Meine Eltern

Buchseite und Rezensionen zu 'Meine Eltern' von Aharon Appelfeld
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Inhaltsangabe zu "Meine Eltern"

Gebundenes Buch
August 1938: Am Ufer des Flusses Prut in Rumänien versammeln sich die Sommerfrischler, überwiegend säkularisierte Juden, darunter ein Schriftsteller, eine Wahrsagerin, eine früher mit einem Christen liierte Frau, die nun auf Männerschau ist. Auch der zehnjährige Erwin und seine Eltern sind hier, doch das Kind spürt, dass etwas anders ist: Hinter den Sommerfreuden, den Badeausflügen und Liebeleien geht die Welt, die alle kennen, zu Ende. Einige reisen früher ab, andere verdrängen die Nachrichten aus dem Westen. Spannungen bleiben nicht aus, auch nicht zwischen den Eltern, der Mutter, die Romane liest, an Gott glaubt und an das Gute, und dem Vater, dem Ingenieur, der alles rational und pessimistisch sieht. Als die Familie in die Stadt aufbricht, überfällt Erwin die Furcht. In der Schule wurde er geschlagen und als "Saujude" beschimpft - und er beginnt zu ahnen, dass an den unterschiedlichen Haltungen seiner Eltern noch viel mehr hängt: die Zukunft, das Überleben.
Ein feinfühliger Roman, der seismographisch die Brutalität des heraufziehenden Krieges verzeichnet - und zugleich das Porträt einer bürgerlichen Welt vor der Katastrophe. Eines der persönlichsten Bücher von Aharon Appelfeld, direkt, ehrlich und doch auch kindlich-schön.

Format:Gebundene Ausgabe
Seiten:272
EAN:9783737100311

Rezensionen zu "Meine Eltern"

  1. Eine verlorene Kindheit

    Ein Roman, der wie der vorliegende gegen das Vergessen anschreibt. Appelfeld erzählt in "Meine Eltern" vom letzten unbeschwerten Sommer Erwins, das Alter ego des Autors, der zu Beginn des Romans sein eigenes Schreiben, den Verlust der Muttersprache und der Erinnerungen reflektiert.
    Am 4.Januar 2018 starb Aharon Appelfeld in Tel Aviv.

    Inhalt

    "Im Lauf meines Schreibens kehre ich immer wieder in das Haus meiner Eltern in der Stadt und in das Haus meiner Großeltern in den Karpaten zurück, und auch an die anderen Orte, wo ich Zeit mit ihnen verbrachte. Ich sage, ich kehre zurück, aber das ist nicht ganz richtig." (S. 5)

    Denn der Ich-Erzähler trägt in seiner Erinnerung jene Häuser in sich, er betrachtet sie mit dem Blick des Kindes, denn die

    "schöpferische Arbeit braucht diesen Blick des Kindes. Wenn du das Kind in dir verlierst, wird der Gedanke zur Gewohnheit, du entfernst dich unmerklich vom Staunen, vom ersten Blick, und das schwächt den schöpferischen Prozess." (S.5f.)

    Zu Beginn reflektiert der Ich-Erzähler über sein Schreiben selbst, über die Schwierigkeit,

    "die richtigen Worte für deine Gefühle zu finden" (S.7).

    In seinen Erinnerungen kehrt er an den Fluss Pruth (in Rumänien) zurück, wo er mit seinen Eltern immer die Sommerferien in einer Hütte verbringt. Es ist August 1938 und die Gerüchte eines aufkommenden Krieges vergiften die Atmosphäre am Flussufer, dessen Publikum aus der jüdischen Bürgerschicht besteht, denn nur sie kann sich "einen Monat Urlaub in dieser ländlichen Gegend am Fuß der Karpaten erlauben." (S.10)

    Eine illustre, teils dekadente Gesellschaft versammelt sich zum Sonnenbaden und Schwimmen am Fluss und wird von Erwins Vater stets mit einem ironischen Blick betrachtet:

    die große Frau, deren kleiner Mann sie bedient
    der einbeinige Mann, der wegen seiner Zuckerkrankheit ein Bein verloren hat und etwas abseits sitzt
    P., die von ihrem Freund Franz verlassen wurde und Angst vor der Zukunft hat
    der Schriftsteller Karl König, der nur abends ans Flussufer kommt und tagsüber schreibt
    Rosa Klein, die aus der Hand liest,
    der aufopferungsvolle Doktor Zajger, der für seine Patienten lebt,
    Slobo, der große Sanitäter
    die großen Mädchen, die Erwins sehnsüchtig betrachtet und in die er sich verliebt
    Neben all diesen Figuren sind es Erwins Eltern, die seine Erinnerung und sein Schreiben begleiten.

    "Wenn ich eine Geschichte oder einen Roman schreibe, begleitet mich der Rhythmus der Stimme meiner Mutter zu den Toren der Phantasie." (S.17)

    "An mein Vater erinnere ich mich immer, wenn ich einen Essay schreibe. Für einen Essay braucht man klare Gedanken, die richtige Mischung von Tatsachen und Argumenten." (S.18)

    Während die Mutter in seiner Gegenwart oft von Gott spricht und den Glauben ihrer Eltern lebt, ist sein Vater von Vernunft geprägt und lehnt das traditionelle Judentum ab. Er ist ein säkularisierter Jude, wie so viele am Flussufer.

    Gemeinsam mit seinen Eltern unternimmt Erwin Ausritte, bewegt sich in der Natur - sogar ein christliches Kloster besuchen sie, da der Vater einen der Mönche aus der Kindheit kennt. Sergej konfrontiert ihn mit seinem fehlenden Glauben. Gegenüber Erwin äußert der Vater dazu:

    "Ich freue mich, dass Mama an ihren Eltern und an ihrem Glauben hängt. So ist es richtig. Aber ich habe mich aus bestimmten Gründen - die einen kenne ich, andere bleiben mir verborgen - von meinen Eltern und vom Glauben gelöst. Ich kann mich nicht in einen Gebetsmantel hüllen und beten, selbst wenn ich es wollte. Die Natur, die Berge, die Wälder und die Quellen sind mein Glaube." (S.141)

    Die Frage nach dem Glauben, dem richtigen Leben durchzieht der Roman ebenso wie die drohende Gefahr des Krieges und der Hetze gegen die Juden.

    "Es stimmte, in der Fabrik meines Vaters lief nicht alles glatt, in der Schule nannte man mich "den Juden" und verfluchte mich, doch mein Vater und meine Mutter hofften, dass all das Beängstigende und Ungesetzliche, das um uns herum geschah, sich wieder auflösen und die Normalität zurückkehren würde." (S.39)

    Auch im Urlaub am Fluss kommt es zu Anfeindungen der Bauern gegenüber den Juden, der kommende Krieg ist ständiger Gesprächsstoff und immer wieder werden Beschwichtigungen ausgesprochen.

    Trotzdem ist es ein hoffnungsvoller Roman, denn die Liebe seiner Eltern, die Erwin das Schwimmen beibringen, ihn umsorgen, mit ihm ernsthaft reden, ihn einbeziehen, ist etwas, was er aus dieser Zeit mitnimmt - selbst wenn seine Eltern nicht mehr sind, eine Angst, die Erwin in seinen Träumen verfolgt. Eine Erfahrung, die der Autor Aharon Appelfeld kennt, da er seine Mutter im Krieg verloren hat.
    Er zeichnet in diesem Roman das Bild einer untergehenden Welt, ein letztes Aufatmen und Ausruhen vor den schrecklichen Ereignissen, die auf die Menschen am Fluss zukommen. Sehr sensibel legt der Ich-Erzähler ihre Ängste frei und ihr Wunsch, am Bestehenden festzuhalten.

    Gleichzeitig thematisiert er die Angst vor dem Verlust der Muttersprache. Karl König, der Schriftsteller, dessen Eltern nach Amerika ausgewandert sind, wird gefragt, warum er ihnen nicht folge. Darauf antwortet er:

    "Vergessen Sie nicht, meine Dame, meine Muttersprache ist Deutsch. Die Sprache ist die Seele eines Menschen, und sie ist mein Instrument. Was soll ich in der amerikanischen Fremde anfangen? Gott sei Dank sprechen hier alle Deutsch." (S.180)

    Appelfeld, der in Czernowitz, dem ehemaligen Bukowina geboren ist, hat als Kind mit seinen Eltern Deutsch gesprochen. Nach dem Krieg, den er teilweise im Wald und als Küchenjunge bei der Roten Armee überlebt hat, wanderte er nach Israel aus, wo er Hebräisch lernte - in seinen Werken erinnert er an die verlorene Welt seiner Kindheit.

    Ein lesenswerter Roman gegen das Vergessen!

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