Nebel: Roman

Rezensionen zu "Nebel: Roman"

  1. Tragische Komödie oder komische Tragödie?

    Miguel de Unamuno (1864 – 1936) war Philosoph, Dichter, Romancier und Dramatiker. Er zählt zu den großen Schriftstellern Spaniens. Der Roman „Nebel“ erschien im Original 1915, wurde 1927 ins Deutsche übersetzt und 1935 vom Autor erneut überarbeitet. Es ist lobenswert, dass der Weidle Verlag den hierzulande vergriffenen Klassiker anlässlich der Frankfurter Buchmesse 2022 (mit ihrem Gastland Spanien) in attraktiver Aufmachung neu aufgelegt hat. Die hervorragende Übersetzung von Otto Buek wurde in diesem Rahmen gleichfalls revidiert.
    Dem Roman werden zwei Vorworte sowie ein Nach-Vorwort vorangestellt. Das informative Nachwort, das Autor und Werk beleuchtet, stammt vom österreichischen Schriftsteller Wilhelm Muster aus dem Jahr 1988. Interessant: eines der Vorworte wurde von der Romanfigur Victor Goti abgefasst, der ein treuer Freund und Ratgeber des Protagonisten ist. Goti spricht dort bereits „von der traurigen Geschichte seines Freundes Augusto Perèz und seines geheimnisvollen Todes“. Sehr schnell spürt man, dass der Roman eine besondere Form hat und dass Überraschungen auf den Leser warten.

    Protagonist Augusto ist ein reicher Müßiggänger. Seit seine Mutter starb, lebt er allein mit seinen ihn umsorgenden beiden Dienstboten. Als er eines Tages vor die Tür tritt und nicht weiß, welche Richtung er einschlagen soll, begegnet ihm die Klavierlehrerin Eugenia, in die er sich sofort verliebt. Er verfolgt sie zu ihrer Wohnung, sucht hartnäckig ihre Bekanntschaft. Es stellt sich heraus, dass die Dame bei Onkel und Tante lebt, ziemlich mittellos ist und bereits mit dem bindungsscheuen Tunichtgut Maurizio verlobt ist. Letzteres ist natürlich für den entflammten Augusto kein Hinderungsgrund. Im Gegenteil, er nimmt den Kampf um die Liebe Eugenias auf. Augusto stilisiert sie zur Liebe seines Lebens, erhöht ihren Charakter sowie ihre Schönheit. Seine Gedanken beschäftigen sich neben der Liebe mit den großen Themen der Menschheit, die er wortreich, teils lustig, teils schwülstig oder tiefsinnig auszuschmücken vermag. Der „Nebel seines Lebens“ ist dabei ein wiederkehrendes Motiv, um seine Gefühle auszudrücken. Eugenia hat indessen ihre völlig eigenen Ziele, Augusto scheint nicht der Märchenprinz zu sein, auf den sie gewartet hat…

    Im Zuge der Geschichte ergeben sich verschiedene Wendungen. Die Figuren verhalten sich selten so, wie man es erwarten würde, weil sie über groteske Ambivalenzen verfügen: Eugenia verdient zwar mit dem Klavierunterricht Geld, hasst aber die Musik. Ihr Onkel bezeichnet sich als Anarchist, will die Nichte aber schnell verheiratet wissen. Augusto ist angeblich unsterblich in Eugenia verliebt, lässt sich aber laufend von anderen Frauen in Versuchung führen. Er ist ein unsicherer Freigeist, der in Don Quichotte seinen geistigen Bruder sieht…
    Der Roman lebt durch diese reizvollen Figurenzeichnungen. Die unzähligen lebhaften, pointierten Dialoge haben sowohl Witz als auch Tiefe. Man spürt Augustos Einsamkeit, seine Sehnsucht nach Zugehörigkeit und Glück. Er stellt sich in Liebesdingen aber ungeschickt an, braucht viel Hilfestellung aus seinem Umfeld. Dabei berät er sich nicht nur mit dem erfahrenen Dienstbotenehepaar, auch seine Freunde Avito und Victor stehen ihm mit Ratschlägen zur Seite. Im Bestreben, den Rat seiner Freunde auszuführen, verheddert er sich in seinen eigenen Gefühlen oder sendet verwirrende Signale nach außen aus. Beste Voraussetzungen für eine amüsante Komödie. Doch die Verwicklungen führen verstärkt zu tragischen Entwicklungen, die an das Mitgefühl des Lesers appellieren.

    Besonders faszinierend empfand ich es, wie sich der Autor selbst Zugang zu seinem Roman verschafft. Er lässt Victor mit Augusto über eine neue Textgattung, die sogenannte Nivola, diskutieren, die sich „durch Gespräche in kurzen, knappen Sätzen, geistreiche Monologe und ungewöhnliche Perspektiven auszeichnen soll“ (vgl. S. 247). Kurz: Die Nivola ist demnach genau das, was den Roman „Nebel“ charakterisiert. Gegen Ende geraten Autor und Protagonist sogar direkt in einen existentiellen Konflikt über den Ausgang der Handlung – welch eine außergewöhnliche Idee!

    „Nebel“ ist ein kurzweiliges Lesevergnügen mit einem tragischen, gutmütigen Helden. Man kann sich den Roman wunderbar als Drama vorstellen. Die kantigen, facettenreichen Figuren stehen zweifellos im Mittelpunkt des Geschehens. Unamuno liebt es zu formulieren und zu fabulieren. Er legt seine fantasievollen Einfälle den Figuren direkt in den Mund. Es geht im Kern natürlich um die Frage: Kriegen sie sich oder kriegen sie sich nicht? Darum herum werden aber auch allerlei weitere Themen behandelt, die viel Menschenkenntnis und Beobachtungsgabe beweisen. Die Figuren disputieren unter anderem über Ehe, Liebe, Alter, Gott und Tod. Sie fachsimpeln über Philosophisches und Menschliches und entwickeln eine sehr eigene Dynamik dabei. Am Ende fließen Realität und Fiktion ineinander, so dass es dem Autor gelingt, einen wirklich ungewöhnlichen Abschluss für seinen Roman zu finden.

    Ich habe das Buch sehr gern gelesen. Die Grundgeschichte erscheint zwar nicht neu und natürlich halten die weiblichen Figuren einer kritischen Überprüfung des 21. Jahrhunderts nicht stand. Miguel de Unamuno ist es aber an vielen Stellen gelungen, meine Erwartungshaltung zu durchbrechen und mich zu überraschen. Sein Spiel mit der Sprache kann man als virtuos bezeichnen. Er lässt immer wieder Lebensklugheit und Weisheit in seinen Text einfließen, über die es sich nachzudenken lohnt. Leseempfehlung für alle Freunde klassischer Literatur!

    4,5/5 Sterne

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