Niemand ist bei den Kälbern

Buchseite und Rezensionen zu 'Niemand ist bei den Kälbern' von Alina Herbing
4.5
4.5 von 5 (2 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Niemand ist bei den Kälbern"

Format:Gebundene Ausgabe
Seiten:224
Verlag: Arche
EAN:9783716027622

Rezensionen zu "Niemand ist bei den Kälbern"

  1. 5
    20. Feb 2017 

    Idyllisches Landleben? Nicht in diesem Buch!

    Das Landleben hat Konjunktur. Zahllose Zeitschriften schießen wie Pilze aus dem Boden und lobpreisen das idyllische und naturnahe Leben fern der Großstadt; viele träumen von einem Zuhause weit weg von Hektik und Autolärm. Dass das Leben fern von jeglichem Trubel aber auch ganz anders aussehen kann, zeigt die junge Autorin Alina Herbing sehr überzeugend in ihrem ersten Buch.
    Christin ist die Hauptperson, Mitte 20, die im Nordwesten Mecklenburg-Vorpommerns aufgewachsen und nie von dort weggekommen ist. Man erlebt ihre Welt aus ihrer Perspektive und die ist sehr häufig alles andere als erfreulich. Seit kurzem lebt sie mit ihrem Freund zusammen, der einen Milchviehbetrieb gemeinsam mit seinem Vater führt, der nicht sehr erfreut ist über die Wahl seines Sohnes. Denn Christin interessiert sich weder für die Kühe noch mag sie die Hofarbeit. Am liebsten würde sie in der Stadt einen Bürojob haben, Mittags einen Cappucchino trinken und abends in einem schönen Kleid ausgehen. Doch in Schattin, wo sie lebt, ist das undenkbar. Man könnte Mitleid mit dieser jungen Frau haben, wenn, ja wenn sie nicht so unglaublich gefühlsarm und verantwortungslos wirken würde, sich aber gleichzeitig ohne Protest erniedrigen lässt. Sie lügt, betrügt, trinkt viel zu viel, wird geschlagen und überwacht - und es wird bald deutlich, dass dies nichts Ungewöhnliches ist.
    Nach dem ersten Drittel war ich sicher, dass Christin eine völlig unsympathische Person ist, während ich die Darstellung des sonstigen Landlebens und seiner BewohnerInnen etwas überzogen fand. Doch ich musste meine Meinung revidieren. Denn nach und nach kamen Einzelheiten zum Vorschein, so beiläufig wie Nebensächlichkeiten, die in einem halbwegs intakten sozialen Umfeld für tagelangen Gesprächsstoff und Handlungsbedarf sorgen würden. Von Christins SchulfreundInnen sind bereits drei gestorben, Alkoholmissbrauch ist eine Selbstverständlichkeit, auf kriminelle Energien ist man stolz usw. Je länger ich durch ihre Augen in diese Welt blickte, umso mehr begann ich ihre Handlungsweisen zu verstehen, auch wenn ich sie bestimmt nicht gutheißen konnte. Die Autorin schildert Christins Erleben so überzeugend authentisch, dass man wirklich mit ihr lebt und leidet - teils auch voller Abneigung.
    Es ist ein tolles, ein schreckliches Buch, das uns eine Welt zeigt, die es hier, bei uns, auch gibt. Und sie ist gar nicht so weit entfernt, obwohl sie nur sehr selten wahrgenommen wird, wenn überhaupt. Danke für diesen Einblick! Und ich warte gespannt auf das nächste Buch dieser tollen Autorin!

    Teilen
  1. Auf der Suche nach einem besseren Leben

    „Niemand ist bei den Kälbern“ ist ein Buch, das mich auch nach der Lektüre noch lange beschäftigt, sogar verstört hat. Hier hat die Autorin einen Nerv getroffen und das ist für mich ein Zeichen, dass Literatur auch immer eine gesellschaftliche Relevanz hat.

    Die Autorin erzählt vom Landleben, aber kein Idyll, wie es so gern verklärt von Zeitschriften und Büchern dargestellt wird, sondern harte ungeschminkte Realität. In einer Region, die von Landflucht, Verarmung und fehlender Infrastruktur geplagt wird, lebt Christin auf dem Milchhof von Jan und seinen Eltern in Mecklenburg-Vorpommern. Die Lebensumstände sind hart, niedrige Milchpreise, fehlende Perspektiven, tagtäglich ein Lebenskampf. Die Beziehung zu Jan ist geprägt von Lieblosigkeit und Misstrauen, sie bleibt dort, weil sie einfach keine andere Möglichkeit für sich sieht. Christin träumt von einem anderen Leben, aber antriebslos lässt sie sich treiben und wartet. Ihre innere Zerrissenheit ist schmerzhaft spürbar.

    Es gibt kaum Figuren mit Empathie in diesem Buch, grade das macht die Lektüre so intensiv. Es zwingt mich dazu, mich mit Menschen auseinanderzusetzen, die so in meiner Lebenswirklichkeit nicht vorkommen. Alkoholmissbrauch, akzeptierte Kriminalität und das Fehlen von moralischen Leitlinien ist ein Ausdruck des Gefühls, abgehängt zu sein von einer lebenswerten Zukunft.

    Die Hauptfigur, Christin, wurde mir im Lauf der Lektüre immer unsympathischer, erstaunlich, dass eine „Papierfigur“ diese Reaktion auslöste, für mich aber auch ein Beweis, wie gelungen Alina Herbing sie darstellte und wie genau sie beobachtet.

    Das ist keine ländliche Idylle, das eine harte, raue Wirklichkeit, die in Sprache und Stil adäquat umgesetzt wurde.

    Teilen