Niemand verschwindet einfach so: Roman

Buchseite und Rezensionen zu 'Niemand verschwindet einfach so: Roman' von Catherine Lacey
3.5
3.5 von 5 (2 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Niemand verschwindet einfach so: Roman"

2017 Festeinband 22 cm Berlin 266 Seiten [Neuwertig und ungelesen, als Geschenk geeignet 810 Englische Literatur Amerikas ]

Format:Gebundene Ausgabe
Seiten:256
Verlag: Aufbau Verlag
EAN:9783351036805

Rezensionen zu "Niemand verschwindet einfach so: Roman"

  1. Aber ich weiß, dass meine Dunkelheit dunkler ist

    "Niemand verschwindet einfach so" ist eines dieser unbequemen Bücher, die es dem Leser nicht leicht machen, sondern ihn herausfordern und dadurch sicher auch polarisieren.

    Dabei ist die Geschichte weder brutal, noch schockierend oder auch nur polemisch. Tatsächlich passiert auf den ersten Blick viel, auf den zweiten erstaunlich wenig und auf den dritten dann wieder ganz viel – wenn man es denn zulässt.

    Eine junge Frau bringt sich um. Ihre Schwester heiratet den Mann, der es ihr möglich macht, darüber zu weinen, und verlässt ihn letztendlich wieder, als das nicht ausreicht. Sie reist durch die halbe Welt, trampt, schläft in fremder Leute Schuppen, quartiert sich bei Menschen ein, die sie nicht kennt und die ihr auch nichts bedeuten. Und dabei wird sie nicht überfallen, es entspinnt sich keine hollywoodreife Liebesgeschichte, niemand kämpft heldenhaft gegen den Krebs, und überhaupt erstreckt sich die Handlung zwar über mehrere Länder, spielt sich aber streng genommen doch hauptsächlich im Kopf der Protagonistin ab.

    Denn Elyria denkt. Und denkt. Und denkt. Und dort, in ihren Gedanken, verbirgt sich das wilde Biest, das kratzt, beißt und sticht. Im Verborgenen. Im Geheimen. In verqueren Bildern, in merkwürdigen Formulierungen, in ihrer Wahrnehmung der Welt als ein Grab aus Schatten. In endlosen Schachtelsätzen, die sich wieder und wieder im Kreise drehen.

    Die Sprache ist brillant, wird aber nicht jeden Leser überzeugen: eine literarische Stimme, die aufhorchen lässt, weil sie in ihrer Wucht so unverfroren anders ist und zugleich eine ungeheure Zerbrechlichkeit ausstrahlt, eine Art bodenlosen Weltschmerz. Anstrengend, ja, manchmal ein wenig zu bemüht, aber lohnend.

    Zitat:
    Wir haben alle etwas Dunkles in uns, würdest du sagen; aber ich weiß, dass meine Dunkelheit dunkler ist und dass sich eine Horde tollwütiger Biester darin verbirgt, ich bin nicht wie du, Ehemann, in meiner Dunkelheit gibt es keinen Lichtschalter, meine Dunkelheit ist eine Savanne in mondloser, sternloser Nacht, und alle meine wilden Biester rennen in vollem Tempo blind drauflos, aber das könnte ich beim besten Willen nicht zu dir sagen, denn wir haben im Grunde jahrelang nicht miteinander gesprochen, und deshalb habe ich eine Distanz aus Raum und Zeit zwischen uns geschaffen, damit unser Schweigen einen Sinn ergibt.

    Aber was bedeutet das alles? Wen oder was verkörpert das Biest? Elyrias Depressionen, ihren Zorn auf die Eltern, ihre Unfähigkeit, mit anderen Menschen gesunde Beziehungen einzugehen? Die Trauer um ihre Schwester? Jedenfalls keine nach außen gerichtete Aggression, auch wenn sich Elyria selber misstraut, was das betrifft. Verliert sie den Verstand?

    Einfache Lösungen gibt es hier nicht. Elyria wird ohne Betriebsanleitung geliefert – oder vielleicht ist die auch nur in einer Sprache geschrieben, die Elyria selber nicht versteht.

    Und das ist in meinen Augen auch vollkommen in Ordnung.

    Die Geschichte hat einen unglaublichen Tiefgang, und ein erzwungenes Ende, das alles zu Tode erklärt, würde ihren Sog vielleicht sogar zerstören. Ob man das Buch liebt oder hasst, hängt meines Erachtens zumindest zu einem großen Teil davon ab, inwieweit man sich einlassen kann auf Elyrias inneren Monolog, ohne Erklärungen zu erwarten. Und sie macht es dem Leser nicht einfach: sie trifft falsche Entscheidungen, sie erwartet zu viel von Fremden und zu wenig von sich selbst, aber sie ist auf ihre kompromisslose Art echt und authentisch und durchaus liebenswert. Die anderen Charaktere bleiben schwer greifbar, weil Elyria unfähig ist, wirklich auf sie zuzugehen.

    Fazit:

    Eine Frau will verschwinden. Vielleicht. Möglicherweise will sie sich auch selber finden oder ist auf der Flucht vor ihrem inneren Biest. So genau wissen das weder sie noch der Leser, jedenfalls reist sie durch die halbe Welt und kommt doch nirgendwo so richtig an.

    Kann ein Buch originell sein, das sich auf die klaustrophobisch beengte Gefühlswelt seiner Protagonistin beschränkt und dabei keine Lösungen bietet?

    Für mich zeigt Catherine Lacey ihr Talent gerade dadurch, dass sie innerhalb dieser engen Grenzen eine Geschichte erzählt, die ohne Rührseligkeit berührt und bewegt – dass sie Spannung aufbaut, obwohl diese Geschichte kein bestimmtes Ziel anstrebt. Ich konnte mich Elyria und ihrer düsteren Gedankenwelt nicht entziehen.

    Teilen
  1. 2
    28. Sep 2017 

    Depressive Selbstreflexion ohne Ende

    "Sie haben ihren Bachelor am Barnard College gemacht. Sie waren fünf Jahre als Autorin bei CBS angestellt. Sie haben vor sechs Jahren Charles Riley geheiratet ... Sie haben keine Schulden. Sie haben Ihre Steuererklärung immer rechtzeitig eingereicht. Sie haben keine verschreibungspfllichtigen Medikamente genommen, bevor Sie die Staaten verließen. Sie wohnten an der Upper West Side von Manhattan, in einem Haus, das der Columbia Universität gehört, wo Ihr Mann vor einem Jahr eine Festanstellung als Assistenzprofessor an der mathematischen Fakultät bekommen hat." Das ist das Leben von Elyria, die eines Tages ohne Ankündigung nach Neuseeland fliegt ohne jemanden zu informieren. Es ist ihr selbst nicht richtig klar, was der Grund für diesen Entschluss war, doch es muss etwas mit diesem Biest in ihr zu tun haben: " Natürlich würdest du (der Ehemann) sagen: 'Das stimmt nicht, du bist kein wildes Biest' und würdest mich zu trösten versuchen: 'Wir haben alle etwas Dunkles in uns', würdest du sagen; aber ich weiß, dass meine Dunkelheit dunkler ist und dass sich eine Horde tollwütiger wilder Biester darin verbirgt, ich bin nicht wie du, Ehemann, in meiner Dunkelheit gibt es keinen Lichtschalter, meine Dunkelheit ist eine Savanne in mondloser, sternloser Nacht, und alle meine wilden Biester rennen in vollem Tempo blind drauflos, aber das könnte ich beim besten Willen nicht zu dir sagen, denn wir haben im Grunde jahrelang nicht miteinander gesprochen, und deshalb habe ich eine Distanz aus Raum und Zeit zwischen uns geschaffen, damit unser Schweigen einen Sinn ergibt." Was dieses bzw. diese wilden Biester genau ausmacht, ist nur andeutungsweise zu erahnen, ebenso wie die Ursache für deren Existenz. Unverkennbar hängt es mit ihrer Familie zusammen, dem Tod ihrer Schwester und dem Alkoholismus ihrer Mutter, doch nichts wird so erzählt, dass man eindeutig Ursache und Wirkung erkennen könnte. Alles, ihre Vergangenheit und ihre Gegenwart befinden sich in einer Art schwebender Zustand und sobald jemand versucht, Elyria in die Gegenwart zu bringen, ergreift sie die Flucht und zieht weiter.
    Ja, Catherine Lacey kann schreiben, sie bringt beeindruckende Bilder und Vergleiche in endlos langen Sätzen (teilweise über eine Seite) zu Papier, die allerdings immer nur um ein Thema kreisen: Elyria und die Suche nach ihrem Ich, ihren Gefühlen. Bei jedem äußeren Eindruck von außen entstehen Gedanken, die vom Hölzchen auf's Stöckchen kommen: "Ich lief ... hinter einem großen, kompaktem Mann her, der ausschritt, als wäre er der Präsident eines Landes namens Leben, und mir war, als wäre ich in Sicherheit, wenn ich irgendwie mit ihm zusammenhinge, also folgte ich ihm, ..., folgte ihm wie Entenjungen allem folgen, was sie anführt, egal, ob es ein Alligator, eine kleine Ziege oder eine elektrische Spielzeugkatze ist." Leider gibt es bei Elyria keine Entwicklung, weder zum Guten noch zum Schlechten, und so entspricht das Lesen größtenteils dem Folgen der recht wirren und depressiven Gedanken der Protagonistin. Was ich sehr bedauerlich finde, denn irgendwann las ich nur noch quer, was aber dazu führt, dass man wirklich gute Sätze nicht immer wahrnimmt (was ich beim nochmaligen Durchblättern feststellte - das ist auch das Gute am Rezensionen schreiben ;-)).
    Eine Autorin mit Potential, aber dieses Buch muss man nicht gelesen haben.

    Teilen