Muss ich das gelesen haben?

Rezensionen zu "Muss ich das gelesen haben?"

  1. Frech, fundiert und (f)änomenal.

    Der Taschendieb bekommt nur eine Geldbörse mit Kleingeld, die großen Scheine liegen zu Hause, sicher verwahrt. Natürlich kann er sich damit zufrieden geben, doch da wäre noch mehr zu holen.
    Der Literaturkanon empfiehlt mir Goethe, Schiller und Mann. Damit könnte ich mich zufrieden geben, doch da gibts noch mehr zu holen. Eine Starthilfe gibts bei Teresa Reichl.

    Frech, fundiert und (f)änomenal, so hat mich die studierte Germanistin davon überzeugt, dass es links und rechts des ausgetretenen Pfads eine Menge zu entdecken gibt. Ihr Buch ist im österreichischen Haymon Verlag erschienen, der mir auf seiner Verlagseite weismachen will, dass ich seine Bücher hassen werde, dass ich seine "Protagonisten" anschreien wollen würde. Nun, Frau Reichl gibt sich alle Mühe. Sie provoziert, sie gendert, sie biedert sich mit Jugendsprache an, sie beschwört auf dem Cover mit gezopften Teeniebild und blasiertem Blick auf mädchenrosa Hintergrund Widerspruch herauf.

    Aber ach, ich kann nicht anders, ich liebe sie dafür. Nicht nur, dass sie vom Fach ist und begründen kann warum sie Thomas Mann hasst, sondern dass sie immer wieder betont, dass Klassiker nicht nicht mehr gelesen werden sollen, sondern dringend eine andere Art der Heranführung brauchen, bevor unser/e letzter williger Schüler/ willige Schülerin vollends den Glauben daran verliert, dass wir ihnen doch etwas fürs Leben mitgeben wollten, nämlich die Lust am Lesen.

    Lesen ist eine Kernkompetenz und wird überall gebraucht (jaja, Rechnen und Schwimmen auch). Aber Texte analysieren zu können, des Pudels Kern (Goethes Faust) darin zu entdecken, das ist eine Disziplin, die uns einen Mordsspaß bereiten kann. Und da können wir gleich mit Liedtexten, Poetry-Slam-Texten, Sprechblasen in Comics, Werbung u.ä. üben, denn sie alle wollen uns Geschichten erzählen und Geschichten prägen unser Weltbild und wir müssen höllisch aufpassen, dass dieses Weltbild nicht schief hängt.

    Das Schreiben von Büchern war viel zu lange einer kleinen Elite von meist weißen, gut betuchten cis-Männern vorbehalten. Frauen wurden in der Branche bis auf ein paar wenige Ausnahmen nicht beachtet. Doch hinter den Frauen gibts noch viele weitere Gruppen von Menschen, denen auch die Fähigkeit zur schrifltichen Mitteilung abgesprochen wurde. Bi-PoC, Behinderte, Arme, Arbeiter*innen usw., nicht zu vergessen Juden, Moslems, Sinti und Roma, sie alle haben uns spannende Geschichten zu erzählen und zwar aus erster Hand, unzensiert. Das mag in unseren Augen und Ohren vielleicht ungewohnt sein, und wenn es das ist, dann wissen wir, wie wir schon geprägt wurden. Umso wichtiger ist es, diese blinden Flecken zu bennen und es unseren Kindern leichter zu machen, indem wir ihnen Texte zu lesen geben, die ihren Alltag wiederspiegeln.

    Das Buch ist dreigeteilt. Ein kurzer Abriss, was Literatur überhaupt ist, mit ein wenig Analyse und Interpretation (aber keine Angst, so schlimm wie in der Schule wird es nicht), dann ein Ist-Zustand, also wie es im Moment mit dem Literaturkanon aussieht und dann kommt ein fetter Teil, wie es bunter, diverser, lebensechter werden könnte, mit einer Menge Beispielen. Am Ende, neben den üblichen Danksagungen, gibts eine kleine Literaturepochenübersicht, eine Zusammenstellung der vorgestellten Lektüre und, weil es das Blättern erspart, die Funfacts in geballter Form.

    Ja, es ist ein Sachbuch. Nein, es ist das Gegenteil von trocken. Ja, es ist anders, es ist provokant. Und ja, man sollte es trotzdem ernst nehmen. Ich jedenfalls danke Frau Reichl für dieses sehr zugängliche Brainfood, an dem ich noch einige Zeit zu knabbern habe und das ich noch vielen Leuten aufquatschen muss, versprochen.

    Teilen