Nachleben: Roman. Nobelpreis für Literatur 2021
"Nachleben" ist der zuletzt ins Deutsche übertragene Roman des britisch-sansibarischen Schriftstellers Abdulrazak Gurnah, der im Jahr 2021 für sein Werk den Literaturnobelpreis erhielt. In der Begründung der Auszeichnung verweist die Schwedische Akademie unter anderen auf Gurnahs "unbestechliche und leidenschaftliche Auseinandersetzungen mit dem Kolonialismus". Im Zentrum des Romans steht ein düsteres Kapitel der deutschen Kolonialgeschichte, das gerne verdrängt wird: die Besetzung Ostafrikas durch deutsche Kolonialherren. Die Auswirkungen dessen sind bis heute spürbar und das Verdienst Gurnahs ist es, einen unverstellten und wertfreien Blick auf diese Zeit geworfen zu haben. Der Roman erstreckt sich dabei auf die Zeitspanne vom Ende des 19. Jahrhunderts bis hinein in die 1960er Jahre.
Gurnah verbindet seine Auseinandersetzung mit der Kolonialgeschichte Ostafrikas und deren Folgen mit einer Familiengeschichte. Indem er verschiedene Charaktere ins Geschehen einführt und deren Vorzüger und Schwächen aus jeweils verschiedenen Blickwinkeln zeigt, erfahren wir viel über das Leben in Deutsch-Ostafrika. Mitnichten kann man von einer homogenen Region sprechen, denn diese ist im Kern durch Vielfalt geprägt - sei es in religiöser, sei es in ethnischer Hinsicht. Indem wir am Leben der Protaganisten teilhaben, lernen wir viel über die Geschichte des Landes und Besonderheiten des Zusammenlebens. Anfangs lernen wir Ilyas kennen. Er besuchte die deutsche Missionsschule, und wuchs ohne seine Schwester Afiya auf. Als er erfährt, dass diese als Sklavin gehalten wird, sucht er sie auf, nimmt sie mit und bringt ihr Lesen und Schreiben bei. Sie wohnt fortan bei Khalifa und dessen Frau. Nachdem Ilyas sich freiwllig den Askaris, einer deutschen Schutztruppe anschließt, bricht der Kontakt zwischen den Geschwistern wieder ab.
Auch ein anderer junger Mann, Hamza, entscheidet sich, als der erste Weltkrieg ausbricht, den Askaris beizutreten, um so den Kampf der Deutschen gegen die Briten zu unterstützen. Vermittelt über Hamza erfahren wir als Leser Details über die Grausamkeiten der deutschen Schutztruppe. Da Hamza von einem deutschen Feldwebel eine Art Vorzugsbehandlung erhält, wird Hamza auf brutalste Weise zusammengeschlagen und hat Glück im Unglück: er überlebt. Er findet Arbeit in einer ostafrikanischen Küstenstadt, in der er auf Afiya trifft, in die er sich verliebt. Die Beiden werden ein Paar und heiraten. Einige Jahre später wird ihr Sohn geboren, der den Namen des verschollenen Ilyas erhält.
Ilyas junior erfährt von seinem verschollenen Namensvetter und begibt sich später als junger Mann auf Spurensuche. Diese führt ihn nach Deutschland, wo er für seine Recherchen ein Stipendium erhält. Das Ende kommt einem Paukenschlag gleich, aber wird hier selbstverständlich nicht verraten. Gurnah verriet im Rahmen einer Lesung in Frankfurt, dass das Schicksal von Ilyas senior tatsächlich eine reale Entsprechung hat.
Der Roman besticht durch eine hohe Erzählkunst: Gurnah versteht es, gekonnt zwischen notwendiger Faktenpräsentation und fiktiver Romanhandlung zu wechseln. Als Leser erfahren wir sehr viel über die Kolonialisierung Ostafrikas, deren Ambivalenzen sowie auch Nachleben bis heute. Insofern würde ich diesen Roman als Beispiel postkolonialer Literatur einordnen: Er erzählt von der Zeit der Kolonialismus, der aber insofern nicht beendet ist, da er bis heute Spuren hinterlassen hat. Gurnah thematisiert auch die Schwierigkeit Ostafrikas, den Weg in die Unabhängigkeit zu finden. An dieser Stelle verweist er auf Aspekte der inneren Kolonisierung, die darin zum Ausruck kommt, dass Ostafrikaner die Sicht der Kolonialherren , Afrika sei der deutschen Kultur unterlegen, übernehmen. Es ist die Folge einer dem Kolonialismus innewohnenden Ambivalenz. Die deutschen Kolonialherren brachten nicht nur Gewalt ins Land, sondern auch Kultur und Bildung. Dies wird in der Figuren des Hamza wie auch des Ilyas senior verkörpert, wobei letzterem die Zuneigung und Verbundenheit mit Deutschland letztlich zum Verhängnis wird. Die Charaktere fand ich sehr facettenreich behandelt, das Erzähltempo empfand ich als angemessen. Der Roman fesselte mich von der ersten bis zur letzten Seite. Bis heute hallt die Geschichte nach und entfaltete so in einem weiteren Sinne das Titel gebende Nachleben. Ich würde vielen Lesern diese Erfahrung wünschen und bin persönlich der Meinung, dass dieses Buch an Schulen Pflichtlektüre sein sollte, um das oft verdrängte düstere Kapitel deutscher Kolonialgeschichte ins Bewusstsein zu rücken. Insofern betrachte ich Gurnahs Buch als ein Buch gegen das Vergesssen.
Ich bin sehr froh, dass Gurnahs Leistung mit dem Literaturnobelpreis gewürdigt wurde, auch wenn sich dies möglicherweise der Tatsache verdankt, dass er mehr als britischer, denn tansianischer Autor wahrgenommen wird. Den Mut, dem langjährigen Nobelpreis-Anwärter Ngugi wa Thiong'o den Preis zu verleihen, hatte das zuständige Kommitee wohl nicht. Dabei geht dieser Autor sogar noch weiter als Gurnah, indem er dazu zurückgekehrt ist, seine Werke in seiner Stammessprache zu schreiben, um so seinen Widerstand bezüglich der deutschen Kolonialisierung und deren Folgen deutlich zu machen. Aber immerhin wurde Gurnahs Leistung in dieser Hinsicht anerkannt. Gurnah ist meiner Meinung nach ein würdiger Nobelpreisträger, dessen andere Werke ich nun auch sehr gerne lesen und entdecken möchte.
Nachdem Ilyas als Elfjähriger zwangsrekrutiert worden ist und Jahre später in sein Dorf zurückkehrt, sind seine Eltern bereits tot. Seine jüngere Schwester Afiya ist bei Verwandten untergekommen ist, wird von ihnen aber wie eine Sklavin gehalten. Ilyas nimmt sie mit in die Stadt. Als sie dort auf Hamza trifft, entsteht zwischen den beiden eine Liebe. Doch der nächste Krieg rückt schon näher…
„Nachleben“ ist ein Roman von Abdulrazak Gurnah.
Meine Meinung:
Der Roman beinhaltet vier Teile und insgesamt 15 Kapitel. Die Handlung umfasst den Zeitraum vom Ende des 19. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts.
In sprachlicher Hinsicht hat mich der Roman mit seinem nüchternen, antiquiert wirkenden Schreibstil ein wenig enttäuscht.
Inhaltlich hat mich der Roman dagegen mehr überzeugt. Hierin liegt für mich die eigentliche Stärke der Geschichte. Im Mittelpunkt steht die deutsche Kolonialherrschaft in Ostafrika zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Warum zieht ein junger Schwarzer für den deutschen Kolonialherren in den Krieg? Über die koloniale Geschichte von Tansania war mir bis dahin nur wenig bekannt. Als umso interessanter und als augenöffnend habe ich es empfunden, einiges darüber zu erfahren und zudem mitzubekommen, wie weit die Folgen des Kolonialismus und die Einflüsse Europas reichen.
Darüber hinaus zeichnet der Autor ein Bild von den gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Zuständen in Ostafrika, was den Roman schon alleine deswegen lesenswert macht. Zugleich erzählt er eine Familiengeschichte.
Der Fokus des Romans liegt auf verschiedenen Charakteren. Zunächst geht es um Khalifa. Dann spielt Ilyas die Hauptrolle. Später wechselt die Perspektive erneut. Etwas verwirrend wird die Lektüre durch Namensähnlichkeiten. Zudem tauchen vor allem zu Beginn viele unterschiedliche Figuren auf verhältnismäßig wenigen Seiten auf, was den Einstieg in die Geschichte erschwert hat. Positiv anzumerken ist, dass die Charaktere insgesamt authentisch rüberkommen und deren Darstellungen viele Grautöne aufweisen.
Der Originaltitel („Afterlives“) wurde erfreulicherweise wortgetreu übersetzt. Das optisch ansprechende Cover hat wenig inhaltlichen Bezug, ist jedoch nicht unpassend.
Mein Fazit:
Obwohl „Nachleben“ von Abdulrazak Gurnah meine durch den Nobelpreis bedingten hohen Erwartungen vor allem auf sprachlicher Ebene nicht erfüllen konnte, halte ich das neueste Werk des Autors für empfehlenswert. Besonders westliche Leserinnen und Leser erwartet eine lehrreiche Lektüre, die nachhallt.
Abdulrazak Gurnahs Roman Nachleben spielt überwiegend in Deutsch-Ostafrika bzw. Tansania/Tanganyika und umfasst eine Zeitspanne vom Ende des 19. Jahrhunderts bis in die 1960er Jahre. Ilyas wurde als 11-jähriger von den Askari, der kolonialen deutschen Schutztruppe, zwangsrekrutiert. Ein deutscher Kaffeeplantagenbesitzer rettet den Jungen aus den Klauen des Militärs und nimmt sich Ilyas an. Er darf die Missionsschule besuchen, lernt Deutsch, arbeitet für den Plantagenbesitzer, der ihn gut behandelt. Die Jahre auf der Plantage und in der Missionsschule prägen Ilyas für sein gesamtes Leben und lassen in ihm eine tiefe Verbundenheit und Dankbarkeit gegenüber den Deutschen heranwachsen. Als junger Mann kehrt er zunächst zum Arbeiten in eine kleine Hafenstadt an der ostafrikanischen Küste zurück und reist schließlich in sein Heimatdorf. Dort findet er nur noch seine jüngere Schwester, die, wie eine Sklavin, bei Verwandten lebt. Ilyas nimmt Afiya mit in die Stadt, bringt ihr lesen und schreiben bei. Als der erste Weltkrieg ausbricht, meldet sich Ilyas freiwillig zum Militärdienst. Er möchte als Askari für die Deutschen gegen die Briten in den Krieg ziehen. In den folgenden Abschnitten des Romans bleibt Ilyas vor allem durch seine Abwesenheit, seine Sorge um ihn und sein ungewisses Schicksal präsent. Ein weiterer junger Mann, Hamza, taucht auf. Auch er hat sich, wie so viele afrikanische Männer, den Askari angeschlossen. Mit Hamza tauchen wir tief ein in das Leben der Askari, den Umgangston, den kriegerischen Auseinandersetzungen, Grausamkeiten und Verwüstungen. Hamza überlebt den Krieg, findet Arbeit in der ostfrikanischen Küstenstadt und trifft dort auf Ilyas Schwester Afiya.
Gurnah berichtet aus Sicht der Kolonisierten. Er zeigt eindrücklich, welche Auswirkungen Kolonialismus bis heute hat. Sein Blick ist differenziert, zeigt das ambivalente Verhältnis der multiethnischen afrikanischen Bevölkerung zu den Kolonialisten, die auch nicht über einen Kamm geschert werden können. Sein Stil ist schnörkellos, eher sachlich. Zu Beginn erzählt Gurnah berichtartig, zusammenfassend, liefert die Eckdaten zu seiner Geschichte. Mit dem Auftauchen Hamzas lässt sich Gurnah Zeit mit dem Erzählen, so dass ein Eintauchen in diese Welt mit ihren Facetten und Widersprüchen möglich wird. Neben den Grausamkeiten des Krieges und dem Wirken der Kolonialmächte zeichnet Gurnah auch ein lebendiges Bild des städtischen Lebens in Ostafrika mit all seinen arabischen, indischen und afrikanischen Handwerkern und Händlern. Über Afiya erhalten wir Einblicke in das familiäre Leben, die Rolle von Frauen und Männern, in die gesellschaftlichen und religiösen Regeln, aber auch in traditionelles afrikanisches Wissen und Weltbilder. Obwohl auch in diesen Abschnitten Gurnahs Stil sachlich bleibt, gelingt es ihm, sehr lebendige Bilder und vielschichtige Figuren zu erschaffen. Der Roman nimmt am Ende eine erstaunliche, unvorhergesehene Wendung, die betroffen macht. Während des Lesens haderte ich anfänglich mit der sehr schnellen, verdichtenden, berichtenden Erzählweise jeweils im ersten und letzten Teil des Romans. Je länger die Lektüre zurückliegt, umso mehr schätze ich auch diese Teile in der Gesamtkomposition. Gurnah erzählt eine Geschichte, die mir im Gedächtnis bleiben wird. Sie hat mich emotional berührt und meinen Blick auf diese Epoche der Geschichte bereichert. „Nachleben“ war mein erstes Buch des letztjährigen Literaturnobelpreisträgers, aber mit Sicherheit nicht mein letztes.
Der Roman spielt überwiegend in einer nicht namentlich benannten Kleinstadt an der Küste im damaligen Deutsch-Ostafrika. Die Handlung setzt kurz nach der Jahrhundertwende ein, zur Zeit der deutschen Kolonialherrschaft, die von zahlreichen Aufständen und deren gewaltsamer Niederschlagung durch das Kaiserreich geprägt waren, führt durch den Ersten Weltkrieg, der stellvertretend auch auf afrikanischem Boden ausgefochten wurde, und beleuchtet schließlich die Zeit der britischen Kolonialherrschaft bis kurz nach der Unabhängigkeit des heutigen Tansania.
Eine Familiengeschichte wird mit der unruhigen und blutigen Geschichte des Landes unter arabischer, deutscher und britischer Fremdherrschaft verwoben, wobei verschiedene Charaktere wechselnd in den Fokus gestellt werden, die im Verlauf an Kontur gewinnen und vielschichtig angelegt sind. Abdulrazak Gurnah präsentiert hier eine machtlose Region, deren Bewohner keinerlei Kontrolle über ihr eigenes Schicksal besitzen – und er erzählt dies ausschließlich aus dem Blickwinkel der unterworfenen einheimischen Afrikaner.
Dabei wird jedoch auch deutlich, dass es DIE afrikanische Identität nicht gab. Anders wäre wohl auch kaum zu erklären, dass viele junge Ostafrikaner, wie z.B. die Hauptcharaktere Ilyas und Hamza, sich seinerzeit als sogenannte "Askari" anwerben ließen, afrikanische Hilfssoldaten für die Schutztruppe der Deutschen - und damit als Kanonenfutter für den Krieg zwischen den verfeindeten Kolonialmächten. Junge Männer wie Ilyas und Hamza kämpften also für eine fremde Macht in einem Krieg, der sie überhaupt nichts anging. Dieser Aspekt des Romans verblüffte mich fast am meisten.
"Die Askari hinterließen ein verwüstetes Land, auf dem Hunderttausende Menschen hungerten und starben, während sie selbst immer weiter in blindem und mörderischem Eifer für eine Sache kämpften, deren Hintergrund sie nicht kannten, die vergeblich war und letztlich auf ihre eigene Unterdrückung hinwirkte." (S. 124 f.)
Gurnah berichtet stellenweise fast spröde-sachlich von den Ereignissen, keineswegs anklagend und mit einer erstaunlichen Ambivalenz hinsichtlich der Kolonialherren. Diese erweisen sich nicht nur als brutale Unterdrücker, sondern stehen z.B. auch für Bildung und Kultur. So wrd Ilyas in jungen Jahren von einem Deutschen zur Schule geschickt, und Hamza kommt während seines Dienstes als Askari mit Werken von Schiller in Berürhung.
Den eher einfachen, teilweise fast sachlichen Schreibstil, die stellenweise bloße Erwähnung geschichtlicher Fakten und Daten ohne konkreten Bezug zur Geschichte und zu den Charakteren fand ich zwar zunächst befremdlich, letztlich aber doch auch hilfreich, um das Geschehen in der Erzählung in einen Gesamtkontext einordnen zu können und die geschilderten Gräuel beim Lesen nicht zu emotional zu erleben.
Neben der eigentlichen Darstellung des Schicksals der verschiedenen Figuren bietet der Roman noch zahlreiche Subtexte, von denen ich nicht behaupten werde, sie alle entdeckt und verstanden zu haben, einige aber eben doch. So z.B. die Tatsache, dass das Geschehen in der Vergangenheit immer auch Konsequenzen für die Gegenwart nach sich zieht, teilweise über Generationen hinweg. Der Kolonialismus sorgte für bleibende Narben. Gerade das Ende, zu dem der Literaturnobelpreisträger durch eine wahre Begebenheit inspiriert wurde, zeigt das schwere Erbe dieser existenziellen Erschütterung durch die deutsche Kolonialgeschichte.
Die Chronik eines Weltgeschehens, die durchaus auch etwas Allgemeingültiges hat (Entwurzlung, Identitätssuche). Ein beeindruckender Roman, verständlich geschrieben ohne literarische Kapriolen, doch deswegen nicht weniger eindringlich. Ich hätte mir von Seiten des Verlages noch zusätzliche Informationen gewünscht (Glossar, Landkarte), aber auch so hinterlässt der Roman bei mir einen bleibenden Eindruck.
Auch ein Buch gegen das Vergessen - ein kleiner Stein auf dem Weg zur Aufarbeitung der dunklen Kapitel der deutschen Kolonialgeschichte...
© Parden
Abdulrazak Gurnah (geb. 1948) ist seit 2021 Literatur Nobelpreisträger. Er stammt aus Tansania, lebt aber seit 1968 in Großbritannien. Penguin Randomhouse erschließt sein Werk nach und nach dem deutschen Publikum. „Nachleben“ ist Gurnahs jüngster Roman und der erste, den ich gelesen habe. Er beschäftigt sich mit der deutschen Kolonialgeschichte in Ostafrika aus der Perspektive verschiedener dort lebender Familien.
Es war die Armut, die Ilyas einst als 11-Jährigen aus dem Elternhaus forttrieb. Er wurde zunächst als Waffenträger bei den Askari zwangsrekrutiert, gelangte aber über Umwege später in eine Missionsschule, in der er unter anderem die Sprache der Kolonialherren lernte. Diese Zeit empfindet Ilyas als prägend für sein Leben. Er verspürt den Deutschen gegenüber Dankbarkeit, die ihn aus der Armut herausführten. Seine Familie ist zwischenzeitlich gestorben, nur seine Schwester Afiya findet er wieder. Als der 1.Weltkrieg ausbricht, verlässt er sie erneut, um an der Seite seiner deutschen Freunde zu kämpfen. Lange gilt er in der Folge als verschollen.
Gurnah verlässt seinen Protagonisten an dieser Stelle, macht einen Zeitsprung und beginnt einen neuen Erzählbogen. Der Krieg ist zu Ende. Hamza kehrt als als Versehrter nach langer Wanderschaft und reich an schmerzvollen Erfahrungen heim. Auch er hatte sich aus bitterer Not den Askari-Truppen angeschlossen und sucht nun dringend Arbeit. Sehr gekonnt konstruiert Gurnah eine bewegende Familiengeschichte über mehrere Generationen. Die beiden Protagonisten Ilyas und Hamza werden sich nie begegnen. Dennoch tauchen nach und nach Verbindungen zwischen ihnen auf, die ich nicht vorwegnehmen möchte.
Gurnah zeigt in seinem Roman das Wesen des Kolonialismus, das von Enteignungen, Aufständen, Unterdrückung und Diskriminierung geprägt ist. Das wird in keiner Weise geschönt, bildet aber doch eher ein Hintergrundrauschen. Der Autor zeigt, wie sich die Kolonialisierung auf die afrikanische Bevölkerung ausgewirkt hat. Das tut er sachlich, klar und präzise im Ton. Seine Sätze stehen kerzengerade, sie lösen Betroffenheit aus, ohne sich in Brutalitäten oder Gefühligkeiten zu verlieren. Die fehlenden spektakulären Effekte verleihen dem Geschehen hohe Glaubwürdigkeit und Authentizität. Sämtliche Figuren stellen sich mehrdimensional dar. Auf Polarisierung, Klischees und Unausgewogenheit wird bewusst verzichtet. Unter den Kolonialherren gibt es Menschen, die den Eingeborenen mit großer Nächstenliebe begegnen, ebenso gibt es sadistische Askari, die ihre Brüder quälen. Es ist Gurnahs Stärke, die unterschiedlichen Schattierungen herauszuarbeiten, indem er sie aus verschiedenen Blickwinkeln beleuchtet. Dabei werden die Ansichten, Beweggründe und Einstellungen der Figuren deutlich. Als Leser kann man deren Verhalten wunderbar nachvollziehen. Gurnah beschreibt und schildert, wertet aber nicht. Ein Urteil zu fällen, überlässt er dem Leser. Es bleiben genug Leerstellen, die den eigenen Gedankenapparat in Bewegung versetzen.
Man kann den Roman als fesselnde Familiengeschichte lesen, findet bei genauerer Betrachtung aber auch weitere Deutungsebenen, die das Wesen des Kolonialismus in den Figuren selbst spiegeln. Wie der vieldeutige Titel schon sagt, geht es um die Konsequenzen für den Einzelnen in seinem Lebensumfeld. Es wird deutlich, dass Vergangenheit und Gegenwart untrennbar miteinander verbunden sind. Kolonialen Einfluss kann man nicht einfach abstreifen oder vergessen, er verjährt nicht. Gurnah ist intensiv in die Landesgeschichte eingetaucht. Der Spagat zwischen den verschiedenen Kulturen wird an konkreten Beispielen verdeutlicht, egal ob es die Rolle der Geschlechter, Bildung oder Religion betrifft.
Anfangs hätte ich mich über eine Landkarte mit Glossar gefreut, weil meine Kenntnisse über die deutsche Kolonialgeschichte doch sehr mangelhaft sind. Mit zunehmender Lektüre wird eine solche Hilfestellung aber verzichtbar. Konkrete Handlungsorte spielen eigentlich auch gar keine Rolle, weil das Erzählte exemplarisch für sämliche Kolonien gelten dürfte. Gurnahs Fokus liegt auf dem Menschlichen. Seine erzählerische Kraft ist immens. Er beherrscht die Sprache, wechselt je nach Situation das Tempo. Mal werden Fakten fast stichwortartig aneinander gereiht, mal wird in afrikanischer Erzähltradition ausführlich geschildert. Gurnahs Stärke liegt im Detail, in der Figurenzeichnung, der Bildhaftigkeit, der Atmosphäre. Darüber hinaus hat er ein Ende wie einen Paukenschlag konzipiert, das den Leser überrascht und den Roman perfekt abrundet. Fantastisch!
Bei diesem Roman stimmt einfach alles. Es ist ein wichtiges Buch zur postkolonialen Geschichte Afrikas und sollte ein breites Publikum ansprechen. Jeder darf dabei seine Lesart haben und wird trotzdem Gewinn daraus ziehen. Die Übersetzung von Eva Bonné lässt keine Wünsche offen.
Unbedingte Leseempfehlung!
Der aus Tansania stammende Nobelpreisträger Abdulrazak Gurnah hat mit "Nachleben" ein wichtiges Werk geschaffen, in dem er aufzeigt welche Auswirkungen der Kolonialismus in Ostafrika hatte. Für mich der erste Roman des Autors, doch es gibt noch einige weitere. Nachdem ich diesen Roman gelesen habe, werde ich sicherlich noch weitere Romane des Autors lesen, da mir sein Schreibstil unheimlich gut gefallen hat. Des weiteren befasst er sich mit Themen, die nicht in Vergessenheit geraten sollten.
In diesem Roman erlebt der Leser, wie es in den ostafrikanischen Kolonien unter den Deutschen und später unter den Briten ablief. Er zeigt auf, dass nicht alles klar in Schwarz oder Weiß eingeordnet werden kann.
Die Handlung beginnt mit Ilya, der als Kind zwangsrekrutiert wurde, und einige Jahre später, als er in sein Dorf zurückkehrt, niemanden mehr vorfindet der zu seiner Familie gehört. Durch Glück gelingt es ihm seine Schwester Afiya wiederzufinden, die in einer anderen Familie unterkam, wo sie wie eine Sklavin gehalten wird. Sie soll der neuen Familie dankbar sein, sie stehe in deren Schuld. Doch das Geld Ilyas lässt schnell zu, dass sie mit ihm gehen darf. Afiya ist froh dieser Familie zu entkommen, sie blüht förmlich auf, lernt von ihrem älteren Bruder sogar das lesen, eine nützliche Eigenschaft, die nicht jedem damals vergönnt war.
Parallel zu Ilyas und Afiyas Geschichte lernt man Hamza kennen, der nach schweren Schicksalsschlägen Afiyas Wege kreuzen wird.
Anhand dieser Charaktere, und der eines guten Freundes Ilyas, der Afiya später aufnimmt, als dieser in den Krieg zieht und sie vorerst wieder ins alte Dorf schickt, bekommt man einen sehr fundierten Eindruck, wie das Leben damals ablief. Mehrere Perspektiven lassen ein sehr stimmiges Gesamtbild zu.
Das Ende war anders als erwartet, um nicht zu viel zu verraten beschränke ich mich darauf, es als überraschend zu bezeichnen.
Gurnah umschreibt sehr unaufgeregt, auch wenn die Handlung als solche alles andere als emotionslos ist. Mir gefiel das sehr gut, da mich die Schicksale ansonsten beim lesen stark mitgenommen hätten. Durch die Distanz fiel es mir wesentlich leichter die Geschichte zügig zu verfolgen. Die historischen Fakten sprechen für sich und werden gekonnt in die Lebensgeschichte der Charaktere eingebettet. Besonders hervorheben möchte ich, dass der Autor bei seinen Schilderungen nicht anklagt. Absolute Leseempfehlung!
Ich habe es gefunden – mein Jahreshighlight. Egal, was jetzt noch kommen mag: Abdulrazak Gurnahs „Nachleben“ wird bei mir ein Nachleben führen, denn es ist ein Roman, der meiner Meinung nach alles richtig macht. Es beginnt mit der luziden, äußerst eleganten Sprache, der sich so unheimlich gut folgen lässt, die nicht anstrengt und überfordert, dabei aber so unheimlich viel zu bieten hat. Gurnahs Stil erinnert an die einst von William Somerset Maugham aufgestellten Postulate „Klarheit, Einfachheit, Wohlklang“. Er schafft mit "Nachleben" einen Text, der aus der Zeit gefallen zu sein scheint – es gibt einfach nicht sehr viele Autoren, die (noch) so schreiben und bei aller Transparenz so viel verdeckt transportieren können.
Gurnah entführt den Leser in die Kolonie Deutsch-Ostafrika, verfolgt dort die Lebenswege verschiedener Figuren und führt den Leser in den historischen Kontext und die Gebräuche der Zeit ein. Er konzentriert sich jeweils auf das, was für seine Geschichte relevant ist – spielt eine Figur keine wesentliche Rolle mehr, wird sie verlassen, sind Zeitspannen belanglos, werden sie gerafft. So variiert Gurnah nicht nur das Tempo seines Romans, es gelingt ihm auch in seiner Figurendarstellung immer wieder neue Perspektiven aufzutun, da wir den Figuren in immer neuen Situationen und Konstellationen begegnen und er die Fokalisierung wechselt. Das Leben in der Kolonie Deutsch-Ostafrika, die Erfahrungen einer seiner Figuren in der Schutztruppe der Askari, das Zusammenleben verschiedener Kulturen und der Einfluss derselben aufeinander – all das wird umfassend und mit großer Anmut geschildert. Dies ist ein Roman, der sich der Schönheit und Eleganz der Literatur tatsächlich noch verpflichtet fühlt.
Hinzu kommt, dass sich unter der Klarheit und Einfachheit der Sprache und der Handlung zahlreiche Subtexte und Interpretationsansätze verbergen. Gerade vor dem Hintergrund einer postkolonialen Lesart lassen sich zahlreiche Bezüge zwischen den Figuren, besonders der des Askari Hamza, und der Entwicklung der Kolonie herstellen. Ähnliches ist auch in Bezug auf die Darstellung des Wohnhauses möglich. In einem großen Brückenschlag erhält das Schlusskapitel sein eigenes, besonderes Nachleben. Hier ist einfach alles stimmig, wohlüberlegt und subtil umgesetzt. Man kann diese Möglichkeiten sehen und für sich herausarbeiten, sie werden einem aber nicht auf dem Silbertablett präsentiert. Gurnah schreibt und verbirgt mit unfassbarer Leichtigkeit. Hier ist alles gewollt und vor allem gekonnt. Aber auch wenn man die Anspielungen nicht wahrnimmt, ist „Nachleben“ immer noch meisterhaft und eine gewinnbringende Lektüre.
Ich verneige mich vor diesem Roman, der mit seinem Stil, seiner Erzählkunst, seiner Tiefe und Bedeutsamkeit, seinem Interpretationspotenzial, seiner Feinheit und Eleganz die schriftstellerischen Fähigkeiten seines Autors auf allen Ebenen verdeutlicht. Ein herausragend gelungener Roman, der all das hat, was Literatur ausmacht.
Als Abdulrazak Gurnah 2021 den Literaturnobelpreis erhielt, kannte ihn hierzulande kaum jemand. Der Autor, auf der damals britischen Insel Sansibar geboren, lebt seit 1964 in Großbritannien und lehrte als Professor für postkoloniale Literatur. Von seinen zehn Romanen sind bisher nur wenige ins Deutsche übersetzt worden. Das ändert sich nun mit dieser Auszeichnung. „ Nachleben“ , im Original 2020 erschienen, ist der jüngste Roman des 73jährigen Autors.
Er beschreibt darin die Entwicklung Tansanias von den Jahren unter deutscher und britischer Herrschaft bis zur Unabhängigkeit des Landes und umfasst damit eine Zeitspanne von Ende des 19. Jahrhunderts bis in die 1960er Jahre.
Gurnah macht den Wandel greifbar im Schicksal seiner Protagonisten.
Die Geschichte beginnt mit Khalifa, einem Mann mit indischen Wurzeln, der in einer Kleinstadt an der ostafrikanischen Küste lebt und als Buchhalter für einen Kaufmann arbeitet. Episch breitet Gurnah dessen Lebensweg vor dem Leser aus und der erhält dabei ein lebendiges Bild der ostafrikanischen Gesellschaft vor dem Ersten Weltkrieg. Arabische Händler und indische Geldverleiher bestimmen das wirtschaftliche Leben, die Deutschen zerschlagen mit Hilfe ihrer Schutztruppen aufkeimende Revolten im Land und die einheimische Bevölkerung fristet ihr armseliges Leben.
Doch schon im zweiten Kapitel wird Khalifa zur Nebenfigur. Stattdessen tritt Ilyas auf die Bühne. Mit elf Jahren hat dieser seine Eltern verlassen, um bald darauf einem Askari als Gewehrträger zu dienen. Doch ein deutscher Farmer befreit ihn von diesem Los und schickt ihn auf eine Missionsschule, wo er Zugang zu Bildung erhält und sogar Deutsch lernt. Als er Jahre später in sein Dorf zurückkehrt, sind seine Eltern tot und seine jüngere Schwester Afiya lebt bei Verwandten, die sie wie eine Sklavin behandeln. Er holt sie dort raus und bringt sie in das Haus von Khalifa.
Bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs meldet er sich freiwillig, um gegen die Engländer zu kämpfen. Danach verliert sich seine Spur. Er bleibt aber als Vermisster ständig präsent und erst ganz am Ende erfährt der Leser mehr über sein Schicksal.
Die Geschichte geht weiter mit Hamza, einem jungen Muslim. Als Kind wurde er von seinem Vater einem Händler übergeben, um dessen Schulden abzuarbeiten. ( Wer Gurnahs Roman „ Das verlorene Paradies“ gelesen hat, erkennt in ihm unschwer die Figur des Yusuf. )
Auch er schließt sich freiwillig der deutschen Schutztruppe an, bereut aber bald seinen Entschluss. Ein Oberleutnant wird auf ihn aufmerksam und macht den schönen jungen Mann zu seinem persönlichen Diener. Er bringt ihm Deutsch bei und schenkt ihm später sogar Schillers „ Musen- Almanach“. Hamza steht nun unter dessen persönlichen Schutz, doch ein missgünstiger Feldwebel verletzt ihn schwer. Von einem deutschen Missionar wird Hamza aufgenommen und gepflegt. Nach Kriegsende zieht es ihn, versehrt an Leib und Seele, zurück in die Stadt seiner Kindheit. Khalifa wird sein väterlicher Mentor und in dessen Haus lernt er Afiya kennen und lieben. Die beiden bekommen einen Sohn, den sie in Erinnerung an den vermissten Bruder und Schwager Ilyas nennen. Und dieser zweite Ilyas wird sich später auf die Suche nach dem verschollenen Onkel machen und damit nimmt der Roman nochmals eine unglaubliche Wendung.
Gekonnt verknüpft Gurnah nach und nach die einzelnen Handlungsstränge. Dabei gelingt ihm ein sehr komplexes Bild der Kolonialzeit und zwar aus der Perspektive der Kolonisierten. Der Autor vermeidet jegliche Schwarz- Weiß - Zeichnung; sein Buch ist keine Anklage, sondern Beschreibung.
Die Deutschen treten nicht nur als die brutalen Unterdrücker auf, die sie zwar waren, sondern sie stehen ebenfalls für Bildung, Kultur und medizinischen Fortschritt.
Besonders differenziert beschreibt Gurnah die beiden Hauptfiguren Ilyas und Hamza. Er zeigt an ihnen deutlich, wie Kolonisation die eigene Identität zerstört. Der eigenen Kultur, dem eigenen Volk entfremdet und trotzdem nie ein gleichwertiges Mitglied der Kolonialgesellschaft, diese Zerrissenheit hat Auswirkungen bis in die nächsten Generationen.
Beide, Ilyas und Hamza dienten als Askaris in der deutschen „ Schutztruppe“. Sie trugen deutsche Uniformen und standen im Dienst des Deutschen Kaiserreichs. Sie galten als „ erfahrene Zerstörungsmacht“ und waren „ stolz auf ihren schlimmen Ruf“. „ Die Askari hinterließen ein verwüstetes Land, auf dem Hunderttausende Menschen hungerten und starben, während sie selbst immer weiter in blindem und mörderischem Eifer für eine Sache kämpften, deren Hintergrund sie nicht kannten, die vergeblich war und letztlich auf ihre eigene Unterdrückung hinwirkte.“
Was hat Afrikaner dazu bewogen, auf Seiten ihrer Unterdrücker in den Krieg zu ziehen? Gurnah gibt darauf keine einfachen Antworten, doch er zeigt auf, wie Kolonisation wirkt. Den Unterdrückten wird jegliche eigene Identität, jegliche Kultur abgesprochen, bis sie so werden wollen wie ihre Unterdrücker, sie wollen selbst Teil dieser Macht sein.
Mit Afiya hat Gurnah eine zukunftsweisende Frauenfigur geschaffen. Sie, die Zugang zu Bildung hatte, gibt sich nicht mehr zufrieden mit der ihr zugedachten Rolle. Sie setzt sich zur Wehr gegen jegliche Bevormundung, will keine Zwangsheirat, sondern sucht sich selbst ihren Mann aus.
Einzelne Figuren haben nur kurze Auftritte, trotzdem werden sie ebenfalls in ihrer ganzen Komplexität glaubhaft beschrieben.
Gurnahs Sprache ist schnörkellos, präzise und anschaulich. Manche Passagen lesen sich wie ein Bericht, nüchtern und sachlich. Das Geschehen selbst sorgt für Emotionen beim Leser. Einzelne Lebensabschnitte werden episch auserzählt, dann wechselt das Erzähltempo und es folgen Kapitel wie im Zeitraffer. Es ist ein großes Panorama, das der Autor hier entwirft, ein umfassendes und differenziertes Bild Ostafrikas Kolonialzeit.
Und durch das überraschende Ende gewinnt der Roman eine zusätzliche Dimension, vor allem auch, wenn man weiß, dass diese Figur ein historisches Vorbild hat.
Dem Nobelpreiskomitee ist zu danken, dass sie durch ihre Preisvergabe einen nur in England bekannten Autor in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt haben. Seine Bücher eröffnen neue Blickwinkel und geben Afrika mit seiner Geschichte eine Stimme. Ein unbedingt lesenswerter Roman, gerade für deutsche Leser !
Abdulrazak Gurnah, der Nobelpreisträger des vergangenen Jahres, ist ein weiterhin ziemlich unbekannter Autor in unseren Breiten. Umso gespannter war ich auf den Roman „Nachleben“, den der Penguin Verlang nun herausgebracht hat, und den wir in einer Leserunde lesen konnten.
In diesem Roman führt uns der Autor eine Familiensage im östlichen Afrika vor Augen, die über drei Generationen hinwegreicht und uns Einblicke inr das Leben der originären Bevölkerung unter kolonialer Herrschaft gibt.
Die Wirkungen der Kolonialisten (hier Deutsche, Engländer, Belgier) werden dabei in weiten Teilen in einem recht milden Licht gezeichnet. Zwar ist deutlich, dass sie nicht das Glück und das Vorankommen der Afrikaner im Sinne haben, sondern auch in Afrika nur an ihrem eigenen Vorteil bauen:
„Immer mehr Zwangsarbeiter bauten Straßen, gruben Abwasserkanäle und legten Alleen und Gärten an, die der Erholung der Kolonisatoren und dem guten Ruf des Kaiserreichs dienten.“
Aber dennoch werden sie nicht verdammt oder sogar bekämpft. Im Gegenteil. Als in Europa Krieg zwischen den auch in Afrika benachbarten Mächten ausbricht, bekämpfen diese sich auch in diesen fernen Gestaden und ziehen die im Grunde vollkommen unbeteiligte Urbevölkerung mit hinein. Doch auch das wird von den Charakteren des Romans nicht in Frage gestellt. Im Gegenteil: Ilyas, die Hauptfigur zu Beginn des Romans, verlässt seine gerade erst wiedergefundene Schwester Akira, um sich freiwillig zur Söldnertruppe und damit zum Kampf zu melden. Damit verliert der Leser Ilyas aus den Augen und erfährt sehr lange Zeit nichts über dessen weiteres Schicksal.
Dafür rückt Hamza in den Vordergrund, ein weiterer Verwandter oder Bekannter von Ilyas, der ebenfalls vom Kriegsgeschehen hin- und hergeworfen wird und schließlich wieder in seinem Heimatdorf eintrifft, wo ihm im Haus der Schwester von Ilyas eine Chance auf Überleben gegeben wird. Zwischen Hamza und Akira entwickelt sich eine zarte Liebesgeschichte gegen den Widerstand vor allem der strengen Hausherrin. Das Happy End findet statt in Form der Heirat und der Geburt eines Sohnes, der im Andenken an den verlorenen Bruder, Ilyas genannt wird.
Dieser Ilyas „II.“ vermag es, sich zu seinem Vorteil mit dem kolonialen Regime zu arrangieren und kann später mit einem Stipendium nach Europa reisen. Dort geht er den Spuren seines verlorenen Onkels und Namensvetters nach und muss von dessen tragischem Schicksal erfahren.
So schlägt der Roman in einer Familiengeschichte einen Bogen vom traditionellen Afrika der Ureinwohner über das Kolonialgeschehen hin zu den dunkelsten Kapiteln der europäischen Geschichte und stellt damit Zusammenhänge her, die selten gesehen werden.
Dieser große Bogen ist für mich der große Verdienst des Romans und verdient großen Respekt. Ich bedaure, dass der Verlag dem Leser nicht etwas Mehr anzubieten vermag als den reinen Romantext. Die ferne Welt des Geschehens, die unbekannten historischen Geschehnisse und Gewohnheiten im östlichen Afrika hätten ein Glossar und eine kartografische Einordnung der Geschichte erfordert, um den Erkenntnisgewinn des Lesers enorm zu steigern. Aber diese Zusatzarbeit fiel wohl dem Wunsch nach möglichst schneller Veröffentlichung nach Vergabe des Nobelpreises zum Opfer.
Ich vergebe 4 Sterne für dieses interessante Leseerlebnis.
„… ich mag Geschichten, aus denen man etwas lernen kann.“ Das lässt Abdulrazak Gurnah eine Figur in seinem Roman „Nachleben“ sagen und man hat nach der Lektüre ebendiesen Romans das Gefühl, dass auch Gurnah genau diese lehrreichen Geschichten besonders mag. Er nutzt das Mittel der Literatur, um seine Leser:innen über das selten beleuchtete Thema der kolonialen Besetzung Ostafrikas durch das Deutsche Kaiserreich aufzuklären.
Dies schafft er anhand von vier Protagonist:innen, denen er in variierender Erzählgeschwindigkeit und mit wechselndem Fokus durch die Zeit der Besetzung durch die deutsche Kolonialmacht und darüber hinaus bis in die bundesdeutsche Geschichte hinein folgt. Zwei dieser Protagonisten, Ilyas und Hamza ziehen beide für die deutsche Schutztruppe in den Krieg gegen die britischen Truppen. Ungeschönt aber auch urteilsfrei berichtet Gurnah über das Leben als sogenannter Askari und „das Leben danach“, nach dem Krieg, nach der Gewalt. Denn so deute ich den Titel des Buches „Afterlives“, statt dem Leben nach dem Tod, scheint hier das Leben nach dem Krieg für ein fernes Land (Deutschland) auf ostafrikanischem Boden. Nüchtern berichtet er von dem Spannungsfeld zwischen Unterdrückung durch die Besatzungsmacht und gleichzeitig die Faszination für „die deutschen Tugenden“. Der Autor fällt dabei eben kein Urteil, weder über seine Protagonist:innen noch über die Kolonialmacht. Er lässt das Geschehen für sich sprechen.
Mit dieser berichtenden, nüchternen Erzählweise musste ich erst einmal warmwerden und bin es wahrscheinlich nicht einmal jetzt geworden, nach Beenden der Lektüre. Und gleichzeitig kann ich anerkennen, was Gurnah hier macht und dass dies eine bewusst gewählte Distanz ist. Manchmal wirkt der Roman mehr wie ein historischer Lehrbuchtext, als ein literarisches Werk. Emotional mitreißend war die Lektüre für mich dadurch nur selten. Gleichzeitig habe ich aber sehr viel über diese geografische Region Ostafrika (ich möchte nicht von einem speziellen „Land“ sprechen, da die Ländergrenzen durch die Kolonialmächte gezogen und die vielen verschiedenen Bevölkerungsschichten in einen Topf geworfen wurden), ihre Geschichte um die Jahrhundertwende 19./20.Jh. und das Leben im Öffentlichen unter einer Besatzungsmacht wie auch im Privaten mit verschiedenen religiösen Vorstellungen, ethnischen Zugehörigkeiten, Bildungsständen und finanziellen Mitteln. Besonders im Mittelteil webt der Autor zusätzlich eine Liebesgeschichte ein, sodass dieser Roman sich keinesfalls ausschließlich im Kriegsgeschehen bewegt und von Gräueltaten berichtet.
Ich muss zugeben, dass ich zunächst vom Roman enttäuscht war. Da für mich persönlich ein Autor, der den Literaturnobelpreis erhalten hat, das Kriterium erfüllt, dass er mit seinen Büchern eine Symbiose aus gekonnter literarischer Form und wichtigem Inhalt schafft. Das wichtige historische Thema erkenne ich hier definitiv an, aber die literarische Form scheint nicht wirklich besonders oder herausragend. Meine eigenen Ansprüche waren schon vor der Lektüre aufgrund des Nobelpreises sehr hoch, wahrscheinlich zu hoch. Denn - mal provokativ gefragt - was kann ein Autor dafür, wenn sein Werk von irgendeinem Gremium ausgezeichnet wird? Man sollte ein Werk auch gesondert davon betrachten können.
Aufgrund des Schreibstils, inklusive der berichtenden, funktionalen Erzählweise und der mir nicht immer nachvollziehbaren Tempiwechsel, schwankte ich direkt nach Beenden des Buches zwischen 3 und 4 Sternen, habe mich aber aufgrund sehr aufschlussreicher Beiträge im Rahmen einer Leserunde schlussendlich doch für das Aufrunden entschieden. Gurnah erzählt eine historisch wichtige, weiterhin erschreckend wenig beleuchtete Geschichte, nämlich die der Deutschen in Ostafrika, aber eben aus Sicht der ansässigen Bevölkerung. Eine Perspektive, die aus der Feder des britisch-sansibarischen Nobelpreisträger Abdulrazak Gurnah unbezahlbar ist, denn wir befinden uns erst am Anfang der Aufarbeitung deutscher Kolonialgeschichte, die bisher entweder kleingeredet oder aus Sicht der Kolonialmacht geschrieben wurde. Umso wichtiger die Stimmen von Autor:innen, die vom afrikanischen Kontinent stammen und lang unterdrückte Perspektiven ans Tageslicht befördern.
Die Geschichte von „Nachleben“ beginnt um 1880 im indischen Gujarat, wird fortgesetzt in einer ungenannten kleinen Hafenstadt im damaligen Tanganyika und spannt den Bogen bis 1963 ins Bonn und Berlin der Nachkriegszeit.
Das historische Zentrum von Gurnahs Roman sind die Kolonialkriege in Deutsch-Ostafrika. Die Deutschen und das Blutbad, das sie dort anrichten, werden zur Schreckenskulisse für die Geschichte einer Handvoll einfacher Afrikaner. In zunächst fast dokumentarischer Kürze stellt Gurnah uns seine Figuren vor. Da sind Khalifa, ein indisch-afrikanischer Bürogehilfe, sein Freund Ilyas, Ilyas kleine Schwester Afiya, von ihrem Bruder aus der Leibeigenschaft gerettet, und Hamza, der als kriegsmüder Veteran der erwachsenen Afiya begegnet und mit ihr auf ein neues Leben jenseits der Gewalt hofft. Sie alle kennen nichts anderes als das Leben unter der deutschen Kolonialherrschaft. Jeder Widerstand von afrikanischer Seite wurde bereits vor ihrer Geburt „ausgehungert, zermalmt und niedergebrannt“.
Als die Briten mit den Deutschen in den Krieg um die Region eintreten, schließen sich Hamza und Ilyas den Askari an, der deutschen „Schutztruppe“. An ihrem Beispiel erleben wir, was es bedeutet hat, für die Kolonialherren zu kämpfen:
„Die Askari hinterließen ein verwüstetes Land, auf dem Hunderttausende Menschen hungerten und starben, während sie selbst immer weiter in blindem und mörderischem Eifer für eine Sache kämpften, der Hintergrund sie nicht kannten, die vergeblich war und letztlich auf ihre eigene Unterdrückung hinwirkte.“
Dabei kommt unweigerlich die Frage auf, was die Askari bewegt hat, mit den Usurpatoren gemeinsame Sache gegen ihre Landsleute zu machen, ja sich sogar mit ihnen zu identifizieren. An seiner Figur Ilyas zeigt Gurnah das Phänomen der inneren Kolonisierung. Ilyas wurde entführt und auf eine deutsche Kaffeeplantage verpflanzt. Der Plantagenbesitzer kümmerte sich um ihn, lehrte ihn Deutsch und ließ ihn auf die Missionsschule gehen. Ilyas wächst auf im Bewusstsein der „unterlegenen“ afrikanischen Kultur und übernimmt die deutsche Perspektive - aus Überzeugung. „Die Deutschen sind ehrenhafte und zivilisierte Menschen und haben seit ihrer Ankunft viel Gutes getan,“ sagt Ilyas, bevor er sich der Schutztruppe anschließt. „Bist du verrückt geworden? Was hat das alles mit dir zu tun? Hier geht es um einen Konflikt zwischen zwei brutalen Besatzungsmächten. […] Sie streiten darum, wer sich uns einverleiben darf“, entgegnet ihm Khalifa. Vergeblich.
Die Rolle der Kirche, die den Machthabern in die Hände spielt, wie so oft in ihrer Geschichte, beleuchtet Gurnah mit der Figur des wohlmeinend-rassistischen Pastors einer deutschen Mission, der Hamza nach einer Kriegsverletzung das Leben rettet.
Obwohl Gurnah die Verbrechen der Kolonialmächte benennt, reduziert er die Geschichte der Region nicht auf ihr Leiden. Vielmehr stellt er der zermalmenden Gewalt der Kolonisierung die Menschlichkeit, Tragik und Komik seiner Figuren entgegen, denen es trotz allem gelingt, ein erfülltes Leben zu führen. Wie Gurnah dieses Leben zwischen den beiden Weltkriegen schildert, habe ich als unglaublich atmosphärisch und dicht empfunden.
Ilyas, der auch nach den Kriegen nicht zurückkehrt, bleibt durch den ganzen Roman hindurch präsent wie eine Negativform. Am Ende wird ihm seine Liebe zum Deutschtum zum Verhängnis, und zwar auf eine so krasse, ironische Weise, dass ich förmlich erschlagen war. Zutage bringt dies sein nach ihm benannter Neffe, dessen Recherche von einem deutschen Stipendium gefördert wird.
Gurnahs Kenntnisse der (deutschen) Geschichte sind beeindruckend. Die Romankonstruktion und wie er zwischen epischer Erzählung und dokumentarischer Reduktion wechselt, fand ich meisterhaft. Zwar hätte ich mir zum rasanten Ende des Romans hin etwas mehr Ausführlichkeit vorstellen können; das aber kann den Gesamteindruck nicht beeinträchtigen.
Fazit: Ein Epos mit hohem Erkenntniswert, das auf emotionalen Effekt verzichtet und einen dennoch packt.
Ein perfekter Titel für ein besonderes Werk
Klappentext:
„Ilyas ist elf, als er aus Not sein bitterarmes Zuhause an der ostafrikanischen Küste verlässt und von einem Soldaten der deutschen Kolonialtruppen zwangsrekrutiert wird. Jahre später kehrt er in sein Dorf zurück, doch seine Eltern sind tot. Ilyas macht sich auf die Suche nach seiner kleinen Schwester Afiya, die bei Verwandten untergekommen ist, wo sie wie eine Sklavin gehalten wird und niemand ihre Talente sehen will. Auch ein anderer junger Mann kehrt nach Hause zurück: Hamza war von seinen Eltern als Kind verkauft worden und hatte sich freiwillig den deutschen Truppen angeschlossen. Mit nichts als den Kleidern am Leib sucht er nun Arbeit und Sicherheit – und findet die Liebe der klugen Afiya. Während das Schicksal die drei jungen Menschen zusammenführt, während sie leben, sich verlieben und versuchen, das Vergangene zu vergessen, rückt aus Europa der nächste Weltkrieg bedrohlich näher.“
Ich wage mich immer wieder an die Bücher von Abdulrazak Gurnah und nicht immer wurde mein Leserherz mit seinen Werken erfreut. Oft passte mir der Ton nicht oder die generelle Zusammensetzung seiner Werke - hier war dies komplett anders und ich bin wahrlich zufrieden dieses Werk von ihm gelesen zu haben. Vielleicht werden wir doch noch „Lesefreunde“? Aber warum nun meine positiven Worte zu seinem aktuellen Werk? Abdulrazak Gurnah erzählt uns hier die Geschichte von Ilya. Wir nehmen an allem Teil was sein Leben beschäftigt und das in jeder Lage. Auch wenn es schmerzt sind wir dabei und das tut es oft. Sein Weg zur „Armee“ scheint wie eine Art Metapher der Flucht von allem. Aber es ist kein Ausweg vor der Armut. Der Weg ist der selbe nur eben anders benannt. Er ist nach extrem harter Zeit auf der Suche nach seiner Schwester und findet etwas, was ihm, mal wieder, das Herz zerreißt und bluten lässt. Hamzas Erscheinen und die Liebe zu Ilyas Schwester Afiya knüpft eine Bande zwischen allen Dreien und bildet den Grundstock für ein anderes Leben, eines was sie sich selbst gestalten können und müssen. Dennoch macht die geschichtliche Entwicklung nicht vor ihnen Halt und der Krieg kommt mit großen Schritten immer näher. Es heißt nun Zusammenhalt zeigen, etwas was die Drei sich mühsam erarbeiten müssen, denn sie haben es nie wirklich zu spüren bekommen. Nun heißt es Vertrauen aufbauen zu den Menschen mit denen der Zusammenhalt besteht. Auch nicht einfach wenn man auch das nicht kannte und erst erlernen muss. Abdulrazak Gurnah nimmt uns dieses Mal in eine andere Zeit mit und zeigt auf äußerst eindrückliche Weise was es heißt, neu zu leben, anderen zu vertrauen und Zusammenhalt gemeinsam aufbauen. Gurnahs politische Töne sind mal laut und mal leise und differenzieren oft das Gelesene. Wir erleben einerseits die Deutschen und eben die Menschen Ostafrikas - da prallen Welten aufeinander. Das Thema Kolonialismus ist hier der rote Faden und Hauptaugenmerk. Wir lernen hier in dem Buch beide Seiten „zu verstehen“ und es muss einfach differenziert beleuchtet werden. Da ist Gurnahs Schreibstil und seine Wortwahl mehr als passend. Sein sachlicher Ton, seine zurückhaltende Art und vor allem wertfreie Art zu erzählen lassen hier eine sehr stimmige Geschichte erlesen. Ja, dann gibt es auch noch Wendungen die man so nicht vermutet und ja, man kommt auch emotional in diesem Werk an gewisse Grenzen. Gurnah erzählt eine wahre Geschichte und es ist oft schwer auszuhalten wie Menschen sich oft verhalten wenn ihnen der Verstand abhanden gekommen ist.
Fazit: Ich werde Gurnah als Autor nicht ausschließen, nun sowieso nicht nach diesem Werk. Es gab Anlaufschwierigkeiten mit „uns“ aber durch dieses besondere und wichtige Buch wird er dennoch ein fester Bestandteil meines Lesepotpourris werden und bleiben. 5 von 5 Sterne für dieses Werk!