Moby Dick, übersetzt von Gerhard Lorenz.

Rezensionen zu "Moby Dick, übersetzt von Gerhard Lorenz."

  1. 3
    19. Jul 2020 

    Anstrengend aber lohnenswert...

    Das Werk "Moby-Dick; oder: Der Wal" (englisch "Moby-Dick; or, The Whale") ist ein 1851 in London und New York erschienener Roman von Herman Melville. Das erzählerische Rückgrat des Romans ist die schicksalhafte Fahrt des Walfangschiffes "Pequod", dessen Kapitän Ahab mit blindem Hass den weißen Pottwal Moby Dick jagt, der ihm ein Bein abgerissen hat.

    Entlang dieses erzählerischen Fadens, der knapp die Hälfte des Romans ausmacht, reiht Melville zahlreiche philosophische, wissenschaftliche, kunstgeschichtliche und mythologische Exkurse, zu denen noch viele subjektive, mal lyrische, mal auch ironische Betrachtungen des Autors kommen. In diesem Rahmen wird auch die Welt des Walfangs im 18. und 19. Jahrhundert detailreich dargestellt.

    Meine Ausgabe ist ein antiquarisches Werk - vermutlich aus den 50er oder 60er Jahren des letzten Jahrhunderts. Erschienen ist sie im Eduard Kaiser Verlag, jedoch ist kein Erscheinungsjahr angegeben, und auch eine ISBN-Nummer sucht man hier vergeblich. Das Buch gehört neben anderen Werken in ähnlicher Ausgabe zum Erbe meiner Eltern, und eine Leserunde veranlasste mich nun, diesen Roman endlich auch einmal zu lesen. Klassiker eben.

    Im Rahmen der Leserunde stellte sich heraus, dass es bei den Ausgaben v.a. im Umfang große Unterschiede gibt. Meine gehört mit 392 Seiten zu den schmaleren Exemplaren, andere dagegen haben einen Umfang von über 800 Seiten. Demnach besitze ich offensichtlich eine gekürzte Ausgabe - und im Nachhinein muss ich gestehen, dass ich froh darüber bin.

    Bei der Geschichte selbst um Ahab und seinen verbissenen Kampf gegen den weißen Wal ist vermutlich kaum gekürzt worden, wohl aber bei den zahlreichen thematischen Exkursen. Im Grunde handelt es sich bei "Moby Dick" wohl am ehesten um eine Mischung aus Abenteuerroman, Sachbuch, poetischen Naturschilderungen und essayhaften Ausführungen von religiös-philosophischen Gedankengängen. Klingt anstrengend? Ist es auch, selbst bei meiner gekürzten Fassung.

    Beim Lesen stellte ich mir oft die Frage: warum? Hatte Melville womöglich Sorge, ansonsten die für einen Roman notwendige Seitenzahl nicht zusammen zu bekommen? Ich glaube nicht. Wichtig ist es wohl, das Werk in dem historischen Kontext zu sehen, in dem es erstand. Tatsächlich werden wohl auch autobiografische Anteile mit in die Erzählung geflossen sein, da Melville selbst auch einige Jahre lang zur See fuhr (1840-1844) und dabei auch auf einem Walfänger anheuerte.

    Ende des 18. Jahrhunderts sowie die Jahre des 19. Jahrhunderts etwa bis zum amerikanischen Bürgerkrieg (1861-1865) boomte der Walfang in Amerika. Nantucket, die kleine vorgelagerte Insel vor der amerikanischen Ostküste, entwickelte sich zu einem der bedeutendsten Walfangzentren der Welt - später lief ihm der kleine Ort New Bedford an der Ostküste den Rang ab (1950 der reichste Ort der Welt). Beide Orte tauchen zu Beginn der Romans von Melville auf, und die Bedingungen, die er da schlidert, scheinen ein authentisches Bild der damaligen Situation in den Walfangzentren darzustellen.

    Überhaupt hat Melville sich bemüht, seine Beschreibungen sehr detailliert und bildhaft zu verfassen, so dass auch unkundige Leser, die nie auf einem Walfänger angeheuert haben/hatten, z.B. Abläufe und Aufbauten auf dem Schiff oder beim Walfang sowie die Funktion von Gerätschaften nachvollziehen können/konnten. Als ich mir vor Augen hielt, dass es damals keine TV-Dokumentationen, kein Internet oder sonstige Möglichkeiten gab, solcherlei in Bild und Ton festzuhalten, konnte ich mich mit den zuweilen doch sehr ausschweifenden Schilderungen eher anfreunden, die aus heutiger Sicht gesehen z.T. durchaus langatmig - und ja, leider auch langweilig erscheinen.

    Auch die ausschweifenden Exkurse über Wale im Allgemeinen, ihr Verhalten und ihre Nützlichkeit/Verwertung für den Menschen im Besonderen, sind in diesem Kontext nachvollziehbar. Was sich heute in farbigen Bildbänden wunderbar nachlesen oder in Tier-Dokumentationen nachschauen lässt, konnte damals eben nur in schriftlicher oder mündlicher Form weitergegeben werden. Und Melville wollte da offensichtlich kein Detail auslassen.

    Durch die religiös-philosophischen Textanteile mit biblischen und mythologischen Anspielungen bringt Melville auch eine oder mehrere metaphysische Ebene(n) ins Spiel. Themen wie Wahrheit und Gerechtigkeit, die Grenzen menschlichen Handelns, der Kampf gegen die zerstörerische Urgewalt der Natur oder gar gegen das Böse selbst drängen sich auf. Wenn man googelt, erscheinen noch andere Deutungen möglich - so z.B. eine Allegorie der menschlichen Natur, eine heiter-düstere Parabel der amerikanischen Expansionspolitik, die Zerstörung der Natur durch den Menschen u.a.m.

    Die genannten Aspekte machen sicher deutlich, dass "Moby Dick" keine einfache Lektüre, kein einfacher, rein unterhaltsamer Abenteuerroman ist. Im historischen Kontext seiner Entstehung gesehen behält dieser Roman aber auch in heutiger Zeit seine Bedeutung, bietet er doch einen intensiven Einblick in diesen Teil der amerikanischen Geschichte, der seinesgleichen sucht.

    Auf den Punkt gebracht, bleibt daher: anstrengend aber lohnenswert!

    © Parden

    https://youtu.be/TT7Ko9BwC9k

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