Mit Blick aufs Meer: Roman

Buchseite und Rezensionen zu 'Mit Blick aufs Meer: Roman' von Elizabeth Strout
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5 von 5 (3 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Mit Blick aufs Meer: Roman"

In Crosby, einer kleinen Stadt an der Küste von Maine, ist nicht viel los. Doch sieht man genauer hin, ist jeder Mensch eine Geschichte und Crosby die ganze Welt. Und Olive Kitteridge, eine pensionierte Mathelehrerin, sieht sehr genau hin. Sie kann stur und boshaft sein, dann wieder witzig, manchmal sogar eine Seele von Mensch. Auf jeden Fall kommt in Crosby keiner an ihr vorbei ... Mit liebevoller Ironie und feinem Gespür für Zwischenmenschliches fügt die amerikanische Bestsellerautorin die Geschichten um Olive und Crosby zu einem unvergesslichen Roman.

Format:Taschenbuch
Seiten:352
Verlag: btb Verlag
EAN:9783442742035

Rezensionen zu "Mit Blick aufs Meer: Roman"

  1. Im Großen und Kleinen

    In dem kleinen Küstenort Crosby/Maine lebt Olive Kittridge, namensgebend für den Originaltitel, gemeinsam mit ihrem Ehemann Henry. Wir sehen Bilder ihrer Ehe, lernen die komplizierte Mutter-Sohn Beziehung zu Christopher kennen. Wie kleine Schubladen öffnen sich Erzählungen über ein Sammelsurium an anderen Bewohnern, Freunden, Nachbarn.
    Mit Blick aufs Meer ist eine Aneinanderreihung kleiner Geschichten alter Menschen, junger Menschen, Menschen, die miteinander alt werden, deren Leben sich kreuzen und wieder auseinanderlaufen, sich lieben, sich trennen. Mit all ihren Hoffnungen, Sehnsüchten, Ängsten und Träumen. Durch alle Geschichten hinweg ist Olive Kittridge das verbindende Element. Olive die dickliche alternde ehemalige Lehrerin. Olive, die so herrisch sein kann, kategorisch, etwas Gnadenloses hat sie an sich, und dann wiederum ist sie so verletzlich in ihrem Kummer, wenn sie an ihren verstorbenen Vater denkt oder um eine junge Frau weint, die sie kaum kennenlernen konnte. Das Leben zeigt sich in allen Facetten, leben sterben, lieben, verlieren, neu entdecken.
    „Sie weiß, dass Einsamkeit der Tod sein kann…Nach Olives Überzeugung braucht man zum Leben, was sie bei sich „Auftrieb“ nennt. Auftrieb im Großen, das sind Dinge wie Heiraten oder Kinder, Beziehungen, die uns über Wasser halten, aber solch mächtiger Auftrieb birgt gefährliche Unterströmungen in sich. Deshalb braucht man dazu noch den Auftrieb im Kleinen: ein freundlicher Verkäufer bei Bradlees etwa oder die Kellnerin bei Dunkin’ Donuts, die weiß, wie man seinen Kaffee möchte. Keine leichte Sache also.“
    Mit Olive zu leben war nie einfach, nicht für Henry, nicht für Christopher. Olive verhält sich nach außen hin oft unmöglich, trägt ihr Herz auf der Zunge, kann übergriffig bis gemein sein. Wenn es darauf ankommt, ist sie eine die zupackt, nicht wegsieht. Manchmal überkommt sie eine dunkle Schwärze, eine seltene Angst, ein Hunger nach dem Leben, Liebe Zuneigung.
    „Vor seinem eigenen Hunger darf man nicht weglaufen. Wer vor seinem eigenen Hunger wegläuft, ist auch nur eine Schießbudenfigur wie all die anderen.“
    Mit Blick aufs Meer ist ein sehr melancholisches Buch. Elizabeth Strout erzählt in ruhiger, klarer Sprache von Großen Dingen und unzähligen Kleinigkeiten des Lebens, völlig unaufgeregt und rührt trotzdem kleine feine Emotionen auf. Es ist ein leises Buch, manchmal unwirsch, dann wieder ganz behutsam und hinterlässt eine angenehme Erinnerung.

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  1. Nicht weglaufen vor dem eigenen Hunger

    Zwei Klammern halten die 13 Erzählungen in Elizabeth Strouts 2009 mit dem Pulitzerpreis ausgezeichneten Erzählband "Mit Blick aufs Meer" zusammen: die fiktive US-Kleinstadt Crosby an der nördlichen Küste von Maine und die ehemalige Mathematiklehrerin Olive Kitteridge, nach der die 2008 erschienene Originalausgabe benannt ist.

    Crosby ist ein Durchschnittsstädtchen mit Kirche, Grange Hall der Farmervereinigung und Lebensmittelladen. Genauso durchschnittlich sind seine Bewohnerinnen und Bewohner, die in den Geschichten abwechselnd aus dem Schatten ins Rampenlicht treten. Es sind Menschen wie der Psychiater Kevin Coulson aus New York, der in „Flut“ mit Selbstmordabsichten in seinen Heimatort zurückkehrt, die Barpianistin Angela O’Meara aus „Frau am Klavier“ mit Alkoholproblemen und unglücklichen Männerbeziehungen, die magersüchtige Nina White, die in „Hunger“ die verwitwete Daisy und den verheirateten Harmon noch enger zusammenschweißt, oder Julie Harwood, die in „Flaschenschiff“ am Hochzeitstag von ihrem Verlobten im Stich gelassen wird.

    Beim Bummel durch Crosby werfen wir einen Blick auf die Wendepunkte in ihrem Dasein, um uns dann der nächsten Figuren zuzuwenden. Lediglich Olive Kitteridge ist in allen Geschichten präsent, mal am Rande, mal im Zentrum. Ihr Leben und das ihrer Familie gibt Orientierung und steckt den zeitlichen Rahmen über mehrere Jahrzehnte ab.

    Raue Schale, weicher Kern
    Als ehemalige Mathematiklehrerin an der Crosby Junior High School kennt Olive jede und jeden im Städtchen. Dort wie in ihrer Familie wird sie mehr gefürchtet als gemocht. Ihre scharfe Zunge, ihr aufbrausendes Temperament und ihre radikale Ehrlichkeit sind anstrengend und berüchtigt. Nicht nur ihr gutmütiger, allseits beliebter Mann Henry, sondern vor allem ihr Sohn Christopher haben darunter zu leiden. Doch Olive wäre nicht Olive, wenn sie es nicht zugeben könnte:

    "… tief in mir sitzt etwas, und ab und zu pumpt es sich voll wie der Kopf eines Tintenfisches und stößt einen Schwall von Schwärze aus. Ich habe mir das nicht ausgesucht, aber so wahr mir Gott helfe, ich habe meinen Sohn geliebt." (S. 95/96)

    Zugleich kann Olive, die den Smalltalk hasst, aber in Notfällen zur richtigen Zeit am richtigen Ort auftaucht und die richtigen Worte findet, ebenso einfühlsam wie verletzlich sein. Sie verabscheut ihre Korpulenz und Grobknochigkeit, möchte geliebt werden und lieben:

    "„Ich bin auch am Verhungern“, sagte Olive. Das Mädchen schaute zu ihr herüber. „Klar“, sagte Olive. „Oder was glaubst du, warum ich jeden Doughnut esse, den ich in die Finger kriege?“" (S. 126/127)

    Das Herausragende im Alltäglichen finden
    Immer wieder hat mich "Mit Blick aufs Meer" an die wundervollen Bücher von Kent Haruf erinnert, die alle im Städtchen Holt, Colorado, spielen. Hier wie dort stehen ganz gewöhnliche Menschen mit ihren alltäglichen Höhen und Tiefen im Mittelpunkt, geht es um Jugend und Alter, Eheprobleme und Ehefreuden, Familie, Tod, Befreiungsschläge und immer wieder um den Kampf gegen die Einsamkeit. Elisabeth Strout hat mich mit diesem ebenso empathisch wie kitschfrei erzählten Buch bestens unterhalten und Olive Kitteridge bleibt als Romanfigur im Gedächtnis – mit ihrer Gespaltenheit und Lebensweisheiten wie dieser:

    "Vor seinem eigenen Hunger darf man nicht weglaufen. Wer vor seinem eigenen Hunger wegläuft, ist auch nur eine Schießbudenfigur wie all die anderen." (S. 255)

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    01. Jun 2020 

    Kleinstadtgeschichten

    Elizabeth Strout hat für diesen Roman 2009 den renommierten Pulitzerpreis erhalten. Sie porträtiert hierin die Einwohner einer fiktiven Kleinstadt in Maine, an der Ostküste der USA.
    Der Roman besteht aus insgesamt 13 Erzählungen mit wechselnden Protagonisten. Aber eine Gestalt taucht in den meisten Geschichten auf, mal als Hauptfigur, mal nur am Rande und verbindet so die einzelnen Episoden zu einem Ganzen: Olive Kitteridge, die Ehefrau, dann die Witwe des Apothekers, zuerst Mathematiklehrerin , später pensioniert.
    Olive ist eine vielschichtige Figur. Sie weckt beim Leser widerstreitende Gefühle und wird auch von den verschiedenen Personen im Buch unterschiedlich wahrgenommen. Sie ist zum einen gnadenlos ehrlich, schroff und sehr direkt, blind gegenüber ihren eigenen Fehlern ( zumindest am Anfang ) , dann aber wieder unerwartet warmherzig, hilfsbereit und einfühlsam.
    Ihr Mann Henry ist stets freundlich und zuvorkommend, allen gegenüber. Seine Gefühle zu einer jungen Angestellten von ihm sind anfangs eher väterlich, beschützend, später gehen sie tiefer. Aber eine Affäre bzw. eine Scheidung kommt für ihn nicht in Frage. Genauso wenig wie für Olive, die sich in einen Arbeitskollegen verliebt. Zu einem Bruch zwischen dem Ehepaar Kitteridge kommt es bei einem Überfall. Unter dieser Extremsituation sagt Olive Dinge, die besser ungesagt geblieben wären. Henry ist nicht mehr bereit, dies seiner Frau nachzusehen, vor allem, weil sie sich auch nie für irgendetwas entschuldigt. Erst im Alter, nach dem Tod ihres Mannes, erkennt Olive, wie viel Liebe Henry ihr entgegengebracht hat und wie oft sie diese unachtsam weggeschoben hat.
    Das Verhältnis zum Sohn Christopher ist schwierig. Obwohl Olive immer ihre Liebe zu ihm betont, erfährt der Leser, dass sie keine besonders gute Mutter war . Erst mit 38 Jahren heiratet Christopher etwas überstürzt und zieht weg. Nur so ist es ihm möglich, sich aus der erdrückenden Beziehung zu seiner Mutter zu lösen. Die Eltern sind natürlich enttäuscht, dass er nicht in dem Haus leben möchte, das sie für ihn gebaut haben. Bei einem späteren Besuch von Olive in New York hofft man auf eine Annäherung zwischen Mutter und Sohn, aber vergeblich. Hier werden viele Vorwürfe Christophers endlich ausgesprochen.
    Im letzten Kapitel wird der Leser mit Olive versöhnt. Die Schicksalsschläge haben ihre Sichtweise auf sich und ihre Mitmenschen verändert. Sie erkennt die Fehler, die sie gemacht hat und findet vielleicht noch ein letztes Glück.
    Auch in den anderen Geschichten, bei denen man verschiedene Bewohner der Kleinstadt näher kennenlernt, geht es um die kleineren und größeren Tragödien des Lebens, um Trauer, um Einsamkeit, um Lebenslügen und zerbrechende Illusionen. So erzählt die Autorin von einer Barpianistin mit einem Alkoholproblem, von einer Witwe, die mit einem verheirateten Mann eine Affäre hat , von einem magersüchtigen Mädchen, einem selbstmordgefährdeten Exschüler usw.
    Elizabeth Strout versteht es , unverwechselbare, lebendige Charaktere zu erschaffen. Bei aller Tragik ist der Roman doch oft auch komisch. Das alles ist klug und liebevoll erzählt, voller Weisheit und Lebenserfahrung.

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