Nachttiger: Roman

Buchseite und Rezensionen zu 'Nachttiger: Roman' von Yangsze Choo
5
5 von 5 (1 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Nachttiger: Roman"

Britisch-Malaya in den 1930er-Jahren. Zwischen Dschungel und Kolonialvillen lauert eine tödliche Gefahr … Der chinesische Houseboy Ren ist in geheimem Auftrag unterwegs: Er soll den amputierten Finger seines Herrn finden, um ihn mit dem Toten zu bestatten. Nur so kann dessen Seele Ruhe finden. Neunundvierzig Tage bleiben Ren für seine Mission, die ihn zu einem britischen Arzt und zu der Tänzerin Ji Lin führt. Doch die Suche ist gefährlich: Ren und Ji Lin geraten in eine Welt von Aberglaube, Liebe und Verrat. Und in eine Serie mysteriöser Todesfälle …

Autor:
Format:Gebundene Ausgabe
Seiten:576
Verlag: Wunderraum
EAN:9783336548071

Rezensionen zu "Nachttiger: Roman"

  1. 5
    29. Jan 2020 

    ein modernes und exotisches Märchen

    "Ein Tiger. Gelegentlich brachten die Zeitungen grausige Berichte von Menschen, die von Pythons erwürgt, Krokodilen gefressen oder Elefanten totgetrampelt worden waren. Aber ein Tiger war etwas anderes. Vor Tigern musste man besonderen Respekt haben. Wenn man sich in den Dschungel begab, musste man die Tiger mit Zaubersprüchen besänftigen. Es hieß, dass ein Tiger, der zu viele Menschen verschlungen hatte, in der Lage sei, menschliche Gestalt anzunehmen und sich unerkannt unter uns zu mischen."

    Der Roman "Nachttiger" der Malayin Yangsze Choo führt uns nach British Malaya, dem heutigen Malaysia der 1930er Jahre. Malaysia war zu diesem Zeitpunkt eine Kolonie Großbritanniens. Viele der englischen Kolonialisten ließen es sich hier gutgehen. Sie verdienten ihren Lebensunterhalt mit freundlicher Unterstützung der malayischen Bevölkerung, natürlich unter dem Deckmantel der Wohltätigkeit. Schließlich galt es, den unterentwickelten Einwohnern den rechten Glauben und die rechte Kultur nahezubringen.
    (Das soll es an dieser Stelle an unterschwelliger Kritik an dem Kolonialismusgedanken gewesen sein)

    Der Roman "Nachttiger" spielt in einem Tal Malaysias, das für seine enormen Zinkvorkommen bekannt war und ist - das Kinta-Tal. Wir treffen zunächst auf Ren, einem 10jährigen chinesisch-stämmigen Jungen, der einem Doktor MacFarlane als Hausboy zur Verfügung steht. Der Doktor liegt im Sterben und nimmt dem Jungen das verrückte Versprechen ab, den amputierten Finger des Arztes zu finden und in dessen letzte Ruhestätte zu packen. Dabei muss eine Frist von 49 Tagen, beginnend mit dem Zeitpunkt des Todes, eingehalten werden. Zurecht erscheint diese Aufgabe merkwürdig und skurril und hat folgenden abergläubischen Hintergrund: ein Körper muss vollständig sein, will die Seele des Verstorbenen zur Ruhe kommen. Sollte diese Aufgabe nicht erfüllt werden, wird die Seele auf ewig und ruhelos durch die Welt irren. Und welche Seele will das schon?

    Als Leser ahnt man, dass sich die Handlung dahingehend entwickeln wird, dass der kleine Junge sich an die scheinbar unlösbare Aufgabe begibt. Denn Malaysia ist groß und der Junge hat so gut wie keine Anhaltspunkte. Zunächst einmal kommt er in dem Haushalt eines Kollegen von Dr. MacFarlane unter. Er wird sozusagen "vererbt".

    " ..., dass die Europäer kommen und gehen. Einige sind schon nach zwei Jahren wieder weg, während andere für immer bleiben; sie haben sich so an ihr tropisches Luxusleben mit Bediensteten gewöhnt, dass sie in England überhaupt nicht mehr zurechtkämen."

    Parallel zu der Geschichte um Ren und seiner Suche nach dem Finger tut sich ein weiterer Handlungsstrang auf. Hier geht es um Jin Lee, eine junge Dame, die in in einer Schneiderei in Ipoh arbeitet, der größten Stadt des Kinta-Tals. Die Schneiderei ist jedoch nur ein Vorwand. Denn aus finanziellen Gründen arbeitet Jin Lee heimlich als Eintänzerin in einem Tanzpalast. Hier steht sie zahlungswilligen Kunden als Tanzpartnerin zur Verfügung. Nicht mehr und nicht weniger. Ihre Familie lebt im benachbarten Falim. Ihr verhasster Stiefvater ist Zinnhändler, wohlhabend und gewalttätig. Trotzdem Jin Lees Mutter unter ihrem Mann zu leiden hat, scheint es doch so etwas wie Liebe zwischen den beiden zu geben. Der Stiefvater hat seinen leiblichen Sohn Shin bereits aus dem Haus geekelt. Dieser studiert nun Medizin in Singapur, ist aber dennoch häufig zuhause. Shin und Jin Lee sind etwa gleichaltrig. Nicht nur die Tatsache, dass sie am selben Tag Geburtstag haben, macht sie zu Seelenverwandten. Die beiden verbindet mehr als eine geschwisterliches Verhältnis vermuten lässt.
    Mit dem Handlungsstrang um Jin Lee zeichnet sich ab, mit welchen Schwierigkeiten frau im malayischen Kulturkreis zu kämpfen hat(te). Als gehorsame Tochter steht Jin Lee unter der Fuchtel des strengen Stiefvaters. Dieser zwang sie, von der Schule zu gehen, da er ihren "unschicklichen" Wunsch nach einer Ausbildung zur Krankenschwester auf gar keinen Fall dulden wollte. Jetzt wartet er darauf, Jin Lee endlich unter die Haube bringen zu können und damit die Verantwortung für sie in andere männliche Hände geben darf. Durch Jin Lees hart erkämpften Freiraum, der ihr das Leben unter der Woche in einer anderen Stadt gewährt, bewegt sie sich insbesondere in Anbetracht ihrer Tätigkeit als Tänzerin auf sehr gefährlichem Terrain. Wenn das rauskommt!
    Nun fragt man sich, welches der gemeinsame Nenner zwischen den beiden Handlungssträngen um den kleinen Jungen Ren und Jin Lee ist. Denn scheinbar gibt es keine Verbindung zwischen den Beiden.
    Scheinbar ... Denn irgendwann werden sich Ren und Jin Lee über den Weg laufen. Und der verlorengegangene Finger des Dr. MacFarlane wird dabei eine große Rolle spielen.

    "'Nun ja, die Malaien sagen, jeder Finger habe eine Persönlichkeit: Der Daumen ist der Mutterfinger oder ibu jari. Dann kommt der Zeigefinger, jari telunjunk, der den Weg weist. Der dritte Finger, jari hantu, ist der Geisterfinger, weil er länger ist als die anderen. Der vierte ist der Ringfinger; in manchen Dialekten nennt man ihn den Namenlosen. Der kleine Finger ist der schlauste.'"

    Dieser Roman hat mich auf vielfältige Weise fasziniert.
    Wir haben eine verrückte Geschichte über die Suche nach einem verloren gegangenen Finger. Einem Europäer mag der Hintergrund dieser sehr speziellen Bitte eines sterbenden Mannes merkwürdig erscheinen. Für jemanden, der aus einer Kultur stammt, für die Tradition und Aberglaube zum Leben dazugehören, ist sie verständlich.

    Wir treffen auf Exotik pur. Dabei denke ich nicht nur an den Schauplatz sondern auch an den Sprachstil der Autorin. Sie transportiert diese Exotik in ihrer Ausdrucksweise und lässt Bilder im Kopf entstehen, die einen den Dschungel Malaysias hören, riechen und fühlen lassen. Dabei verwendet sie viele Vergleiche, die einem Europäer eigentümlich erscheinen, aber gerade deshalb einen großen Reiz ausmachen.

    Yangsze Choo lässt den Leser in eine Welt voller Traditionen und Mythen eintauchen. Wer meinen Lesegeschmack kennt, weiß, dass ich Schwierigkeiten mit Büchern aus dem Mystik- und Esotherik-Regal habe. In dem Moment, wo Logik und gesunder Menschenverstand nicht zu gebrauchen sind, fange ich an, über ein Buch zu schimpfen. Doch in dem Fall des "Nachttiger" hat es mich nicht gestört. Hier begegnen wir einer Mystik und einem Aberglauben, den ich als schmückendes Beiwerk empfunden habe, um die Exotik dieses Romans zu untermalen. Hinzu kommt, dass die Mystik weitestgehend in den Träumen der Protagonisten stattfindet. Und in der Traumwelt wie im Märchen ist alles möglich und erlaubt.
    Stichwort "Märchen": Tatsächlich könnte man diesen Roman als ein modernes exotisches Märchen bezeichnen. Es gibt die Guten und die Bösen. Und am Ende gewinnen die Guten. Es gibt eine nahezu unlösbares Rätsel in Form des verschwundenen Fingers, das aber am Ende gelöst wird. Es gibt Monster und Geister. Denn dieser Roman heißt nicht umsonst "Nachttiger". Am Ende bekommt der Prinz seine Prinzessin. Und wenn sie nicht gestorben sind ....

    Und wem das Märchen an dieser Stelle nicht genug ist. Ein großes Stück Krimi findet sich ebenfalls in diesem Roman. Alles in allem ist "Nachttiger" ein fantasievoller, exotischer Schmöker, der den Alltag vergessen lässt, weil er den Leser in eine völlig fremde Welt entführt. Leserherz, was willst du mehr?!

    © Renie

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