Mein Name ist Selma

Buchseite und Rezensionen zu 'Mein Name ist Selma' von Selma van de Perre
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Inhaltsangabe zu "Mein Name ist Selma"

Diskussionen zu "Mein Name ist Selma"

Format:Gebundene Ausgabe
Seiten:224
Verlag: Btb
EAN:9783442759057

Rezensionen zu "Mein Name ist Selma"

  1. Widerstand und Konzentrationslager

    Manchmal denke ich, dass ich schon so viel über den Holocaust gelesen habe, dass mich nur noch wenig überraschen könnte – die Erinnerungen Selma van de Perres beweisen mir einmal mehr das Gegenteil. Denn weder der Widerstand in den Niederlanden noch der sehr außergewöhnliche Weg dieser am 07. Juni 1922 geborenen Frau sind in Deutschland wirklich bekannt.

    Der Weg in den Widerstand
    Die Gefahr des Nationalsozialismus schlich sich langsam in das Leben der Jugendlichen in den Niederlanden. Viele lebten lange in dem Glauben, es würde Ihnen und Ihrem Land nichts passieren und so beginnt das Buch mit Erinnerungen an eine Kindheit und Jugend, die zwar manchmal von wirtschaftlichen Sorgen der Eltern geprägt, aber ansonsten sehr unbeschwert waren – eine Unbeschwertheit, die 1939 in den Niederlanden bei vielen Menschen noch herrschte. Dies ist ein ganz anderer Blick auf den aufziehenden Holocaust, als man ihn aus den Schilderungen deutscher Jüdinnen und Juden kennt. Aber schnell wird deutlich, wie sehr sich diese langsam steigernde Bedrohung auswirkte, gerade auch auf Menschen, die den jüdischen Glauben bis zu diesem Zeitpunkt nicht oder kaum lebten. Denn nun wurde dies zu einer identitätsstiftenden Eigenschaft, ein Mensch wurde nur noch darüber definiert, sein komplettes Leben davon bestimmt. Und so tauchten auch die van de Perres, nachdem ihnen die Gefahr durch die Nationalsozialisten mehr und mehr bewusst wurde, unter und Selma begann, sich im niederländischen Widerstand zu betätigen.

    "Ich hatte keine Vorstellung davon, in welchem Maße ich mich an den Aktivitäten des Widerstandes beteiligen würde; es ging mir noch hauptsächlich um meine eigene Sicherheit. Erst später dachte ich allmählich darüber nach, wie ich anderen würde helfen können."

    Ab dieser Zeit beginnt auch ein im Nachhinein unglaubliches Versteckspiel, das für uns heute eine kaum vorstellbare Disziplin erfordern musste: Selma van de Perre war von Ihrem Äußeren nicht als Jüdin zu erkennen und lebte daher „als nichtjüdische Blondine“ konsequent unter einem Pseudonym (Margareta van der Kuit); sie hielt ihren wahren Namen selbst gegenüber den meisten Vertrauten im Widerstand und im Konzentrationslager geheim und erst nach dem Krieg konnte sie wieder sagen „Mein Name ist Selma“ – ein für sie ganz besonderer Moment.

    Selma van de Perre erzählt ihre Geschichte zwar chronologisch, aber immer wieder reflektiert aus der Rückschau: „Damals konnte ich noch nicht wissen, dass die de Jongs den Krieg nicht überleben würden." oder „Das sollte nicht das letzte Mal während des Krieges gewesen sein, dass mir pures Glück das Leben rettete.“ Diese Art der Erzählung macht die Erinnerungen sehr viel unmittelbarer, denn es wird den Lesern*innen vor Augen geführt, wie hoffnungslos vieles war und wie sehr das Überleben der wenigen immer am seidenen Faden hing.
    Von Amsterdam über Vught nach Ravensbrück

    Im Juni 1944 wird Selma van de Perre verhaftet, nachdem ein Mitglied des Widerstandes unter der Folter und den Drohungen, andere zu foltern oder zu töten, zusammengebrochen war. Auch das ist ein besonderer Teil der Erinnerungen, denn es ist der Autorin ein besonderes Anliegen zu zeigen, wie wenig auch hier eine Gut- oder Böse-Einteilung zielführend ist. Sie wehrt sich gegen die Beschimpfungen ihres ehemaligen Widerstandskollegen als Verräter und bezieht auch in einem Gerichtsverfahren nach Kriegsende klar Position für ihn.

    Für die Zweiundzwanzigjährige beginnt nun ein Leidensweg vom Gefängnis in Amsterdam, über das Konzentrationslager Vught (Herzogenbusch) bis zum Transport nach Ravensbrück am 06.09.1944. Auch wenn ich schon sehr viele Berichte von Menschen in Konzentrationslagern gelesen habe, geht einem jeder dieser Berichte erneut unter die Haut, man erlebt nie einen Gewöhnungseffekt. Selma erkrankte an Typhus und lebte in der permanenten Angst, als Jüdin erkannt zu werden. Dies führte zu – im ersten Moment absurd klingenden – Situationen. So freute sie sich über die erste Laus an ihrem Körper, da viele andere Frauen diese vorher schon hatten – aus Angst, „man würde glauben, mein Blut wäre anders, weil ich keine Läuse hatte."

    Ein Leben danach
    Das Buch endet nicht mit der Befreiung, sondern erzählt vom oft schwierigen Weg zurück in ein „Leben danach“ und in einem eigenen Kapitel „Gedenken“ auch von den Menschen, die Selma van de Perre im Widerstand und in den Lagern kennengelernt hatte. Zuerst wollte die Niederländerin nichts von ihrer Geschichte erzählen. Um neu anzufangen, um die Zukunft nicht von diesen Ereignissen bestimmen zu lassen. Zum großen Glück hat sie sich anders entschieden! Aber uns allen, die bei jeder Geschichte einer Rettung aufatmen, muss klar sein, dass solche Ereignisse die Opfer nie mehr loslassen, dass sie größtes Leid erfahren mussten und viele andere nicht das Glück hatten zu überleben – Selmas Mutter, ihr Vater und ihre Schwester wurden in Auschwitz und Sobibor ermordet.

    "Es wäre ein Dolchstoß in mein Herz, dort stehen zu müssen, wo Pa, Mams und Clara ihre letzten Tage verbracht haben und in den Tod gejagt wurden. Ich weiß, was geschehen ist, aber ich kann immer noch nicht fassen, wie weit manche Menschen zu gehen vermögen, um anderen auf die bestialischste Weise das Leben zu nehmen. Indem ich meinen Beitrag zum Gedenken und zu den Berichten über den Holocaust leiste, habe ich eine Art und Weise gefunden, mit alldem umzugehen.“ „Dieses Buch soll Zeugnis unseres Kampfes gegen die Unmenschlichkeit sein. Denn die Grausamkeiten des Zweiten Weltkrieges und die mutigen Taten der Menschen, die ihnen stolz entgegengetreten sind, dürfen nie in Vergessenheit geraten. Mit meinem Buch hoffe ich, einen Beitrag zum Gedenken daran zu leisten."

    Jeder Bericht aus dem Holocaust ist lesenswert, denn es ist wichtig, die Erinnerung wach zu halten. Selma van de Perres Erinnerungen bieten zudem noch einen Einblick in den wenig bekannten Widerstand in den Niederlanden und vor allem zeigt sie in eindrücklicher Weise, wie wenig sich diese Zeit und das Verhalten der Menschen eignen für (vor)schnelle und undifferenzierte moralische Beurteilungen.

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