Morenga: Roman

Buchseite und Rezensionen zu 'Morenga: Roman' von Uwe Timm
4.1
4.1 von 5 (9 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Morenga: Roman"

Deutsch-Südwestafrika, 1904. Beginn eines erbarmungslosen Kolonialkrieges, den das Deutsche Kaiserreich gegen die aufständischen Herero und Hottentotten führt. An der Spitze der für ihre Freiheit kämpfenden Schwarzen steht Jakob Morenga, ein früherer Minenarbeiter. Was damals mehr als drei Jahre lang in dem heute unabhängigen Namibia geschah, hat Uwe Timm in einer Montage von historischen Dokumenten und fiktiven Aufzeichnungen des Oberveterinärs Gottschalk aus Hamburg zu einem grandiosen historischen Roman verdichtet.

Autor:
Format:Taschenbuch
Seiten:464
EAN:9783423147613

Rezensionen zu "Morenga: Roman"

  1. 3
    17. Jul 2020 

    MIttelmaß

    Einen Klassiker zu lesen und zu rezensieren ist immer so eine Sache. Meine Erwartungen an das Buch sind hoch. Meine Ehrfurcht vor dem Buch, das aus irgendeinem Grund zum Klassiker stilisiert wurde, ist groß. Und am Ende stehe ich vor der schwierigen Herausforderung, eine aufrichtige Rezension zu schreiben. Fällt mein Urteil positiv aus, stelle ich mir die Frage, ob ich mich durch den Status "Klassiker" blenden ließ und daher Schwächen des Buches ignoriere. Fällt mein Urteil negativ aus, frage ich mich, ob es sich um eine Trotzreaktion von mir handelt. Denn nicht jeder Klassiker kann ein gutes Buch sein, zumindest kein Buch, dass mir gefallen muss, weshalb ich vielleicht viel zu kritisch mit diesem Buch umgegangen bin.

    Mit diesem Dilemma hatte ich bei der Lektüre von "Morenga" von Uwe Timm zu tun, einem Klassiker der deutschen Literatur, der erstmalig 1978 veröffentlicht wurde. Vor Kurzem wurde dieser Roman vom dtv Verlag neu herausgegeben, ergänzt durch ein Nachwort von Robert Habeck.
    "Morenga" wird als postkolonialer Roman gehandelt. Namesgeber für den Titel ist Jakobus Morenga, ein einheimischer Rebellenführer, der während des Aufstands der Bevölkerungsgruppen Herero und Nama in Deutsch Südwestafrika die deutsche Kolonialmacht in Atem gehalten hat. Dieser Guerillakrieg zwischen Deutschen und Aufständischen ist zentrales Thema des Romans von Uwe Timm.

    Schauplatz ist also Deutsch Südwestafrika zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Hierhin verschlägt es den Deutschen Gottschalk, der sich als Veterinär freiwillig zur deutschen Schutztruppe gemeldet hat. Die Geschichte um Gottschalks Werdegang in Deutsch Südwestafrika macht einen Teil des Romans "Morenga aus. Ein weiterer Teil konzentriert sich auf die militärische Präsenz der Deutschen in diesem Landstrich. Hierbei hat sich der Autor Uwe Timm historischer Fakten und Militärberichten bedient, die er miteinander verflochten hat und somit einen Eindruck über den Militäralltag der Deutschen in Südwestafrika vermittelt.
    Dann unterhält Uwe Timm den Leser mit der sogenannten "Landeskunde". Wer bei dem Begriff "Landeskunde" auf eine völkerkundliche Lehrstunde in Sachen Einwohner von Südwestafrika hofft, wird eine Enttäuschung erleben - wenn auch eine amüsante. Denn Timm konzentriert sich ausschließlich auf die koloniale Entwicklung dieses Landstriches. Am Beispiel von ausgewählten heldenhaften Einwanderern, die mit viel Forschergeist, Abenteuerlust und kirchlichem Segen ihr Glück in Südwestafrika suchten und dabei gnadenlos gescheitert sind. Uwe Timm erzählt seine "landeskundlichen" Geschichten dabei mit viel Ironie und gibt somit die Helden, die die Fremde erobern wollten, der Lächerlichkeit Preis.

    In diesem Buch fehlt mir die Ausgewogenheit. Es gibt einen ganz starken Teil - das ist die Geschichte um Gottschalk. Dieser entwickelt sich nach anfänglicher Euphorie und Abenteuerlust zu einem Zweifler, der die Sinnhaftigkeit des Krieges für sich in Frage stellt und sich schwer damit tut, in der Militärmaschinerie zu leben. Am Ende sitzt er nur noch seine Zeit ab und versucht das Beste daraus zu machen. In diesem Teil präsentiert sich Uwe Timm mit einem nüchternen Sprachstil, der den Leser auf Distanz zu seinem Protagonisten und der Handlung hält. Das ist großartig gemacht, zumal man versucht, diese Distanz zu überwinden und Gottschalk nahe zu kommen, seine Gedanken und Handlungen zu verstehen und sich somit zwangsläufig sehr intensiv mit der Sinnhaftigkeit des Militärgeschehens und des Kolonialismus auseinandersetzt.
    Diesem sehr starken "Gottschalk-Teil" stehen die schwachen Militärberichte und Landeskunde gegenüber. Die Militärberichte sind tatsachenorientiert, behandeln Gefechtsberichte, Aktennotizen etc., im Grunde genommen alles, was ein Archiv zu dieser Ära hergibt. Aufgrund des Echtheitsgehalt sind diese Erzählungen anfänglich interessant, ermüden aber auf Dauer. Denn ehrlich gesagt ist es mir als Leser völlig egal, welche Garnison, wann, unter welchen klimatischen Umständen, welchen Hügel gestürmt hat.
    Die "Landeskunde" hat mich anfangs amüsiert, hat sie doch manche humoristische Einlage irgendeines tragischen Helden geboten, der sein Glück in Südwestafrika gesucht hat und am Ende gescheitert ist. Uwe Timm sorgt dabei für viel Situationskomik. Doch auch dieser Humor nutzte sich für mich irgendwann ab.
    Uwe Timm hat versucht, aus diesen drei Erzählsträngen seines Buches ein großes Ganzes zu machen. Das ist ihm jedoch nicht gelungen. Denn wenn ein Teil überragend, ein weiterer mittelmäßig und ein letzter "interessant" ist, stimmt etwas nicht an dem Gesamtpaket.

    Daher: Klassiker hin oder her. Das war nicht mein Buch!

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  1. Kolonialismus und Konzentrationslager

    Deutsch-Südwestafrika (auf dem Gebiet des heutigen Namibia), 1904 bis 1908. Die Herero und Nama, spöttisch ‘Hottentotten’ genannt, kämpfen erbittert gegen die Kolonisten und Soldaten des Deutschen Kaiserreichs. Obwohl es zwischen den beiden Volksstämmen Spannungen und Konflikte gibt, eint der charismatische Jakob Morenga, Sohn eines Hereromannes und einer Namafrau, sie als Leitfigur des Konflikts.

    Die Deutschen begehen den Fehler, ihre Unerfahrenheit mit den Lebensbedingungen in Südwestafrika zu unterschätzen, während die Nama dies in einem Guerillakrieg klug ausnutzen. In letzter Konsequenz gleichen die Usurpatoren das aber mit erbarmungslosem Einsatz aller verfügbaren Kräfte aus.

    Die Geschehnisse gipfeln in einen Genozid, der an Menschenverachtung kaum zu überbieten ist. Zirka 40.000 bis 60.000 Herero sowie etwa 10.000 Nama werden kühl berechnend ausgerottet.

    ___

    “Die Geschichte lehrt die Menschen, daß die Geschichte die Menschen nichts lehrt.”
    Mahatma Gandhi

    Man weiß, wie Schwarze, Andersgläubige oder in sonstiger Form von der eigenen vermeintlichen Überlegenheit abweichende Menschen im Laufe der Geschichte behandelt wurden – und vielerorts leider noch immer behandelt werden. Ich schreibe diese Rezension im Jahr 2020, während der “Black Lives Matter”-Proteste, und aktueller könnte das Thema nicht sein.

    Trotzdem ist es schwer, in diesem Buch zu lesen, wie die Ureinwohner in Südwestafrika behandelt wurden: in Konzentrationslager eingesperrt, aufgeknüpft, ausgepeitscht, vergewaltigt oder zur Arbeit gezwungen. Man trieb Tausende in die Wüste, wo sie elendig verhungerten und verdursteten – und so verhielten sich die gleichen Menschen, die sich über die “Wilden” und deren angebliche Verrohung beklagten.

    Selbst Frauen und Kinder wurden mit klinischer Teilnahmslosigkeit getötet. Alles im Namen der weißen Überlegenheit – deutsche Gründlichkeit wie später unter Hitler.

    Aber man kann keine Zivilisation auf den Knochen Unschuldiger errichten. Nicht mal mit den allerbesten Absichten, und selbst die sind hier nicht gegeben. Das prangert Timm glasklar an, ohne es dem Leser vorbeten zu müssen. Was geschah, ist auch neutral betrachtet eine deutliche Anklage.

    Als “Morenga” 1978 das erste Mal erschien, wurde Timm als Verräter angefeindet, weil er die schöne deutsche Kolonialzeit gnadenlos entlarvte. Es ist immer wieder ernüchternd, wie sehr der Mensch Dinge pervertieren kann, selbst grundlegende ethische Prinzipien, die selbstverständlich sein sollten.

    Eigentlich ist schockierend, dass ich über den Völkermord an den Herero und Nama in der Schule nichts gelernt habe – oder dass die Vereinten Nationen ihn immer noch nicht als Genozid anerkannt haben! Auch wenn er zahlenmäßig nicht mit dem Holocaust “mithalten” kann, sollte es nicht weniger wichtig sein, ihn im kollektiven Gedächtnis nicht in Vergessenheit geraten zu lassen.

    Das Buch vereint verschiedene Stile und verschiedene Herangehensweisen an das Thema. Manche Passagen, in denen es zum Beispiel um die Erlebnisse des jungen Oberveterinärs Gottschalk geht, lesen sich unterhaltsam und leicht wie ein Roman, jedoch niemals flach oder gar beschönigend. Andere wirken dagegen wie Auszüge eines Sachbuch mit Gefechtsprotokollen, Truppenbewegungen und einer Vielzahl von Namen, Jahreszahlen und Orten. Geballtes Wissen, nur wenig gestrafft.

    Deswegen las ich “Morenga” zusammengenommen eher wie ein populärwissenschaftliches Sachbuch mit Romanelementen. Aber das änderte nichts daran, dass ich es sehr gelungen und interessant fand.

    Gut gefiel mir auch, dass ganz ungezwungen und nahtlos Geschichten einfließen, die an afrikanische Volkserzählungen erinnern. Zutiefst absurd lesen sich dagegen die Bemühungen der Missionare, ohne jegliche Erfahrungen mit diesem Lebensraum den Einwohnern zu erklären, wie man x, y oder z besser macht – was oft schiefgeht, weil es auf dieses Klima oder diesen Boden einfach nicht anwendbar ist.

    Zum Totlachen? Nur bis zur nächsten Beschreibung einer unbeschreiblichen Grausamkeit.

    “Eine Zeit lang ging Gottschalk dem verrückten Gedanken nach, aus der Landschaft und von den Einwohnern ein neues Denken zu lernen, mit dessen Hilfe man alles anders sehen könnte, tiefer und genauer.”
    (Zitat)

    Oberveterinär Gottschalk ist sicher eine Identifikationsfigur, jedoch kein strahlender Held. Der Kontrast zwischen seinem Empfinden und seinen Verhalten ist oft unangenehm und schmerzlich – eine stete Erinnerung daran, wie wenig Widerstand es in den Reihen der Deutschen gegen diesen Genozid gab. Sein Denken und Sehnen zeigt ihn als Menschen, der weiß, dass er Geschehnisse miterlebt, die moralisch nicht zu entschuldigen sind, der quasi schon auf dem Sprungbrett steht – jedoch den Sprung nicht wagt. Ich lasse hier offen, ob er am Ende springt oder nicht.

    Was mir sicher noch lange in Erinnerung bleiben wird, sind seine Ängste, er könne abstumpfen, er könne aufhören, Unrecht als Unrecht zu sehen. Sein moralischer Kompass funktioniert – und dennoch lässt er sich im Verlaufe der Handlung auch auf fatale Abwege leiten, meist aus einem Gefühl der Ohnmacht heraus.

    Nein, Timm hat wahrlich kein Heldenepos geschrieben und vermeidet glorifzierendes Pathos.

    Er erlaubt es dem weißen Leser nicht, sich in oberflächliche moralische Beruhigung zu flüchten, indem er ihm etwa einen weißen Protagonisten an die Hand gibt, der der Unterdrückung und den Grausamkeiten offen und mutig trotzt. Der Rassismus und die Abgründe der Kolonialisierung liegen in all ihrer Grausamkeit bloß und ekelerregend vor dem Auge des Lesers.

    Morenga selber spielte eine deutlich kleinere Rolle als erwartet, obwohl er die größte Symbolfigur für den Konflikt war. Er muss eine beeindruckende Gestalt gewesen sein, charismatisch und intelligent – der wandelnde Beweis dafür, wie falsch ein Großteil der Deutschen damit lag, die Ureinwohner als minderbemittelt und fast schon tierhaft zu betrachten. Er wirkt in diesem Roman indes mehr wie eine Idee, eine Bewegung, eine Entwicklung als eine Person aus Fleisch und Blut – es ist Gottschalk, den ich als die wahre Schlüsselfigur des Buches sehe.

    Fazit

    Uwe Timm beschreibt den Beginn des deutschen Völkermords an den Herero und Nama (ab 1904 in Deutsch-Südwestafrika) in einer gelungenen Mischung aus Sachbuch und Roman.

    Ich habe mich beim Lesen immer wieder gefragt: Warum habe ich das in der Schule nie gelernt? Warum hat mir niemand gesagt, dass es 1904 schon deutsch-bürokratischen Genozid und Konzentrationslager gab? Ich weiß nicht, ob es inzwischen Schulstoff ist, aber das sollte es ein.

    Ich bin froh, dass Uwe Timm mir diese Episode der deutschen Geschichte nähergebracht hat – auch wenn sie so schrecklich ist, dass man sich beim Lesen wünscht, es wäre nur ein Roman.

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  1. Was ist mit den Herero und Nama geschehen?

    Morenga ist nicht der "grandiose historische Roman", den der Klappentext in Aussicht stellt. Er ist vielmehr eine Mischung aus fiktiver Erzählung, Auszügen aus historischen Dokumenten, Gefechtsberichten und Abschnitten zur Landeskunde. Das macht ihn aber nicht weniger lesenswert.

    Das verbindende Element der Romanhandlung ist die wohl fiktive Geschichte um dem Ober-veterinär Johannes Gottschalk, der im Jahr 1904 nach Deutsch-Südwestafrika kommt. Dort haben sich die Herero und Nama gegen die deutschen Kolonialherren erhoben. Der Aufstand wird nach zähem Ringen durch die deutschen Truppen blutig niedergeschlagen. Die Herero und Nama werden dabei nahezu ausgelöscht. Gottschalk ist Teil dieses Geschehens und erlebt Vieles aus erster Hand. Hat ihn anfangs die Abenteuerlust nach Afrika getrieben, so erkennt er über die Zeit das Unrecht, dass den Herero und Nama angetan wird.

    Die Geschichte Gottschalks wird mehrfach unterbrochen. Zu ausgewählten Themen werden Tatsachenberichte eingeflochten. Beeindruckend und abschreckend fand ich insbesondere die Auszüge aus dem Aktenbestand des Gouvernements von Deutsch-Südwestafrika zu den Vorzügen des Vollzugs der Prügelstrafe an den Eingeborenen mit einem Tauende (statt einer Nilpferdpeitsche). Daneben gibt es recht ausführliche Gefechtsberichte, bei denen ich vermute, dass sie auf Tatsachen beruhen, die ich allerdings recht ermüdend fand. Sehr interessant fand ich dagegen die Berichte zur Landeskunde. Diese bilden eine in sich abgeschlossene eigene Geschichte der Kolonialisierung Deutsch-Südwestafrikas, die mit dem Aufstand der Herero und Nama endet. Dieser Teil der Erzählung gibt einen sehr anschaulichen Einblick, wobei ich nicht beurteilen kann, inwieweit hier Tatsachen und Fiktion miteinander vermischt wurden.

    Was mich anfangs verwirrte, die stetige Vermischung fiktiver und tatsächlicher Elemente, scheint Absicht des Autors gewesen zu sein. Das Buch ist dadurch weder eindeutig Sachbuch noch Roman. Es bildet eine eigene Gattung und ist am Ende durchaus "rund".

    Insgesamt ist das Leseerlebnis nicht einfach. Das Buch ist keinesfalls eines, dass man "zwischendurch" lesen könnte, sondern erfordert immer volle Aufmerksamkeit. Dennoch hat es bei mir einen guten Eindruck hinterlassen, wenn ich auch nicht vollends begeistert bin. Daher gibt es von mir gute vier Sterne.

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  1. Deutsche Kolonialgeschichte

    Keine Biografie oder Romanbiografie des Führers der Nama, Jakob Morenga, und auch kein gewöhnlicher Roman ist das bereits 1978 erschienene, zum 80. Geburtstag von Uwe Timm 2020 neu aufgelegte "Morenga". Die Collage aus fiktionaler Erzählung, historischen Dokumenten und authentischen wie erfundenen Berichten ist eine multiperspektivische Auseinandersetzung mit der deutschen Kolonialgeschichte in Südwestafrika, dem heutigen Namibia, von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis 1908.

    Der fiktionale Teil
    Nicht Morenga steht im Zentrum der Handlung, sondern der fiktive Oberveterinär Johannes Gottschalk, der im Oktober 1904 als freiwilliges Mitglied der deutschen Schutztruppen in Deutsch-Südwestafrika ankommt. 34 Jahre ist der Kaufmannssohn aus Glückstadt alt, der mit dem Duft der Gewürze aus aller Welt aufwuchs und sich nun um Truppenpferde und erbeutete Rinderherden kümmern soll. Er träumt von einer eigenen Farm und notiert zu Beginn in seinem Tagebuch:

    "Tr. [General Trotha] sagt, das gesamte Stammesgebiet der Herero soll Kronland werden, d.h. für die Besiedlung freigegeben. Angeblich das beste Land in Südwest, gute Weiden und verhältnismäßig viel Wasser. Ein schöner Gedanke, dass es in dieser Wildnis einmal Augen geben wird, die Goethe lesen, und Ohren, die Mozart hören." (S. 25)

    Was ihn, Kind seiner Zeit und doch von Beginn an mit mehr Empathie für die Eingeborenen ausgerüstet als die meisten seiner Kameraden, erwartet, sind die soeben besiegten Herero, die in Konzentrationslagern an Ruhr, Typhus und Hunger sterben und von ehemals 80.000 auf 15.130 dezimiert werden, sowie ein bevorstehender Guerillakampf gegen die Nama, von den Buren einst Hottentotten genannt, unter ihren Anführern Jakob Morenga und Hendrik Witbooi. Gottschalks steigende Zweifel, Ergebnis seiner Beschäftigung mit der Nama-Sprache und Kontakten zu Einheimischen, sein zunehmendes Außenseitertum und schließlich seine Überlegungen zum Desertieren oder Überlaufen, sind der rote Faden der Romanhandlung, in der es im Frühjahr 1905 heißt:

    "Zwischen dem, was er tat, und dem, was er dachte, war ein Riss. Zuweilen hatte er das Gefühl, als sei der, der da ritt, die Sporen gab, Befehle erteilte, Treiber kontrollierte, ein anderer als der, der alles betrachtete und überdachte. Was ihn beruhigte, was die beiden Teile seines Selbst verband, war der Gedanke, dass ihm momentan nichts anderes zu tun übrigblieb als dieses: seine Pflicht. Aber dann dachte er wieder dran, dass er mithalf, den Kreislauf von Gewalt und Terror fortzusetzen." (S. 285)

    Die Fakten
    Teile des Buches bestehen aus Gefechtsberichten, Akten und Zeitungsberichten und sind an Zynismus teilweise kaum zu überbieten. Diese Dokumente sind sperrig zu lesen und die Schlachtberichte langatmig. Viel interessanter sind die Kapitel zur Landeskunde, die bis in die Zeit der ersten idealistischen Missionare zurückreichen, während der im Deutschen Reich Wollmützchen für Afrikaner gehäkelt wurden. Sie handeln von Händlern, die in den bis dahin in zufriedener Selbstgenügsamkeit lebenden Nama neue Bedürfnisse weckten und sie zur Begleichung ihrer Schulden Überfälle auf die Rinderherden der Herero unternehmen ließen, von Forschern, Landvermessern und schließlich Soldaten.

    Keine leichte Lektüre
    Uwe Timm gehört seit vielen Jahren zu meinen Lieblingsschriftstellern. „Am Beispiel meines Bruders“ halte ich für eines der wichtigsten Bücher der deutschen Nachkriegszeit, „Die Zugmaus“ für ein witzig-fantasievolles Kinderbuch und auch seine neueren Romane wie „Vogelweide“ und „Ikarien“ sind außerordentlich lesenswert. „Morenga“ ist ein Lehrstück über die deutsche Kolonialgeschichte und den ersten Völkermord der Neuzeit, ein Drama ohne Helden, in dem Uwe Timm wie immer auf platte Parolen verzichtet. Eine ungemein lohnende, aber auch anstrengende Lektüre, die mir eine Landkarte, ein Glossar und Anmerkungen dazu, welche Quellen authentisch sind und welche Fiktion, erleichtert hätten. Bereichernd ist das Nachwort von Robert Habeck, der einerseits den Text klug zusammenfasst, ihn andererseits in den Kontext seiner Entstehungszeit während des Kampfes gegen das südafrikanische Apartheitsregime stellt.

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  1. 4
    13. Jun 2020 

    Der Gute

    Beworben hat sich der Oberveterinär Gottschalk nicht für den Einsatz in den deutschen Kolonien. Doch mit seinem Kollegen Wenstrup versteht er sich und gemeinsam lernen sie von ihrem Laufburschen die Nama-Sprache. Die Idylle trügt, denn die Einheimischen werden rebellisch. Verständlicherweise wollen sie ihr Land behalten und ihre eigenen Herren bleiben. Besonders Jakobus Morenga bereitet dem deutschen Militär Schwierigkeiten. Strategisch geschickt plant er seine Scharmützel und schlägt die Deutschen mehr als einmal in die Flucht. Je mehr sich Gottschalk mit Land und Leuten im damaligen Deutsch Südwestafrika beschäftigt, desto weniger kann er verstehen, wieso gegen die einheimische Bevölkerung ein solcher Krieg geführt wird.

    Zum 80. Geburtstag des Autors wurde dieser bereits 1983 erstmals erschienene Roman erneut herausgebracht. Genau aus historischen Quellen und auch im heutigen Namibia recherchiert zeichnet Uwe Timm ein beeindruckendes Bild von den Aufständen der Herero und Nama und dem darauf folgenden Krieg. Sein Veterinär Gottschalk ist dabei das Abbild einer traurigen Hoffnung auf einen guten Deutschen. Er ist einer der Wenigen, die klar sehen, dass hier ein Volk vernichtet wird und der es dennoch erst nach den Ereignissen schafft, um seine Entlassung aus der Armee nachzusuchen. Wenn Gottschalk meint, die Lage verbessern zu können, verkehrt sich die Wirkung gerade ins Gegenteil.

    Erschütternd, mit welcher dummdreisten Leichtigkeit die Militäroberen über die Vernichtung von Menschen entscheiden. Kleinste Anlässe werden als Entschuldigung für schärfste Strafen genommen. Und tödliche Erkrankungen werden billigend in Kauf genommen. Wenn man bedenkt, dass es eines ganzen Heeres bedurfte, um ein paar Hundert Aufständische zu besiegen, zeigt dies, dass die Deutschen wohl doch keine so guten Strategen waren. Wie bedauerlich ist es, dass die sogenannten Sieger die verbleibenden Herero und Nama nach ihrem Gutdünken niedermachen konnten. Nicht das erste Mal steht man fassungslos vor der Schlechtigkeit der sogenannten Herren und fragt sich, wieso die Welt nicht besser ist. Im Übrigen ist dieser zwar etwas sperrige, aber sehr beeindruckende Roman auch verfilmt worden.

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  1. Ein dunkles Kapitel deutscher Kolonialgeschichte

    „Vielleicht wird es einmal selbstverständlich, jeder Kreatur zu helfen und ebenso den Bäumen, Büschen und Blumen, ja sogar der Erde, der Landschaft.“ (S. 407)

    Obiges Zitat ist nur einer von vielen bemerkenswerten Sätzen in Uwe Timm´s erstmals 1978 erschienenen und nun wieder neu aufgelegten Romans „Morenga“. Wobei die Kategorisierung „Roman“ hier nur bedingt „greift“ – ist das Buch doch eher eine Mischung aus historisch verbürgten Tatsachenberichten und eines fiktiven Handlungsstrangs um den Oberveterinär Johannes Gottschalk aus Hamburg, der sich im September 1904 von Hamburg aus nach Deutsch-Südwestafrika aufmacht, um die dort ansässigen deutschen Truppen gegen die Aufständischen Herero und Nama zu unterstützen und sich um die erbeuteten Tiere zu kümmern.

    Doch schon relativ zu Beginn wird klar, dass Timm mit der Person des Johannes Gottschalk eine Person „gestrickt“ hat, die dazu bestimmt ist, seine (also Timm´s) antikolonialistisch geprägten Thesen zu „verbreiten“. So lässt er Gottschalk immer mehr an seinem und dem Tun der deutschen Kolonialherren zweifeln und schließlich seinen Dienst quittieren. Dabei legt Uwe Timm keinen Wert auf plakative Statements, sondern platziert seine Meinung „zwischen den Zeilen“ und überlässt es den Leser*innen, diese für sich zu bewerten – sehr geschickt :-).

    Zwischen den Abschnitten über Gottschalk gewährt Timm den Leser*innen immer wieder einen tiefen Einblick in die afrikanische Geschichte oder berichtet aus Originalquellen der deutschen Truppen. Diese „Gefechtsberichte“ sind teilweise etwas ermüdend und bestimmt nicht für jede*n interessant. Wer sich hingegen für Militärgeschichte interessiert, wird diese Abschnitte mit großem Interesse lesen.

    Hingegen ist die „Landeskunde“ äußerst interessant und lehrreich. Es lässt sich leider nicht immer ganz erkennen, wo die Grenze zwischen Realität und Fiktion verläuft – da wären unterschiedliche Schriftarten oder eine genaue Kennzeichnung sicher sinnvoll gewesen. Aber Timm wollte wahrscheinlich bewusst alles „aus einem Guss“ erscheinen lassen. Und so muss die geneigte Leserschaft öfter mal in das neumodische Lexikon mit dem Anfangsbuchstaben „W“ gucken, ob das, was gerade erzählt wurde, wahr oder fiktiv ist.

    Somit ist „Morenga“ definitiv keine „mal so nebenbei ein Buch lesen“-Lektüre, sondern höchst anspruchsvoll.

    Der titelgebende Morenga (einer der Anführer der Herero) kommt entgegen der Vermutung, dass es hauptsächlich um IHN geht, nur selten im gesamten Buch zum Zuge, was merkwürdig anmutet, aber im Nachgang für mich nicht weiter tragisch ist; schließlich wollte Timm kein biografisches Heldenepos schreiben, sondern auf die Missstände der deutschen Kolonialpolitik aufmerksam machen. Das ist ihm in meinen Augen zu 100% gelungen.

    Auch wenn die Lektüre von „Morenga“ alles andere als einfach war, habe ich das Buch mit stetig wachsender Begeisterung gelesen und werde mir einzelne Passagen wohl auch zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal „zu Gemüte führen“.

    Klare Leseempfehlung und 5*.

    ©kingofmusic

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  1. Zynismus als Aufschrei. Reicht das?

    Die Kriegsverbrechen Deutschlands außerhalb des Zweiten Weltkriegs werden oft unter den Tisch gekehrt. Hier sind sie entsetzlich greifbar.

    Der 2020 wieder aufgelegte und überarbeitete Roman „Morenga“ aus dem Jahre 1978 von Uwe Timm, ist es ganz sicher wert, gelesen zu werden. Er beschreibt den Genozid, den Deutschland und England, beide zusammen, an den Hereros und Hottentotten in Namibia in den Jahren 1904ff. begangen haben. Das Stilmittel des Aufschreies ist Timms spezieller Zynismus.

    Der Roman orientiert sich größtenteils an reinen Fakten, das hießt, es werden zeitgenössische Dokumente mit eingearbeitet. Diese Fakten allein beweisen schon die Unmenschlichkeit, mit der vorgegangen wurde. Die Einheimischen wurden von den Militärs nicht als Menschen betrachtet und entsprechend behandelt: geschlagen, gefoltert, vergewaltigt, eingesperrt, verhungernd, verdurstend: Rassismus niedrigster Art war Alltag in den Köpfen der Europäer. Die Einheimischen leisteten Widerstand. Es herrschte Krieg. Guerillakrieg. Der Anführer der Widerstandskämpfer war ein Häuptling namens Morenga. Dank der zahlreichen Überlegenheit der europäischen Militäre, erlangten diese den Sieg und zwangen die Menschen zum „Frieden“. Und das war das Ergebnis:

    „Der Grundbesitz und das Vieh aller aufständischen Stämme der Herero und Hottentotten wurde enteignet. Gesetze wurden erlassen, die es den Eingeborenen verboten, Grundstücke zu erwerben, Großviehzucht zu betreiben und Reittiere zu haben. … Mehr als zehn Eingeborenenfamilien durften nicht zusammen auf einem Grundstück wohnen. Die Bestimmungen zielten darauf, die Afrikaner wirtschaftlich zu entmachten, sie zugleich dazu zu zwingen, Arbeit bei den Weißen anzunehmen. Darüber hinaus sollte, um die wirtschaftliche Entmachtung und den Zwang zur Arbeit wirksam zu machen, auch die traditionelle Stammesorganisation zerstört werden.“

    Uwe Timm zeigt in seinem Werk, wie Rassendünkel und falscher Missionarseifer zu gemeinen und oft skurrilen Ergebnissen führen. Sein Zynismus ist zuweilen grenzenlos. Solche Berichte brauchen wir. Doch die Auseinandersetzung mit dem Geschehenen findet eigentlich nicht statt. Das alles muss der Leser leisten anhand des Berichteten.

    Eigentlich ist der Roman auch gar kein Roman. Er ist ein Zeitzeugnis, eine Dokumentation, aufgehübscht mit einigen lesbaren Elementen. Es ist folgerichtig, dass der Roman sehr nüchtern gehalten ist und auch gar keinen Helden hat, sondern einen Mitläufer. Immerhin klinkt sich Gottschalk, der Antiheld, eines Tages aus. Das ist vielleicht die weiterreichende Botschaft, sich ausklinken ist das Wenigste, was du du tun kannst. Das aber könnte eigentlich jeder!

    Das Dokumentarische, das sich auch darin niederschlägt, dass viele Kampfhandlungen in langwierigen Passagen nachvollzogen werden, ist jedoch ermüdend. Morenga, die titelgebende Gestalt, spielt nur eine Nebenrolle.

    Ein Nachwort von Robert Habeck bringt keinen Gewinn. Es gibt keine Bereitschaft zur Übernahme politischer Verantwortung. Kein Eingeständnis nationaler und historischer Schuld. Kein Ausblick auf die jetztigen und künftigen Beziehungen, kein Wort zu Reparationszahlungen, zur Entwicklungspolitik. Da ist mehr als dürftig. Könnte man jetzt noch etwas tun, jemanden bestrafen? Ja, zumindest symbolisch. Man könnte sämtlichen verliehenen Orden und Auszeichnungen posthum aberkennen. Das wäre ein Zeichen. Aber im Nachgang PolitikerBlabla? Nein, danke.

    Fazit: Man kann dem Roman selber im Grunde keinen Vorwurf machen, sein Informationsgewinn ist unschlagbar, aber Timms Bindung ans bloß Beschreibende und die Fakten sowie die ausufernde Darstellung von Kriegshandlungen im Einzelnen haben mich oft an die Grenzen meines Interesses gebracht.

    Kategorie: Politisches Buch. Sachdokudrama.
    Dtv, 2020

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  1. 5
    09. Jun 2020 

    Lehrstunde zum Thema deutscher Kolonialismus

    Die Bücher von Uwe Timm begleiten mich schon lange. Er ist ein politisch engagierter Autor, Vertreter der 68Generation und er untersucht in seinen Büchern oft die Auswirkungen von historischen und gesellschaftspolitischen Begebenheiten auf die Biographien seiner Figuren.Nun ist anlässlich seines 80. Geburtstags sein vor über 40 Jahren geschriebener Roman „ Morenga“ neu herausgegeben worden, versehen mit einem klugen und erhellenden Nachwort von Robert Habeck. Als 1978 der Roman erschien, wurde Timm als „ Nestbeschmutzer“ beschimpft. Denn „Morenga“ behandelt ein düsteres Kapitel deutscher Geschichte, nämlich den Aufstand der Hereros und Hottentotten (=ursprüngliche holländische Bezeichnung für die Nama ) in Deutsch- Südwest-Afrika, dem heutigen Namibia und dessen blutige Niederschlagung durch deutsches und englisches Militär. Dieser Völkermord hat zwischen 40.000 bis 60.000 Herero und etwa 10.000 Nama das Leben gekostet, gilt heute als der erste Genozid der Neuzeit.
    Uwe Timm hat für diesen Roman aufwendig recherchiert, z.T. in Archiven, z.T. vor Ort . Das merkt man an der Fülle von Informationen.
    „ Morenga“ ist eine Collage aus echtem Dokumenten ( Zitaten aus militärischen Schriften, Gefechtsberichten , Zeitungsartikel u.ä. ), aber auch aus fiktiven Dokumenten ( wie Tagebucheinträgen, Briefen usw. ) . Das verleiht dem Buch eine ungeheure Authentizität. Außerdem liefern diese historischen Texte Einsicht in die Überlegungen deutscher Militärs, die Interessen der deutschen Wirtschaft, aber auch in den alltäglichen Rassismus. Im Buch befindet sich z.B. ein Dokument über die Prügelstrafe, in dem es darum geht, ob die Nilpferdpeitsche oder das gewohnte Tauende das bessere Züchtigungsmittel ist.
    Diese Dokumente verknüpft der Autor gekonnt mit der fiktionalen Geschichte des Veterinärs Johannes Gottschalk aus Schleswig-Holstein. Er kommt als Freiwilliger nach Deutsch- Südwest. Seine Motive sind nicht ganz eindeutig. Der Krieg selbst ist es nicht, eher der Traum von einer eigenen Farm. Vielleicht war es aber auch eine unbestimmte Sehnsucht aus Kindertagen, als er im Kolonialwarengeschäft seines Vaters von fremden Ländern träumte.
    Aber bald sieht Gottschalk die Lage im Lande kritischer. Den ersten Anstoß dazu geben die Gespräche mit seinem Veterinärkollegen Wenstrup. Der ist ein Querdenker und Sonderling und hält den Krieg für unmenschlich. Während eines Angriffs der Schwarzen verschwindet Wenstrup spurlos. Fahnenflucht? Diese Frage bleibt ungeklärt. Er hinterlässt Gottschalk das Buch eines russischen Anarchisten. Gottschalk beschäftigt sich intensiv damit, auch mit den Anmerkungen, die sein früherer Kollege im Buch hinterlassen hat.
    Gottschalk beginnt die Rolle der deutschen Kolonialisten zu hinterfragen. Er ist abgestoßen von den Grausamkeiten, die die Deutschen begehen, hat Angst, selbst abgestumpft und gefühllos zu werden. Er beginnt, sich für das Leben und die Kultur der Namas zu interessieren. Er lernt sogar deren schwierige Sprache mit ihren Schnalz- und Klicklauten und verliebt sich in eine Nama- Frau.
    Während eines Gefechts kommt es zu einer Begegnung zwischen Gottschalk und der titelgebenden Figur. Jener Jakob Morenga, ein ehemaliger Minenarbeiter, war einer der wichtigsten Anführer der Herero und Nama. Wegen seinem Mut und seinem taktischen Geschick wurde er bei seinen Landsleuten zu einem Symbol für Hoffnung und Stärke. Sogar seine Gegner hatten Respekt vor ihm, dem „ schwarzen Napoleon“, wie er genannt wurde. Er gilt als einer der ersten modernen Guerillakämpfer.
    Am Ende wird Morenga tot sein, 1907 erschossen von seinen britischen Verfolgern. Und Gottschalk hat seinen Dienst quittiert und ist wieder in Deutschland. „ Er wolle sich nicht länger beim Abschlachten unschuldiger Menschen beteiligen.“
    Gottschalk ist kein Rebell. Er sieht das Unrecht, scheut aber den letzten Schritt überzulaufen.
    Timm beschreibt anschaulich seine Entwicklung vom naiven Mitläufer zum kritisch denkenden Beobachter. Diese fiktive Haupthandlung liest sich leicht und lässt Geschichte lebendig werden. Die Gefechtsberichte dazwischen waren mir zu langatmig, dafür sind die eingeschobenen Kapitel „Landeskunde“ wieder sehr lesenswert. In die Rahmenhandlung baut Timm zahlreiche Anekdoten aus den Anfängen der Kolonialzeit. Er geht dazu 50 Jahre zurück und schildert z.B. wie der Missionar Gorth, eine historisch verbürgte Figur, 1852 in Afrika ankommt, um eine Missionsstation zu übernehmen. Er wird von den Einheimischen voller Begeisterung empfangen, aber nicht, weil sie sich auf das Wort Gottes freuen, sondern weil das Gesicht des Missionars Ähnlichkeit mit einem Schaf aufweist.
    Auch das Kapitel über den historischen Händler Klügge ist ein Rückblick in die 1850er Jahre. Er geht in die Geschichte ein als der Mann, der mit einem riesigen Branntweinfass die Wüste durchquert, mit der Hoffnung auf ein lukratives Geschäft. Zu seinem Entsetzen muss er feststellen, dass der Stamm, den er mit dem Alkohol abhängig machen möchte, von ihrem Missionar zur Abstinenz bekehrt wurde.
    Mit solchen Geschichten macht Timm diese Figuren lächerlich und entlarvt ihre Ignoranz . Fazit:
    „Morenga“ ist eine Lehrstunde zum Thema deutsche Kolonialgeschichte. Ein wichtiges Buch, das dem Leser viel Konzentration und Recherche abfordert, doch die Mühe lohnt sich.
    Unbedingt lesenswert!

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  1. Rotes Land

    Rotes Land

    Namibia 1904:
    Die Herero und Nama erheben sich gegen die deutschen Kolonialherren. Der Veterinär Gottschalk hat sich als Soldat freiwillig für den Einsatz in der Kolonie entschieden, und ist die zentrale Figur in dieser Geschichte. Nach der Ankunft in Deutsch-Südwest wird er für die Betreuung von Pferden und Rindern eingesetzt. Seine Tagebucherinnerungen sind ein wichtiger Teil der Handlung, in deren Verlauf er sich immer mehr von der anfänglich enthusiastischen Stimmung entfernt.
    Dazu kommt die Erzählung von der beginnenden Missionierung der "Wilden", Eintragungen über Gefechtsverläufe oder Diskussionen von hohen Beamten über die Art und Weise wie die " Eingeborenen" am humansten ausgepeitscht werden sollten.

    Zu Beginn war Morenga doch ein wenig schwierig zu lesen. Erst im weiteren Verlauf wurde ich mit dem Thema richtig warm, würde der Stil angenehm. Das der Titel einen Anführer des Aufstandes von 1904 benennt und dieser dann kaum erwähnt wird, ist für mich erstmal nicht zu verstehen gewesen, im Nachhinein passte es dennoch perfekt.

    Ohne anzuklagen wird die Geschichte erzählt, und das ist auch das faszinierende am Schreiben von Uwe Timm. In einfachen Worten wird mitgeteilt, was damals geschah und der Leser kann sich entscheiden wie er dazu steht. Ein, trotz seines Alters immer noch aktuelles Buch, das gelesen werden sollte.
    Das 1978 zuerst herausgegebene Buch, das zum 80 Geburtstag des Autors neu aufgelegte wurde, ist eine gute Gelegenheit etwas über die Geschichte der deutschen Kolonien zu erfahren. Es wird gut aufgezeigt wie sich die Europäer verhalten haben, das es auch damals bereits Stimmen gab, die das als Unrecht sahen.

    Uwe Timm wurde 1940 geboren und absolvierte zuerst eine Lehre als Kürschner. Er studierte dann Philosophie und Germanistik in München und Paris. Seit Anfang der 70er lebt er als freier Schriftsteller in München.
    Er ist in vielen Bereichn der Literatur aktiv und das sicherlich bekannte Rennschwein Rudi Rüssel gehört auch zu seinen Werken.

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  1. Erschütternd

    „[…] daher vertrete er von nun an die Idee einer illusionslosen Utopie – einer Utopie, […] anders gesagt einer unmöglichen, unerreichbaren Utopie, nach der man jedoch unentwegt und bis zum höchstmöglichen erreichbaren Emanzipationsniveau streben müsse.“ (S. 222)

    Es gibt ja immer wieder Bücher, die einen nicht „direkt“ anspringen, sondern sich langsam, von hinten heranschleichend, im Leser oder der Leserin verankern und die dann ihre „Beute“ nicht mehr loslassen.

    So ging es mir mit „Weine nicht“ der französischen Schriftstellerin Lydie Salvayre. Das mag vornehmlich daran liegen, dass wir es bei vorliegendem Buch nicht direkt mit einem Roman zu tun haben. Es ist eher ein „biografisches durchsetztes Aufklärungsbuch“.

    Biografisch deshalb, weil die Autorin, die für dieses Buch im Jahre 2014 mit dem „Prix Goncourt“ ausgezeichnet wurde, die Geschichte ihrer Mutter im Sommer 1936 (dem Beginn des spanischen Bürgerkriegs) zugrunde legt und diese Biografie mit den Erlebnissen des Autors Georges Bernanos auf Mallorca mischt, der seine Erlebnisse in „Die großen Friedhöfe unter dem Mond“ (1938) niederschreibt.

    Dadurch kommt es zu einem aus meiner Sicht überragenden Lehrbuch in Sachen „Spanischer Bürgerkrieg“ – ohne auf Vollständigkeit zu pochen. Jedoch bekommt die geneigte Leserschaft einen ziemlich guten Einblick in den Verlauf des Krieges, die verschiedenen Gruppierungen und verfeindeten Lager und die Gräueltaten der Faschisten, die von der katholischen Kirche allesamt „abgesegnet“ und somit öffentlichkeitswirksam geduldet wurden – beispiellos ekelhaft und menschenverachtend.

    Es kann nicht genug solche Aufklärungsbücher geben; mögen sie die „richtigen“ Leser*innen erreichen und ein Umdenken stattfinden (siehe Zitat).

    5*

    ©kingofmusic

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