Mutter. Chronik eines Abschieds

Rezensionen zu "Mutter. Chronik eines Abschieds"

  1. Abschied von der Mutter

    Melitta Breznik ist Ärztin in einem Schweizer Krankenhaus, vom Elternhaus lebt sie weit entfernt. Für ein Buchprojekt hat sie sich eine Weile vom Dienst freistellen lassen, doch dann kommt der Anruf ihrer 91-jährigen Mutter, die bislang noch weitgehend selbständig hat leben können, nun aber Hilfe braucht. Die Mutter klagt über schlimme, anhaltende Bauchschmerzen. Die Tochter reist an und sorgt für gründliche Untersuchungen im Krankenhaus. Die Diagnose ist niederschmetternd: Ein stark metastasierender Bauchspeicheldrüsenkrebs, unheilbar. Schon in Kürze wird keine Nahrungsaufnahme mehr möglich sein. Die Mutter wird zum Pflegefall.

    Die Tochter beschließt, zur Mutter zu ziehen, sie zu pflegen und beim unabwendbaren Sterbeprozess zu begleiten. Dieses kleine Buch ist ein intimes Memoir über die letzten Wochen einer Mutter-Tochter-Beziehung. Die Autorin legt sehr persönlich ihre eigene Geschichte und die ihrer Eltern offen, erzählt von der Kindheit, von der Ehe der Eltern, von den beiden Brüdern, von denen einer schon im Alter von18 Jahren verstorben ist.
    Sie analysiert das eigene Verhältnis zur Mutter, das nicht immer unbeschwert war. Als Baby war das Mädchen unerwünscht, schließlich war die Mutter bereits 41 Jahre alt und der Vater unzuverlässig. Darüber hinaus gibt es einen erlittenen Verlust, über den sie gern noch mit der alten Frau sprechen möchte.

    Daneben beschreibt das Buch die Krankheit, die Schmerztherapie, die langsamen Veränderungen des Körpers, die Höhen und Tiefen im Alltag mit einem schwerkranken Menschen. Wachphasen wechseln mit Schlafphasen ab. Letztere werden länger, die Mutter zieht sich aus dem Leben zurück. „Der Tod braucht Zeit, er duldet keine Eile, er duldet nichts anderes neben sich.“ (Epub S. 64)

    Auch für die Tochter bedeutet der Dienst rund um die Uhr eine große Belastung. Anfangs wird sie noch stundenweise vom Bruder oder einer Nachbarin vertreten, später möchte die Kranke nur noch die Tochter in der Nähe haben, wehrt sich gegen eine entlastende Pflegerin. Diese Situation macht dünnhäutig und fordert enorm. Die Tochter ist nächste Angehörige, Pflegerin und Ärztin in einer Person – es ist bewundernswert, wie sie die Herausforderung annimmt, lediglich telefonisch assistiert von der Hausärztin und befreundeten Studienkollegen. „Die Minuten dehnen sich und doch erscheinen die vergehenden Stunden kurz, eine Zeit, die nirgends beginnt und nirgends endet. Ich kann dann einfach eine Weile dasitzen und nichts tun, fühle eine Gelassenheit dem Leben gegenüber und bin dankbar.“ (Epub S. 74)

    Dieses Buch ist in einer warmherzigen, sensiblen Sprache verfasst, die die wechselhaften Emotionen und Erinnerungen stets auf den Punkt bringen. Die beiden Frauen teilen noch manch schönen Moment miteinander, sie freuen sich an der Natur, an Musik und alten Geschichten. Sie können sich verabschieden. Der Tochter wird klar, dass sie mit der Mutter den bedingungslosen Rückhalt der Herkunftsfamilie verlieren wird. „Wer wird an meinem Bett sitzen?“, fragt sie sich, gerade weil sie selbst keine Kinder hat.

    Melitta Breznik gelingt es, ihrer Mutter den Tod in den eigenen vier Wänden zu ermöglichen. Dafür hat sie ihr eigenes Leben rund zwei Monate völlig hintenan gestellt. Sie konnte der Mutter einen letzten Liebesdienst erweisen, sie hat das Sterben aushalten können. Das ist heute nicht selbstverständlich in einer Welt, die das Lebensende gerne wegschiebt und ausklammert.

    Diese Chronik des Abschieds ist ein wichtiges, ein sehr zeitloses Buch. Viel wird über Geburt und Leben geschrieben, über den Tod nur selten. Melitta Breznik hat hier ein Buch verfasst, das Hilfestellung geben und trösten kann. Die Bilder bei jedem Krebstod ähneln sich. Es ist ein Buch der leisen Töne. Die Sätze sind feinfühlig, intensiv, harmonisch, jedoch ohne Pathos und Gefühlsduselei. Es ist kein trauriges Buch, aber es macht nachdenklich. Der Erzählstil hat mich begeistert. Die Autorin hat sehr viel von ihren eigenen Erfahrungen preisgegeben und öffentlich gemacht. Dafür ist ihr zu danken.

    „Mutter. Chronik eines Abschieds“ ist ein sehr liebevolles, intimes Portrait vom Abschiednehmen zweier Menschen, die bei aller Nähe und Verbundenheit auch schwierige Zeiten miteinander erlebt haben. Es ist absolut ehrlich und ungeschönt. Es steht berechtigt auf der Longlist zum österreichischen Buchpreis 2020. Unbedingt lesen!

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