Wege von Edvard und Alva, lässt sie gegenseitige Abneigung, aber auch Verstehen/ Vertrauen etc. spüren und trotzdem ist es keine Liebesgeschichte. Zumal zwischen Edvard und Alva Jahrzehnte liegen.

    Nach und nach bzw. von Anfang an wird der Leser mitgenommen – auf eine Reise nach und durch Norwegen, auf die Suche der Protagonisten nach der (durchaus) verlorenen Zeit, die sie gebraucht haben und brauchen, um sich und ihren Platz, verborgene (Familien-)Geheimnisse zu finden und zu entdecken.

    Doch trotz dieser vielen Geschichten in der Geschichte hat alles seinen (handfesten) Platz und seine absolute Daseinsberechtigung. Auch wenn sich am Ende nicht alles (in Wohlgefallen) auflöst; hier ist die geneigte Leserschaft gefragt, sich eigene Gedanken zu machen.

    Man muss sich „Noch alle Zeit“ Schicht für Schicht erarbeiten. Denn wenn Alexander Häusser etwas beherrscht (und nun kommen wir schon zum Inneren des „gelben Ei“), dann ist es die bildgewaltige Sprache, in der er seinen Roman verfasst hat. Es ist unmöglich, sämtliche Bilder/ Metaphern beim ersten Lesen zu „erfassen“. Am besten ist es, man genießt das Buch wie ein gutes Stück (Kinder-)Schokolade: schön langsam, um ja keine Facette dieses famosen Romans zu verpassen.

    Und so eignet sich die Lektüre von „Noch alle Zeit“ bestens dafür, öfter gelesen zu werden – am besten mit Schokolade dabei *g*.

    Ein großartiger Roman und leckere 5 (Schokoladen-)Sterne wert!

    @kingofmusic

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  1. Ein Buch, das Mut macht

    Der alternde Edvard Mellmann war immer für seine Mutter da: nach dem spurlosen Verschwinden seines Vaters (damals war Edvard zehn Jahre alt) blieb er bei ihr - da er ja nun "der Mann im Hause" war -, führte den Haushalt und versorgte die pflegebedürftige Mutter bis zu ihrem Tod. Die Beziehung zu einer Jugendfreundin scheiterte letztlich an seiner selbst auferlegten Pflicht. Nach dem Tod der Mutter findet er in ihrem Nachlass ein Sparbuch, das über viele Jahre hinweg eingezahlte Beträge ausweist - von einer Bank in Norwegen aus. Viel Geld, das ihm und der Mutter das Leben sehr hätte erleichtern können. Was hat sie ihm verschwiegen und warum? Edvard startet mit den wenigen Erinnerungsstücken an seinen Vater, hauptsächlich einem Stapel Fotos, nach Oslo, um endlich die Wahrheit zu erfahren.

    Nach Norwegen unterwegs ist auch die dreißigjährige Journalistin Alva, die ihre Tochter Lina in Berlin in der Obhut des Exmanns und der Oma zurückgelassen hat, um eine Doku über "magische Orte" in Norwegen zu planen. Ihre Vorstellungen davon sind nur vage, sie wird von Schuldgefühlen wegen der kleinen Lina geplagt, fürchtet ihr Leben nicht im Griff zu haben: "Mit den magischen Orten käme Ordnung in ihr Leben - Ordnung und Geld, und sie würden dann auch gemeinsam Urlaub machen können, wie es alle taten. Das war es doch, was ihre Mutter immer von ihr wollte - dass sie wie alle anderen sei."

    Als sie auf der Fähre nach Norwegen mit Edvard zusammentrifft, wirkt sie zunächst wie die Schwächere von beiden: sie trinkt viel zuviel, lässt ihr Handy ins Wasser fallen, er muss sie in seiner Kabine versorgen. Doch später nimmt sie Edvard mit erstaunlicher Tatkraft an der Hand. Sie plant die Suche nach seinem Vater für ihn, bucht Mietwagen und Flug, sucht Adressen heraus. Gemeinsam beginnen die beiden ihren Weg über Tromsø und Bergen bis zur Insel Herdla, wo im Zweiten Weltkrieg deutsche Soldaten stationiert waren - und wo sich tatsächlich jemand an Edvards Vater erinnert ...

    Häussers Buch ist kein "Spannungsroman", und so wird auch die Spurensuche nach Edvards Vater kein Thriller. Es ist eine leise, schrittweise Erkundung, die da stattfindet, und die Reise durch die sicht- und fühlbar geschilderte Landschaft und die Geschichte Norwegens entspricht einer Reise ins Innere der beiden Hauptpersonen. Häusser erzählt im ersten Drittel des Romans in zwei Handlungssträngen abwechselnd von Edvard und Alva, entwickelt ihre Charaktere in genau beobachteten Szenen und Rückblenden. Der Autor gibt an keiner Stelle Deutungen vor, sondern setzt für jede Entwicklung , jede Entscheidung seiner Figuren emblematische Zeichen: "Wo immer seine Mutter jetzt auch wäre, (...) sie sollte sehen können, dass ihn nichts mehr hielt. Er würde das Hemd anziehen, das er zu ihrer Beerdigung getragen hatte. Er würde in den Zug steigen und über die Brücke fahren. (...) Ein Leben, in dem nichts passiert, macht alt, dachte er und sah sich um, als würde er im Moment aus einem endlosen vergifteten Schlaf erwachen." Oder über Alva, als sie sich auf der Fähre aufhält: "Alva trat ganz dicht an das Panoramafenster (...). Es war die Scheibe, die sie vom Leben trennte. Sie war immer da. Alva versank in leeren Gedanken, und sie hätte nicht sagen können, wo sie gewesen war, als hinter ihrem Rücken die letzten Karten ausgespielt, die letzten Verabredungen getroffen worden waren und der Schlaf über das Schiff gekommen war."

    Es gibt keinen sensationellen Wendepunkt in dem Roman; den Dramen, die sich anzudeuten beginnen, bricht der Autor schon vorher die Spitze ab. "Noch alle Zeit" bleibt bis zuletzt ein leises Buch. Am Ende werden weder alle Rätsel gelöst, noch gehen alle Pläne auf. Aber es gibt Hoffnung für beide, wie auf den letzten Seiten deutlich wird - und sie haben ja noch alle Zeit.

    Ein wunderbarer Roman voll einfühlsamer Schilderungen. Alexander Häusser bringt es fertig, mit wenigen einfühlsam gesetzten Worten Verständnis zu schaffen für außergewöhnliche Menschen, für die Zwangslagen und Ängste in einem scheinbar verfehlten Leben, in dem doch immer wieder neue Türen aufgehen, Erkenntnis und Hoffnung sichtbar werden. Seine größte erzählerische Kraft entfaltet der Roman vor allem da, wo es um imaginierte Szenen geht - unklare Kindheitserinnerungen, Assoziationen, Träume, die sich nicht erfüllt haben. "Sicherlich war es oft nicht leicht gewesen, dachte Alva" (über ein Schulmädchen, das sie bei einer Abschlussfeier beobachtet). "Vielleicht hatte es eine Zeit gegeben, in der das Mädchen plötzlich still geworden war und unerreichbar. Nicht einmal die Mutter hatte gewusst, was in Kopf und Herzen ihrer Tochter vorging. (...) Bis sie herausfanden, dass sie glaubte, nicht so wie die anderen zu sein, zu viel zu denken, zu viel zu fühlen, ohne dafür Worte zu finden. So viel Geduld hatte man gebraucht, aber jetzt war alles gut." In solchen Momenten öffnen sich jedes Mal große Räume für die Imagination des Lesers, die zum Innehalten, Nachdenken und unbedingt zum erneuten Lesen verführen.

    Ein Buch, das viel Mut macht und eine große Leserschaft verdient.

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  1. Wehmütig, doch voller Hoffnung

    Wehmütig, doch voller Hoffnung⠀

    Alexander Häusser zeichnet seine Charaktere einfühlsam, mit leisem Strich. Dennoch lösen ihre Gedanken und Gefühle beim Lesen einen tiefen Widerhall aus – eindringlich, glaubhaft und lebendig. Vieles wird nur angerissen; nichts wird zu Tode erklärt oder löst sich allzu glatt in Wohlgefallen aus. Auch Ecken und Kanten werden nicht geglättet und abgeschmirgelt.⠀

    Die zwei hier im Fokus stehenden Mutter-Kind-Beziehungen sind beide auf ihre ganz eigene Art gestört und bis zu einem gewissen Grad auch toxisch, aber keine davon wird in Schubladen gesteckt oder mit Diagnosen versehen. Gerade dadurch, dass der Autor der Uneindeutigkeit Raum gibt, fühlt sich das an wie ein Blick ins echte Leben – nicht immer schön, oft schmerzhaft, aber mit unendlichem Potential.⠀

    Protagonist Edvard wurde als Teenager nach dem plötzlichen Verschwinden seines Vaters von der Mutter in eine Erwachsenenrolle gedrängt und damit sicher auch in seiner Entwicklung empfindlich gestört. Auch später als Erwachsener drehte sich sein ganzes Leben nur darum, sich um die labile, bedürftige Mutter zu kümmern, und nach ihrem Tod stellt er ernüchtert fest, dass er ein alter Mann ist, der nie wirklich gelebt hat.⠀

    “Er wollte einmal in seinem Leben die Stimme erheben, wollte brüllen, toben, hinausschreien, dass das Leben einfach vergehen kann, ohne eine Hoffnung, ohne ein Versprechen.”⠀
    (Zitat)⠀

    Warum hat er nie ernsthaft versucht, sein eigenes Leben für sich zu beanspruchen? War es ihm wirklich so unmöglich, sich aus der Abhängigkeit zur Mutter zu lösen? Mit Bestürzung muss er realisieren, dass er dadurch auch seine Jugendliebe Elsie in die Opferrolle zwang, bis diese die Reißlinie zog. Diese Liebesgeschichte zieht sich durchs ganze Buch – wehmütig, mit leiser Hoffnung und ganz ohne Kitsch.⠀

    Protagonistin Alva ist jung und hat offensichtlich schwerwiegende psychische Probleme. Ständig trägt sie Kopfhörer und hört immer wieder lautstark die gleiche Musik, um die Welt auszublenden – inklusive ihrer kleinen Tochter, die sie einerseits liebt, sich aber andererseits auch von ihr überfordert fühlt. Sie vermisst das Kind nicht, wenn es nicht da ist. Sie macht sich keine Sorgen, wenn die Kleine aus dem Haus stürmt, sie könne auf die vielbefahrene Straße laufen.⠀

    »In mir ist etwas, das nichts fühlt und nichts will. Schon lange, schon immer«⠀
    (Zitat)⠀

    Sex mit ihrem Freund ist etwas, das sie tut, um ihn positiv zu stimmen – aber auch dabei zieht sie die Kopfhörer nicht aus. Alvas Einsamkeit schneidet beim Lesen bis ins Mark. Man kann spekulieren: Postnatale Depression? Autismus? Aber letztlich ist Alva einfach Alva, die die Leere in sich nicht füllen, das Leben nicht einfach spüren kann.⠀

    Eine Begegnung der Gegensätze⠀
    Natürlich treffen Edvard und Alva aufeinander, und man merkt im Kontrast: Edvard, von seiner Mutter auf Fürsorge trainiert, kümmert sich zu viel und vernachlässigt den eigenen Seelenfrieden . Alva kümmert sich zu wenig und verzweifelt daran. Als Leser*in verfolgt man gespannt die Entwicklungen, die bei beiden durch diese Begegnung in Herz und Verstand ausgelöst werden.⠀

    “Er öffnete die Augen sie strich ihm übers Haar und begriff, dass man den anderen auch trösten kann, wenn einem selbst genau so kalt ist.”⠀
    (Zitat)⠀

    Das ist nicht immer einfach, es spielt sich auch nicht ohne Konflikte ab, aber es scheint genau das zu sein, was beide brauchen, um mit gewissen Dingen abzuschließen. Beide suchen etwas in Norwegen (Edvard den Vater, Alva magische Orte für eine Reportage) und müssen erst noch verstehen, dass sie im Grunde nur sich selber suchen.⠀

    Die Geschichte ist auf vielerlei Ebenen spannend.⠀
    Weil das Verschwinden von Edvards Vater ein Rätsel ist, das sich über zwei Länder erstreckt. Weil man mitfühlt mit Edvard und Alva, sich so sehr wünscht, dass sie ihre jeweiligen Wunden heilen und Frieden finden können. Weil die Geschichte von Edvard und Elsie noch nicht abgeschlossen ist.⠀

    Die Geschichte ist komplex und schlüssig konstruiert, lässt aber einiges am Schluss auch ganz bewusst offen. So ist eben das Leben: oft ist der Weg das Ziel, und manchmal reicht auch das Wissen, dass man neue Erkenntnisse gewonnen hat – und noch alle Zeit. Alexander Häusser spricht viel über das Ungesagte, das Verschwiegene, das nie Aufgearbeitete, und das entwickelt seinen ganz eigenen Sog.⠀

    Häussers Sätze sind nie belanglos.⠀

    Jedes Wort, so war mein Eindruck, wurde bedacht gewählt, reiht sich ein in die leise und doch ausdrucksstarke Poetik des Buches. Die Teile der Geschichte, die in Norwegen spielen, punkten darüber hinaus mit wunderbar lebendigen Beschreibungen, die die ganz besondere Magie Norwegens einfangen und Reisesehnsucht wecken.⠀

    Fazit⠀

    Auf der Überfahrt nach Norwegen lernen sich zwei Reisende kennen, wie sie unterschiedlicher kaum sein könnten:⠀

    Edvard folgt den Spuren seines angeblich vor 50 Jahren verstorbenen Vaters nach Oslo, nachdem er erst vor kurzem nach dem Tod seiner Mutter feststellen musste, dass diese ihm die ganzen Jahre hindurch etwas verschwiegen hatte. Alva ist auf Recherchereise für einen Dokumentarfilm über die magischen Orte Norwegens – aber auch auf der Flucht, weil sie sich als Mutter ihrer kleinen Tochter überfordert fühlt.⠀

    Die Begegnung stößt für beide einiges an, und am Ende dieser Reise werden sie viel über sich gelernt haben. Eine wunderbare Geschichte, die mit ruhiger Poetik zum Mitfühlen und Nachdenken einlädt.

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  1. Was es bracuht im Leben

    Mit 10 Jahren hat Edvard seinen Vater verloren. Seit damals ist sein ganzes Leben auf die Mutter ausgerichtet. Er ist etwa 60 Jahre, als die Mutter stirbt. Zufällig entdeckt Edvard ein Sparbuch und mit diesem Fund stellt er alles in Frage, was er über seinen Vater zu wissen glaubte. Er macht sich auf eine Spurensuche, die ihn nach Norwegen führt. Auf seiner Reise trifft er auf Ava, eine Berliner Journalistin, die ihrerseits auf einer ganz besonderen Suche ist – nach sich selbst.

    Alexander Häusser zeigt uns in seinem Roman „Noch alle Zeit“ zwei Menschen, die beide auf ihre Art merkwürdig sind. Edvard, der alles in seinem Leben der Mutter zuliebe zurückgestellt hat, auch seine große Liebe zu Elsie und Ava, in deren Kopf Stimmen schwirren, die ihre kleine Tochter liebt, aber gleichzeitig an ihrer Mutterliebe zweifelt. Beiden ist gemeinsam, nie genügt zu haben. Trotz des großen Altersunterschiedes und anfänglicher Konflikte entwickelt sich eine starke Bande der Freundschaft, des Vertrauens und der gegenseitigen Unterstützung zwischen den beiden.

    Es ist ein leises Buch mit wunderschönen Sätzen und Bildern über vertane Chancen und der Zeit, die uns bleibt, etwas nachzuholen und anders zu machen, über das Aufbrechen von Gewohnheiten und der Erkenntnis, sich selbst genug zu sein.

    „Alva war sich plötzlich sicher: man soll nur haben, was man wirklich braucht. Man hat kalte Füße, also braucht man Socken. Es ist kalt, also macht man Feuer und. braucht Holz. Es war doch so einfach. Sie müsste nur herausfinden, was sie in ihrem Leben braucht, dann wären alle Probleme gelöst.“

    In der entrückten Landschaft Norwegens können Edvard und Ava erkennen, dass zwischenmenschliche Beziehungen mehr als eine Seite und mehr als eine Wahrheit enthalten können.

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  1. 5
    10. Feb 2021 

    Es ist nie zu spät...

    Zwei Charaktere bestimmen das Geschehen in diesem Roman, zwei Charaktere, die unabhängig von ihrem großen Altersunterschied und in verschiedenen Lebensphasen beide noch nicht zu sich selbst gefunden haben.

    Der eine jahrzehntelang gefangen im immergleichen engen Dorfleben und in einer Rolle, in die er zwangsläufig hineingewachsen ist. Edvarrd musste immer da sein für seine Mutter, die ihn seit seinem 10. Lebensjahr alleine erzog. Nun, nach dem Tod der Mutter, ist er aus der Rolle entlassen und weiß nicht wohin mit sich. Einfach bei seiner alten Liebe weiterzumachen, die vor kurzem ins Dorf zurückgekehrt ist, kommt ihm irgendwie auch nicht richtig vor. Das gefundene Sparbuch gibt jedoch den Anstoß, seinem Leben eine neue Richtung zu geben, wohin auch immer. Jedenfalls weg, mit aller Macht.

    Er zog den Kopf ein, als er sein Zimmer betrat, das immer sein Kinderzimmer geblieben war, das nie für ihn gewachsen war, das ihn ein Leben lang klein gehalten hatte… (S. 15)

    Die andere hadert mit sich seit sie denken kann. Ständig hat Alva das Gefühl 'falsch' zu sein. Nicht den Erwartungen entsprechen aber auch nicht aus ihrer Haut zu können. Sie versucht mit Musik alles zu überspielen, es weniger 'wirklich' und bedeutsam werden zu lassen, lebt dadurch aber am Leben vorbei und auch an der Chance zu erkennen, wer sie wirklich ist. Alva lässt nach ihrer großen und verlorenen Liebe niemanden mehr wirklich an sich heran, die Liebe ihrer Tochter macht ihr Angst. Auch sie macht sich auf den Weg, um sich womöglich selbst zu finden...

    Der Roman hat einen ganz eigenartigen Sog, düster und melancholisch, doch die beiden Charaktere versuchen sich an die Oberfläche der dunklen Tiefen zu strampeln. Alva macht es niemandem leicht, sie zu mögen, nicht Edvard, nicht dem Leser. Aber die Verletztlichkeit und tiefe Verzweiflung, die da immer wieder aufblitzen, lassen einen auch zögern, sich einfach abzuwenden. Und Edvard spurtet mit seinen 60 Jahren ziemlich blauäugig und überhastet los nach Norwegen auf der Suche nach seinem nun über 90jährigen Vater, der im Grunde überall und nirgends sein könnte - und wer sollte ihn wohl kennen, den er zufällig fragen könnte? Dass Edvard noch dazu eine langjährige und tiefe Verbundenheit zum verräterischen Freund Alkohol pflegt, macht die Sache nicht unbedingt einfacher.

    Die Begegnungen der beiden so unterschiedlichen Charaktere sind schräg und alles andere als geschmeidig. Jede_r der beiden fühlt sich im Verlauf verantwortlich für den jeweils anderen, und doch bleibt jede_r der Idee treu, die sie_ihn auf die Reise geschickt hat. Das ist kein vor Harmonie triefender Roman, der Umgang von Edvard und Alva miteinander ist oft rau und von Egoismus geprägt, und doch erkennen sie im jeweils anderen etwas, das sie innehalten und sich ihm zuwenden lässt.

    Er öffnete die Augen, sie strich ihm übers Haar und begriff, dass man den anderen auch trösten kann, wenn einem selbst genau so kalt ist. (S. 214)

    Trotz der geringen Seitenzahl war dies für mich ein langsamer Roman, den ich nur passagenweise gelesen habe, einfach weil so viel zwischen den Zeilen steckt, so viel Gefühl transportiert wird. Die Verzweiflung der beiden, die Notgemeinschaft der Einsamkeiten, die alten Verletzungen, die Narben hinterlassen haben. Und doch - bei allen melancholischen Rückblicken zeigen letztlich die Vorzeichen auf den Blick nach vorne - eine Entwicklung zu sich selbst...

    Ich mag Romane, die in oftmals poetischer Sprache auf wenigen Seiten so viel erzählen. Die Stimmung hier ist stets in Moll gehalten und doch zuletzt auf die Zukunft ausgerichtet. Das Verhaften in der Vergangenheit hat ein Ende - es spielt eine Rolle, aber das Leben an sich rückt nun in den Vordergrund, und das offene Ende des Romans passt in meinen Augen hervorragend zu der Erzählung.

    Zwei unterschiedliche Charaktere, zwei unterschiedliche Generationen - eine Suche. Der Ältere trägt viele Aspekte der Lebensgeschiche des Autors in sich, wie er verriet, was die Erzählung für mich noch persönlicher werden lässt. Und bei aller Melancholie haftet dem Roman doch auch etwas Tröstliches an: nämlich dass es nie zu spät ist, sich auf die Suche zu begeben. Dem Leben entgegen...

    © Parden

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  1. Alva und Edvard

    Alva und Edvard

    Noch alle Zeit von Alexander Häusser ist ein Roman über die Selbstfindung zweier Menschen.

    Edvard ist einer dieser beiden Menschen. Er versorgte seine Mutter bis zu ihrem Tod. Nun, mit gut 60 Jahren, begibt er sich auf eine Reise nach Norwegen, von dem Geld, dass seine Mutter auf ein Sparbuch einzahlte
    von dem er erst nach ihrem Tod erfahren hat.
    Es liegt nahe, dass die Einzahlungen von seinem Vater stammen, der ihn und seine Mutter damals verließ. Eine Erkenntnis die ihn sehr hart trifft, denn seine Mutter ließ ihn in dem Glauben er wäre tot.
    Sein Vater war Pilot und musste immer nach Norwegen zu seiner Einheit, ansonsten lebte er für die Trödelmärkte, die er gern bereiste, um dort seine Waren anzubieten. Edvard liebte seinen Vater abgöttisch. Seit dem Weggang ihres Mannes war seine Mutter nie mehr dieselbe, so dass Edvard in jungen Jahren, quasi noch als Kind, sein eigenes Leben aufgab, um für sie zu sorgen. Sie ging zwar ihrer Arbeit weiterhin nach, doch Edvard versorgte den Haushalt und kümmerte sich um sie, wenn sie traurig war. Seine Kindheit blieb somit vollkommen auf der Strecke. Seine Mutter brachte ihn in eine Abhängigkeit wie sie für einen Menschen nur toxisch sein kann.
    Nun, in fortgeschrittenem Alter, merkt er, dass er fast sein ganzes Leben verpasst hat. Seine große Liebe konnte damals nicht damit umgehen, dass Edvards Mutter bei ihm immer Vorrang hatte, nun bereut er dies zutiefst. Er fühlt sich, als wenn der Zug bereits abgefahren wäre.
    Auf seiner Reise begegnet er der um viele Jahre jüngeren Alva. Alva will eine Reportage über magische Orte Norwegens verfassen, es soll ihr berufliches Sprungbrett werden. Privat hat sie zu kämpfen, fühlt sich unzulänglich und überfordert mit der Erziehung ihrer kleinen Tochter. Sie möchte ihr Leben anders führen, doch sie scheint sich selbst nicht zu mögen so wie sie ist. Sie möchte alles richtig machen, doch es fühlt sich alles falsch an.

    Durch eine eher unglückliche Verkettung lernen Edvard und Alva sich auf dem Schiff nach Norwegen kennen, und begeben sich so auf eine Reise, die aus beiden neue Menschen macht. Wie? Das sollte man schon selbst lesen, denn der Autor Alexander Häusser beschreibt dies alles sehr rührend. Viele schöne Zitate runden das Ganze ab und geben dem Leser am Ende das Gefühl, bei dem Weg der Selbstfindung dabei gewesen zu sein. Ein toller Roman, der das Herz erwärmt, dem Leser Norwegen und die Zeit der Besatzung näher bringt. Absolute Leseempfehlung meinerseits!

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  1. Berührend

    Inhalt (Klappentext):

    Nach dem Tod seiner Mutter entdeckt Edvard ein Sparbuch auf seinen Namen. Ein kleines Vermögen hat sich angesammelt. Warum hat seine Mutter ihm das Sparbuch verschwiegen? Steckt vielleicht sein vor 50 Jahren verschwundener Vater dahinter? Jetzt will Edvard die Wahrheit wissen und eine erste Spur führt ihn zu einer Bank in Oslo. Auf der Überfahrt lernt er die junge Berliner Journalistin Alva kennen. Auch sie ist auf der Suche – nach sich selbst...

    Das Buch erzählt ruhig und sprachlich auf hohem Niveau die Geschichte der beiden Außenseiter Edvard und Alva. Der 60jährige Edvard hat sich seit dem plötzlichen Verschwinden seines Vaters vor 50 Jahren um seine psychisch instabile, aber doch dominate Mutter gekümmert. Nie hat er sein Dorf verlassen, das Elternhaus hinter dem Deich war sein Gefängnis, aber auch seine Zuflucht vor dem unbekannten Leben. Immer wieder versinkt er in seinen Erinnerungen und so erfährt der Leser, dass Edvard durchaus Möglichkeiten hatte auszubrechen, diesen Schritt aber nie gewagt hat. Die Figur der Alva blieb mir das ganze Buch über fremd. Sie scheint eine Perfektionistin zu sein, die allerdings ihre eigenen hohen Standards nie erreichen kann und deshalb in Untätigkeit und leider auch Selbstmitleid verharrt. Die Begegnung der beiden verändert etwas, die gemeinsame Suche nach Edvards Vater scheint auch Alva zu helfen und auch wenn das Ende eher offen ist, gibt es doch Zuversicht, denn für beide bleibt "noch alle Zeit".

    Das Buch ist voller wunderbarer Sätze:

    "Er zog den Kopf ein, als er sein Zimmer betrat, das immer sein Kinderzimmer geblieben war, das nie für ihn gewachsen war, das ihn ein Leben lang klein gehalten hatte und immer noch nach Klebstoff roch. Als hätte es seine ganze Kindheit eingesogen, um sie ihm später vorzuhalten. Sein beleidigtes, besserwisserisches Zimmer, das es Edvard nie verziehen hatte, erwachsen geworden zu sein." (S. 15)

    "Wie soll man wissen können, wer man ist, wenn man nie den eigenen Namen hört." (S. 108)

    "Glück bekommt man nicht geschenkt, hatte der Vater einmal gesagt, der Preis des Glücks ist Unglück, für die, die ihm im Wege stehen. Und das größte Unglück ist die Verhinderung des Glücks." (S. 171)

    Dieses Buch gehört zu denen, die man mehrfach lesen muss, um all diese schönen Textstellen zu entdecken. Auch die Hinweise auf die deutsch-norwegische Geschichte sind sehr interessant und machen Lust auf mehr Entdeckungen dieser für mich relativ unbekannten Historie. Ich hatte das Glück, das Buch in einer Leserunde kennenzulernen, an der auch der Autor Alexander Häusser teilgenommen hat. Dieser Austausch war sehr hilfreich und inspirierend und hat zum besseren Verständnis der Geschichte und ihrer Figuren erheblich beigetragen.

    Ein wunderbares Buch, das in einer poetischen Sprache eine berührende Geschichte erzählt.

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  1. Auf der Suche nach dem verlorenen Glück

    Edvard ist Anfang 60, als seine Mutter stirbt. Er lebte mit ihr zusammen und pflegte sie bis zum Ende. Versteckt im Schrank findet er ein auf seinen Namen ausgestelltes Sparbuch. Die über Jahre andauernden, unregelmäßigen Einzahlungen kamen aus Norwegen. Sofort stellt er einen Bezug zu seinem Vater her, der am Tag nach Edvards zehntem Geburtstag wegfuhr und niemals wiederkehrte. Laut Aussage der Mutter ist er tot. Die Mutter hatte ein dominierendes, einnehmendes Wesen, mit dem sie die Aufmerksamkeit des Sohnes für sich beanspruchte.
    „Die Frau ohne Mann und der Junge ohne Vater wurden zur verschworenen Gemeinschaft. Edvard wuchs buchstäblich über sich hinaus, erhob sich über die anderen Kinder im Ort und in der Schule. Wer von ihnen sorgte schon für seine Mutter?“ (S. 57)
    Da es Edvard nie gelang, sich von der Mutter zu emanzipieren, war die Beziehung zu seiner Jugendliebe Elvie zum Scheitern verurteilt – eine Tatsache, die ihn heute noch schmerzt, wie in vielen Erinnerungen verdeutlicht wird.

    Edvard will der Spur des Vaters folgen. Er bricht nach Norwegen auf. Auf der Reise begegnet er Alva. Die junge Frau ist Journalistin und in ihrem Leben noch nicht angekommen: Sie hat eine Beziehung mit ihrem Chef sowie eine kleine Tochter, deren Erziehung sie aber ständig überfordert, so dass das Kind oft bei seinem Vater oder der Oma sein muss. Alva fühlt sich zerrissen und sehnt sich nach einem beruflichen Durchbruch, der ihr eine Reportage über die magischen Orte Norwegens bescheren soll. „Mit den magischen Orten käme Ordnung in ihr Leben – Ordnung und Geld, und sie würden auch gemeinsam Urlaub machen können, wie alle es taten.“ (S. 46) Trotz all dieser Hoffnung wirkt Alva zerrissen: Immer hat sie Kopfhörer auf den Ohren, um in die Musik abtauchen zu können. Auch sehnt sie sich nach ihrer Tochter und hat doch Angst, ihr nicht zu genügen…

    In zahlreichen Rückblicken erfährt der Leser immer mehr über die Vergangenheit der beiden Protagonisten, die sie ihm näher bringen und ihr Verhalten erklärbar machen.
    Bereits auf der Fähre treffen die beiden einsamen und vom Leben verwundeten Seelen aufeinander. Zunächst ist Edvard derjenige, der Alva hilft. Später verkehren sich die Rollen und Alva unterstützt Edvard, der nach seinem überstürzten Aufbruch nun im fremden Land sehr hilflos wirkt. Ihre journalistischen Fähigkeiten kommen ihm bei der Suche nach seinem Vater zu Gute. Sie mieten ein Auto und fahren los. Auf dem Weg durch Norwegen besuchen sie auch die magischen Orte, deren beruhigende Atmosphäre Alva ein Stückweit zu sich selbst führt. Im Grunde sind sie beide auf der Suche. Die Reise mit der ungeplanten Begleitung eröffnet ihnen neue Perspektiven, bleibt aber nicht immer konfliktfrei. An der Annäherung der beiden ungleichen Menschen teilzuhaben, ist ein intensives Lesevergnügen.

    Alexander Häusser hat ein unglaublich sicheres stilistisches Sprachempfinden. Seine Figuren sind mehrdimensional, haben Ecken und Kanten. Seine Geschichte findet nicht auf der Oberfläche statt, sondern in der Tiefe. Jeder Satz hat Bedeutung, jedes Wort ist bewusst gesetzt, wodurch Empfindungen, Erinnerungen, Szenen und Dialoge sehr glaubwürdig und empathisch rüberkommen. Die Figuren erzeugen Nähe, ohne auch nur im geringsten kitschig zu sein.

    Der aufmerksame Leser wird belohnt: viele Zusammenhänge erschließen sich im Verlauf der Lektüre, das Buch ist eine Fundgrube schöner Sätze, stimmiger Metaphern und Formulierungen. Die Sprache ist ruhig, eindringlich und poetisch, auch Dialogwitz findet sich. Der Autor liebt offensichtlich Norwegen und seine faszinierenden Landschaften mit Fjorden, Seen und Bergen. Spürbar wird das während des gesamten Romans und in Sätzen wie diesem: „Der Wind kämmte die Gräser seidig. Sie fuhren an grün leuchtenden Berghängen vorbei, am Himmel entlang, im Granit eingeschnitten auf endlosen Serpentinen immer höher hinauf, immer weiter, ohne Zeit, mit aller Zeit.“ (S. 179)
    Die Zeit steht nicht nur im Titel, sondern ist eines der fortlaufenden Motive des Romans. Neben Edvard und Alva lernt man auch viel über Norwegens Vergangenheit kennen. Das Ende des Romans rundet die Geschichte glaubwürdig ab. Nicht alles wird auserzählt, aber die beiden Hauptfiguren haben zum Glück „Noch alle Zeit“, um ihrem Leben eine neue Richtung zu geben.

    Ich habe diesen Roman zweimal innerhalb eines Jahres genossen - einfach weil er mich so begeistert hat. Er ist ein Buch, bei dem man mit jeder Lektüre noch etwas mehr entdeckt und der sich in die überschaubare Reihe meiner absoluten Lieblingsbücher einreihen darf. „Noch alle Zeit“ eignet sich bestens für Diskussionsrunden und Lesekreise.

    Unbedingte Leseempfehlung!

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  1. Die Geschichte von Edvard und Alva

    Hier treffen zwei Charaktere aufeinander, die unterschiedlicher nicht sein könnten.

    Edvard hat sich sein Leben lang aufopferungsvoll um seine Mutter gekümmert. Der Vater hat die Familie verlassen als Edvard etwa 10 Jahre alt war. Die Mutter ließ Edvard glauben, dass der Vater gestorben sei. Sie drängt Edvard früh in die Rolle des Kümmerers und Edvard übernahm diese Rolle nur allzu bereitwillig. Schon als Kind verantwortet er einen Großteil des Haushalts und sorgt für seine Mutter. Als seine Mutter erkrankt, pflegt er sie, viele Jahre, fast sein ganzes Leben, bis zu ihrem Tod. Auf sein persönliches Glück mit seiner Jugendliebe Elsie verzichtet Edvard und gibt der Sorge um seine Mutter den Vorrang. Nach dem Tod der Mutter findet er dann ein altes Sparbuch, das viele Fragen aufwirft. Von wem stammen die Einzahlungen und warum hat die Mutter die Existenz des Sparbuchs und des Geldes vor Edvard verschwiegen? Mit Elsies Hilfe startet Edvard eine Suche und reist dorthin, wo die Einzahlungen getätigt wurden. Seine Reise führt ihn nach Norwegen.

    Ebenfalls auf dem Weg nach Norwegen ist Alva. Alva ist eine junge, alleinerziehende Mutter, Journalistin und die Geliebte ihres Chefs. Sie versucht, allem gerecht zu werden, fühlt sich dabei aber zunehmend aufgerieben und überfordert. Daher flüchtet sie sich in ihre Musik und merkt nicht, dass sie sich dabei auch von den Menschen entfernt, die ihr eigentlich wichtig sind. Die Reise nach Norwegen soll der Recherche für eine Serie über magische Orte dienen und ihr dazu verhelfen, endlich eine Festanstellung als Journalistin zu bekommen. Die Reise wird ihr aber auch die Augen öffnen, was sie wirklich braucht.

    Edvard und Alva treffen auf der Fähre nach Norwegen aufeinander und stellen fest, dass sie sich wunderbar ergänzen und einander viel zu geben haben. Sie setzen deshalb ihre Reise gemeinsam fort und verhelfen sich gegenseitig zu Aus- und Einblicken, die ihnen wohl sonst verborgen geblieben wären.

    Nachdem ich anfangs aufgrund des Sparbuch-Aufhängers ein bisschen skeptisch war, nahm mich der Roman dann sehr schnell gefangen. Sehr einfühlsam und mit liebevollem Blick für Details werden Edvard und Alva zum Leben erweckt. Als Leserin habe ich zwar nicht jede ihrer Entscheidungen und Handlungen für gut befunden, aber ich habe sie immer als lebensecht empfunden und nachvollziehen können. Ein Sahnehäubchen für mich waren zudem die Ausflüge in die norwegische Natur und Geschichte. Daher vergebe ich gern fünf Sterne!

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  1. 5
    24. Jan 2021 

    Feinfühlige Charakterstudie und Spurensuche

    Am Tag nach Edvards 10. Geburtstag war sein Vater, ein Trödelhändler, wie gewohnt zu einer seiner Geschäftsreisen aufgebrochen, aber dieses Mal nicht zurückgekehrt. Er sei tot, hatte die Mutter gesagt und ab diesem Zeitpunkt war Edvard der Mann im Haus.
    „Ich habe nur noch dich“, mit diesen Worten hatte die Mutter den Sohn an sich gekettet und so wurden „ die Frau ohne Mann und der Junge ohne Vater ... zu einer verschworenen Gemeinschaft.“
    Auch später, als Edvard sich in Elsie, ein Mädchen aus dem Dorf, verliebte, konnte er sich nicht von seiner Mutter lösen. Daran ist letztlich die Beziehung zu Elsie zerbrochen.
    Nach dem Tod der Mutter stößt der über 60jährige Edvard auf ein Sparbuch, auf das Jahrzehnte lang von Norwegen aus Geld eingezahlt wurde. Warum hat die Mutter die Existenz des Geldes verschwiegen, Geld, das sie notwendig hätten brauchen können? Ist der Vater womöglich garnicht gestorben, sondern lebt in Norwegen?
    Kurz entschlossen hebt Edvard das ganze Geld ab und macht sich auf den Weg nach Oslo, um seinen Vater zu suchen. Mit im Gepäck hat er zwei alte Photos; eines zeigt seinen Vater in Wehrmachtsuniform, das andere ist das Bild einer jungen Frau.
    Auf dieser Reise begegnet Edvard Alva, eine Frau Anfang Dreißig. Sie ist freiberufliche Journalistin und zu Recherchezwecken unterwegs, auf der Suche nach magischen Orten.
    Auch Alva schleppt einen Packen an Problemen mit sich. Ihr Job ist schlecht bezahlt und reicht kaum für das Notwendigste. In ihrer Rolle als Mutter fühlt sie sich völlig überfordert. Vom Vater der 5jährigen Tochter lebt sie getrennt. Schon als Kind begreift sie sich als ungeliebt und zurückgesetzt. Zwischen sich und ihrer Umwelt gibt es eine Scheibe, die sie von allen trennt.
    Diese beiden so ungleichen Menschen treffen aufeinander und werden, nach diversen Schwierigkeiten und Missverständnissen, die Reise gemeinsam fortsetzen.
    Edvard sieht sich in der Vaterrolle verantwortlich für die unberechenbare, junge Frau und Alva kann ihre Qualitäten als Journalistin einsetzen. Sie weiß, wie und wo man suchen muss, um Näheres über Edvards Vater herauszufinden. Die alten Photos verweisen in die Vergangenheit, die deutsche und die norwegische, die miteinander verbunden war.
    Am Ende sind nicht alle Rätsel gelöst, nicht alle Fragen beantwortet. Doch Edvard und Alva kehren verändert von dieser Reise zurück. Edvard kann seinen Frieden machen mit der Vergangenheit, mit seinen Eltern und muss erkennen, dass er selbst Schuld trägt an seinem ungelebten Leben. „ Er hätte ein eigenes Leben haben können. ... Vielleicht war es nur Angst gewesen. Aber man kann auch tun, wovor man Angst hat. Es muss ja nicht leicht sein.“
    Und Alva kann sich annehmen, so wie sie ist. „ Und sie dachte: ich muss nicht mehr suchen, was ich brauche. Ich brauche mich.“
    Der melancholische Grundton vom Anfang tritt zurück und der Autor entlässt den Leser mit einem Hoffnungsschimmer, denn beide Figuren haben
    „ noch alle Zeit“ der Welt, um ihr Leben neu zu justieren.
    Alexander Häusser entwickelt seine Geschichte anfangs in zwei parallelen Handlungssträngen, bis beide zusammenlaufen. Er erzählt chronologisch, aber in die Geschehnisse eingebettet sind zahlreiche Rückblenden, Erinnerungen und Reflexionen. Das ist alles äußerst kunstvoll miteinander verwoben. Immer wieder gibt es auch kleine, scheinbar nebensächliche Szenen, die in ihrer Parallelität auf die Veränderungen der Protagonisten hinweisen.
    Dabei geht der Autor sehr bewusst mit Sprache um. Da passt jedes Wort, der Rhythmus der Sätze. Für die Natur und die Seelenzustände der Figuren findet er stimmige und ungewöhnliche Bilder und Metaphern. ( So z.B. werden Assoziationen ausgelöst von den Pflanzen auf dem Grab der Mutter zu ihrem Gesicht. „ Winterhart. Er sah ihr Gesicht, ihre Lippen, die in den Jahren so dünn geworden waren und ganz ohne Farbe, als hätten sie sich zurückgezogen, kapituliert vor all dem Ungesagten,...“)
    Im zentralen Teil der Geschichte bildet die beeindruckende Landschaft Norwegens die Kulisse. Auch die Sagen- und Mythenwelt sowie die leidvolle Geschichte des Landes fließen in das Buch ein.
    Es geht im Roman um das komplexe Beziehungsgeflecht von Eltern und Kinder, es geht um die Sprachlosigkeit und das Schweigen in Familien, um ungelebtes Leben und um die Liebe und den Preis, den man oft dafür zahlen muss.
    „ Wer braucht denn Gründe für die Liebe? Liebe braucht kein „ weil“, sondern ein „trotzdem!“
    „ Noch alle Zeit“ ist ein feinfühlig und ruhig erzählter Roman auf hohem literarischen Niveau, mit Charakteren, die lange im Gedächtnis bleiben. Es ist eines der Bücher, die man langsam genießen muss und mit Gewinn ein zweites Mal lesen kann.
    Es hat es in die Reihe meiner Lieblingsbücher geschafft.

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  1. Zusammen ist man weniger allein

    Der Zufall führt die beiden sehr unterschiedlichen Protagonisten des Romans 2019 auf einer Fähre von Dänemark nach Oslo zusammen. Der gut 60-jährige Edvard hat nach dem Tod seiner Mutter Hinweise gefunden, dass sein 1967 an seinem zehnten Geburtstag plötzlich verschwundene Vater Oskar Mellmann nicht tot war, wie seine Mutter Helene ihn glauben machte. Die Spur führt nach Norwegen, wo Oskar, wie er gern erzählte, im Zweiten Weltkrieg als Pilot stationiert war. Erschüttert und voller Wut über das Schweigen der Mutter macht sich Edvard, der nichts als sein Dorf hinter dem Elbdeich kennt, auf die Suche nach der Wahrheit.

    Die 30-jährige Berlinerin Alva dagegen ist auf der Flucht vor sich selbst und den Erwartungen an sie. Immer „anders“ als alle anderen, wie durch eine „Scheibe“ vom Leben getrennt und nie von ihrer Mutter angenommen, kann sie ihre eigene Mutterrolle nicht ausfüllen. Sie ist auf der Suche nach sich selbst, auch wenn der vordergründige Anlass der Reise Recherchen für eine Fernsehreportage über magische Orte sind:

    "Mit den magischen Orten käme Ordnung in ihr Leben – Ordnung und Geld […]. Das war es doch, was ihre Mutter immer von ihr wollte: dass sie wie alle anderen sei." (S. 46) 

    Edvard wie Alva sehnen sich nach Halt, Angenommensein, Liebe und einem erfüllten Leben.

    Vom Dunkeln ins Helle
    Zunächst hatte ich Sorge, dass Edvard, dem die Mutter seit dem Verschwinden des Vaters kein eigenes Leben und kaum Luft zum Atmen ließ, der nie die Kraft zur Befreiung aus ihrer Umklammerung aufbrachte, und der seine große Liebe Elsie aus Pflichtbewusstsein seiner Mutter gegenüber verlor, bei Alva in erprobte Muster fallen und zum „Kümmerer“ würde. Doch im Gegenteil finden beide einen Weg, ihre Projekte zu verbinden und sich gegenseitig zu stützen:

    "Er öffnete die Augen, sie strich ihm übers Haar und begriff, dass man den anderen auch trösten kann, wenn einem selbst genau so kalt war." (S. 214)

    Bei Edvard kehren immer mehr verschüttet geglaubte Erinnerungen zurück und vor allem Alva wächst über sich hinaus:

    "Es durfte keine Rolle spielen, was sie brauchte, wenn sie gebraucht wurde." (S. 249)

    Es bedarf nicht immer der ganzen Wahrheit
    Die Reise durch die fantastische Landschaft Norwegens von Oslo über den Wasserfall Sputrefossen nach Tromsø, mit der Fähre nach Honningsvåg, nach Kirkeporten, dem Felsen des Nordkaps und Opferstätte der Sami, und auf die vor Bergen liegende Insel Herdla, im Zweiten Weltkrieg Stützpunkt der deutschen Luftwaffe, wird für beide zum Wendepunkt, von dem aus sie verändert heimkehren:

    "Das Leben verändert sich nicht an einem Tag. Doch eines Tages weiß man, dass es sich verändert hat." (S. 216)

    Unbedingt lesenswert
    Acht Jahre lang hat der 1960 geborene Autor Alexander Häusser an seinem vierten, von eigenen biografischen Ereignissen beeinflussten Roman "Noch alle Zeit" gearbeitet und dafür spürbar gründlich recherchiert. Historischer Hintergrund und Einzelschicksal sind hervorragend verbunden, die Handlung spannend, ruhig und feinfühlig erzählt, die stimmigen Bilder, Metaphern und Motive lohnen ein gründliches Lesen und Wiederlesen. Haupt- und Nebenfiguren sind glaubhaft und mehrdimensional, so dass ich mehrfach vorschnelle Urteile revidieren musste, jedes Schicksal berührt, jedoch völlig ohne Kitsch. Besonders gut gefallen hat mir das Ende mit der perfekten Balance zwischen Auserzählen und Offenlassen.

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