Mein Name ist Estela: Roman

Buchseite und Rezensionen zu 'Mein Name ist Estela: Roman' von Alia Trabucco Zerán
3.65
3.7 von 5 (12 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Mein Name ist Estela: Roman"

Das Mädchen ist tot, die Haushälterin wird vernommen. Zum ersten Mal hören alle Estela zu. Szene um Szene offenbart sie ein schwindelerregendes Kammerspiel unüberbrückbarer Klassenunterschiede. Sieben Jahre hat Estela im Haus der fremden Familie gelebt, hat tagein, tagaus für sie gesorgt. Die karierte Schürze ist zu einer zweiten Haut geworden, die dünnen Wände ihres Zimmers sind immer näher gerückt. Doch sie ist nicht die einzige Gefangene des Hauses: Im leeren Blick des Mädchens sieht Estela ihre eigene Einsamkeit gespiegelt. Jeder Versuch von Intimität zwischen Angestellter und Kind zerschellt an der ehrgeizigen Mutter und dem autoritären Vater, an der Brutalität der Verhältnisse. Auf engstem Raum ringen vier Menschen ums Überleben und rasen doch unausweichlich auf eine Katastrophe zu.

Format:Gebundene Ausgabe
Seiten:240
Verlag: Hanser Berlin
EAN:9783446277274

Rezensionen zu "Mein Name ist Estela: Roman"

  1. 4
    15. Apr 2024 

    Es-te-la-Gar-cí-a

    „Mein Name ist Estela“ – Dies ist der erste Satz des gleichnamigen Romans der chilenischen Autorin Alia Trabucco Zeràn. Besagte Estela ist eine junge Frau, die aus ihrem weit entfernten Heimatdorf in die Großstadt nach Santiago de Chile gekommen ist, um ihre Mutter, die sie zurückgelassen hat, finanziell unterstützen zu können. Dass seit ihrer Ankunft nicht alles glatt gelaufen ist, wird direkt am Anfang klar. Denn Estela befindet sich anscheinend in einem Vernehmungsraum, von wo aus sie im Rückblick ihre Geschichte erzählt:
    Nachdem also Estela in Santiago de Chile angekommen ist, erhält sie eine Anstellung als Haushaltshilfe und Kindermädchen im Haus des Ehepaares Lopez – als Arzt und Rechtsanwältin gehören die Beiden zu Chiles besserer Gesellschaft. Das ehrgeizige Paar arbeitet hart, um seinen hohen Lebensstandard zu erhalten. Zu dem vermeintlich perfekten Leben fehlt noch ein Kind, das aber bereits unterwegs ist. Als Estela dort anfängt, ist Señora Lopez schwanger, kurz darauf bringt sie eine Tochter zur Welt. Die nächsten sieben Jahre wird sich Estela mit dem Haushalt und Klein-Julia herumschlagen, während die Eltern sich intensiv mit ihrem beruflichen Alltag auseinandersetzen und ihrem Ehrgeiz frönen. Estelas Anstellung findet nach sieben Jahren ein abruptes Ende als das Kind ums Leben kommt. Ob Estela einen Anteil am Tod des Mädchens hat, erschließt sich dem Leser im Verlauf von Estelas Erzählung.
    Estela richtet ihre Erzählung scheinbar an Vernehmungsbeamte, die jedoch nicht in Erscheinung treten. Daher schleicht sich der Verdacht ein, dass sich ihre Worte genauso gut an den Leser richten können. Sie stellt Rückfragen, sucht Bestätigung bei ihrer Zuhörerschaft und nimmt den Leser insbesondere am Anfang von ihrer Geschichte ein. Allerdings präsentiert sich die Erzählerin Estela dem Leser gegenüber anders als sie sich selbst als Hausangestellte Estela darstellt. Hier erleben wir eine sehr gesprächige Person, dort eine sehr zurückhaltende und devote Person, die in ihrer Unscheinbarkeit jenes Bild verkörpert, das ihre Vorgesetzten von einer Hausangestellten haben. Diese rätselhafte Ambivalenz in der Figur der Estela legt den Verdacht nahe, dass die Protagonistin dieses Romans eine unzuverlässige Erzählerin ist.

    Der Alltag einer Hausangestellten im Hause der Familie Lopez ist anstrengend, gleichzeitig sehr eintönig. Estelas Tagesablauf beschränkt sich auf immer wieder kehrende Aufgaben, die teilweise einem strengen Zeitplan unterworfen sind, der sich nach den Mitgliedern der Familie Lopez richtet. Diese Darstellung des täglichen Einerleis findet sich ein Stück weit in dem Sprachstil von Alia Trabucco Zeràn wieder. Oftmals begegnen dem Leser im Text Aufzählungen, die sich an anderen Stellen im Text wiederholen, was stilistisch fehlerhaft erscheint. Doch tatsächlich geben diese Wiederholungen exakt die Eintönigkeit in Endlosschleife wieder, in der sich Estela Tag für Tag befindet. Die junge Frau fühlt sich auf ihre anspruchslose Tätigkeit reduziert. Estela rackert sich ab, bleibt aber unauffällig und zurückhaltend, zumindest, wenn das Paar zu Hause ist.

    Die Eltern Lopez sind beide beruflich erfolgreich, ihr Ehrgeiz bestimmt dabei ihr Leben. Dieser Ehrgeiz wird auf die Tochter Julia übertragen, von der die Eltern Hochleistungen erwarten. Denn wie die Eltern, so die Tochter. Daher wird Julia von klein auf gedrillt, um ihr den bestmöglichen Start ins Leben zu ermöglichen.
    Das Kind entwickelt sich zu einem kleinen Tyrannen, der lautstark und mit aller Gewalt versucht, seinen Willen durchzusetzen. Estela muss Julias Eskapaden ertragen, obwohl sie versucht, sich mit den wenigen Möglichkeiten, die ihr zur Verfügung stehen, durchzusetzen. Mit zunehmendem Alter entwickelt das Kind eine Hinterhältigkeit gegenüber ihrer Nanny, welche durch die untergeordnete Position, die sie in diesem Haushalt bekleidet, nicht viel in der Hand hat, um sich zur Wehr zu setzen. Gelegentlich lässt sich Estela zu einem „Drecksgöre“ oder ähnlichem hinreißen. Aber wer kann es ihr verdenken?!

    Ich habe diesen Roman über weite Strecken sehr genossen. Allerdings ist mir zum Ende bewusst geworden, dass ich diesen Roman völlig falsch angegangen bin. Für mich lag der Fokus auf Estela und ihrer Psyche, was durch die Diskrepanz zwischen der Erzählerin Estela und der Hausangestellten Estela naheliegend ist. Daher war ich überrascht, als zum Ende von dem Seelenleben von Estela abgerückt wird, und ich es mit einem Mal mit einem gesellschaftskritischen Roman zu tun habe, der die soziale Ungerechtigkeit innerhalb der chilenischen Gesellschaft in den Fokus rückt. Meines Erachtens hätte die Autorin diese Wende von einem Psychogram zu einem gesellschaftskritischen Roman bereits im Vorfeld deutlicher herausarbeiten müssen. Daher traf mich der Wechsel nahezu unvorbereitet, so dass ich eine Weile brauchte, um mich mit dem neuen Fokus arrangieren zu können.

    Mein Fazit:
    Die Geschichte von der Hausangestellten Estela hat mich gefesselt. Da es viele Andeutungen auf die belastete Psyche der Protagonistin gab, habe ich auf ein besonderes Ende dieses Romans gehofft, bei dem sich der Verdacht, dass Estela etwas zu verbergen hat, bestätigt. Für Spannung war daher gesorgt, nur leider entwickelte sich das Ende in eine völlig andere Richtung, allen vorherigen Anzeichen zum Trotz. Die Autorin hat also - bewusst oder unbewusst - falsche Spuren ausgelegt, denen ich aber gern gefolgt bin, auch wenn mich das Ende nicht einfangen konnte. Dennoch habe ich diesen Roman gern gelesen. Der Weg ist das Ziel!

    © Renie

  1. Aus Sicht des Hausmädchens

    In der Vorschau hat mich dieses Buch direkt neugierig gemacht. Nicht nur, da ich lesetechnisch sehr gerne in fremden Kulturen unterwegs bin sondern auch vom Thema her. Ich habe eine Geschichte vermutet, in der es darum geht, dass ein Hausmädchen in der chilenischen (Klassen)Gesellschaft um eine eigene Stimme kämpft. Vordergründig erfahren wir vom Tod eines Mädchens namens Julia, bei denen das Hausmädchen Estela seit sieben Jahren als Hausmädchen arbeitet. Die Eltern, ein wohlhabender Arzt und eine Anwältin drillen ihr Mädchen von kleinauf darauf, Höchstleistungen zu bringen. Estela beobachtet und berichtet. Sie sitzt nun in einer Art Verhörzelle, die offenbar gläsern ist. Zumindest vermutet man dies, da Estela potentielle Zuhörer unmittelbar anspricht. Man fühlt sich auf diese Art als Leser auch direkt eingebunden. Ich vermutete, dass Estela sich für den Tod des Mädchens verantworten muss. Ob dem so ist, muss natürlich jeder selbst herausfinden.

    Estela wohnt direkt im Haushalt der Dienstherren - in einem Zimmer hinter der Küche. Es wird aber klar, dass sie nicht wirklich dazugehört. Sie hat primär Aufgaben zu erfüllen, sprich den Haushalt zu führen und auch das Kind zu umsorgen. Es mangelt an Anerkennung und auch einer eigenen Identität. Über ihren Alltag berichtet sie detailliert. Dies wird durchbrochen von Einblicken in chinlenische Gesellschaftstrukturen, von denen wir vermittelt über den laufenden Fernseher erfahren. Estela ist einsam, ihr wöchentlicher Höfepunkt ist ein Telefonat mit ihrer Mutter. In ihrer Einsamkeit scheint sie jedoch mit Julia verbunden. Dennoch greift sie nicht in den Lauf der Dinge ein. Die Eltern-Kind Beziehung scheint alles andere als "gesund" und schnell zeitigt dies Folgen beim Kind, das entsprechende Reaktionen zeigt - im Äußeren aber auch vom Verhalten her.

    Die Geschichte habe ich sehr gerne gelesen - auch wenn meine Erwartungen nicht zu 100 Prozent erfüllt wurden. Sie ist psychologisch dicht, und enthält einen gewissen Spannungsbogen - trotz existierender Längen und Wiederholungen. Das Ende hat mich nicht ganz überzeugt, dennoch kann ich den Roman weiterempfehlen insbesondere Lesern, denen "Dann schläfst auch Du" von Leila Slimani gut gefallen hat, denn es gibt gewisse Parallelen zwischen den Büchern. Sicher werde ich auch noch "Die Differenz" lesen, was für den International Booker Prize nominiert war.

  1. 4
    03. Apr 2024 

    In Haft..

    Estela sitzt eingesperrt in einer Arrestzelle vor einem Einwegspiegel und redet drauflos - jedoch ohne zu wissen, ob dahinter jemand sitzt und zuhört. Schnell erfährt man, dass sie Hausmädchen war in einer gutsituierten Familie in Chiles Hauptstadt, zuständig für den Haushalt und auch für die kleine Tochter des Ehepaares. Doch das Mädchen ist tot, und Estela will nun von den Umständen berichten, die zu dem Tod des Kindes führten - und holt dafür weit aus.

    Dabei erzählt Estela recht nüchtern und distanziert von ihrem Leben im Haus der Familie, wo ein winziges Zimmer ihr einziger Rückzugsort war. Ihre täglichen Aufgaben zählt sie ebenso wiederkehrend auf wie die Besonderheiten der einzelnen Familienmitglieder. Rasch wird deutlich, dass hier jede:r in Rollen gefangen war und keine Chance hatte, sich abseits davon zu bewegen. Der Hausherr, als Arzt erfolgreich, in der Rolle des starken Mannes, der die Richtung vorgibt; seine Frau, als Rechtsanwältin viel beschäftigt, auf kalorienbewusste und gesunde Ernährung bedacht, perfekte Gesellschaften gebend; das Mädchen, als Kind reicher Eltern von Geburt an unter dem Leistungsdruck, der in Chile in diesen Gesellschaftsschichten herrscht und erwartet wird, leidend unter der Lieblosigkeit der Eltern. Und schließlich Estela selbst, reduziert auf ihre Rolle als Hausmädchen, stets in der Uniform der karierten Schürze, die schließlich selbst die Grenzen ihrer Persönlichkeit verschwimmen sieht.

    Estela berichtet von Verhältnissen, wie sie in Chile offenbar normal sind. Über weite Strecken geht es um den Tod des Mädchens nur ganz am Rande - es wird vielmehr von bedrückenden Alltagserlebnissen erzählt, die die Einsamkeit des Mädchens (und seiner Eltern) und v.a. auch von Estela selbst in den Fokus rücken. Täglich kreisen die Hausbewohner in ihrer Einsamkeit fast berührungslos umeinander. Gerade das Mädchen und Estela sind sich in ihrer Einsamkeit ähnlich, aber aufgrund des Klassenunterschieds gibt es auch dort keine wirklichen Berührungspunkte, obwohl Estela erkennt, wie schlecht es dem Mädchen geht. Irgendwie wirken hier alle Figuren gesichtslos, nicht nur Estela (s. Cover) - da es hier v.a. um die Reduktion auf bestimmte Rollen geht (hier wird selten jemand beim Namen genannt, sondern stets in der jeweiligen Funktion), erscheint die eher plakative Darstellung der Charaktere nachvollziehbar.

    "...aber ich sagte mir immer wieder: Estela, was soll denn noch passieren, ohne zu ahnen, dass alles vollkommen überstürzt passieren würde, dass das Leben über Jahre hinweg stillstand und sich dann innerhalb weniger Tage verausgabte." (S. 188)

    Ein intenisves, atmosphärisch dichtes Kammerspiel präsentiert Alia Trabucco Zerán hier, bildhaft, symbolbeladen und metaphernreich und mit verschiedenen Bedeutungsebenen. Die Schilderungen des Wetters und der klimatischen Verhältnisse beispielsweise unterstreichen das familiäre Geschehen noch, phasenweise hatte ich das Gefühl, selbst in dieser heißen, trockenen Atmosphäre aus Gelb- und Brauntönen zu versinken. Als Dramaturgie funktionierte das für mich jedenfalls gut, die Spannung steigt zum Ende hin kontinuierlich. Was geschah denn nun mit dem Mädchen? Das Ende dann: ein Paukenschlag, eine unerwartete Auflösung - Überraschung gelungen.

    Auf den Punkt gebracht: Ich mochte den Roman, den Einblick in chilenische Gesellschaftsverhältnisse. Und je länger man über die Erzählung nachdenkt, desto mehr scheint sich zu entpuppen. Faszinierend.

    © Parden

  1. Estela weiß leider nicht, wer sie ist

    Estela, die sich schon recht offensiv im Titel präsentiert, wollte ich sehr gerne kennenlernen. Das vehemente „Mein Name ist Estela“ ließ eine Geschichte von Emanzipation und Selbstbestimmung vermuten, von einem Weg aus der Unsichtbarkeit ins Licht. Leider habe ich in diesem Roman nichts davon wiederfinden können.

    Estela, die als unzuverlässige Erzählerin über alle Mittel verfügt, den Leser subtil zu manipulieren und in ihren Bann zu schlagen, macht leider kaum bis nichts aus ihrer pole position. Stattdessen sieht sich der Leser einer unausgegorenen Figur gegenüber, deren Authentizität man quasi von Beginn an anzweifelt. Natürlich widersprechen sich unzuverlässige Erzähler, natürlich sind sie oftmals schwierige Figuren mit ungewöhnlichen Charakterisierungen, aber sie müssen dennoch in sich stimmig konzipiert werden. Dies hat bei Estela leider nicht funktioniert. So stammt die Erzählerin von einer Insel vor der Küste Chiles, hatte eine nicht ganz leichte Kindheit mit einer alleinerziehenden Mutter, ist aber durchaus belesen und hat nun die Chance in Santiago bei einer Familie der oberen Mittelschicht als Hausangestellte mit Kost und Logis ihren Lebensunterhalt zu verdienen.

    Das jedoch gefällt ihr nicht, denn sie empfindet die ihr aufgetragenen Arbeiten als unwürdig und beginnt sich fortlaufend dem Leser gegenüber zu beschweren. Der Roman verkommt recht schnell zur reinen Klageorgie über das furchtbare Los Hausarbeiten verrichten zu müssen. Das an sich ist nicht nur nicht sonderlich glaubwürdig, sondern geht einem als Leser recht schnell auf die Nerven, denn alle Aufgaben sind nichts anderes als das tägliche Pensum einer Hausfrau auch hierzulande. Hinzu kommt, dass Estela recht schnell beginnt, ihre Arbeitgeber oder deren Besitz zu sabotieren, sie verhält sich übergriffig, obwohl sie zugibt gut behandelt und ordentlich bezahlt zu werden. Ihr Verhalten ist daher kaum nachvollziehbar, ich habe händeringend nach Hinweisen auf eine psychische Krankheit gesucht, weil ich die von Estela angenommene und von ihr immer und immer betonte und gelebte Opferhaltung so gar nicht begründet sah. Hinzu kommt, dass Estela den Leser quasi unter einem Wortschwall begräbt, aber offensichtlich nicht einmal ansatzweise in der Lage ist, mit ihren Arbeitgebern mehr als nur einen zusammenhängenden Satz zu sprechen. Ihre Sprachflut hätte sie ja auch dazu verwenden können, um sich über ihre Lage zu beschweren, man hätte sicherlich eine Lösung gefunden, denn auch wenn Estelas Arbeitgeber inklusive Kind eine in hohem Maße dysfunktionale Familie bilden, die genauso unsympathisch wie Estela ist, sind sie in ihren Handlungen wesentlich leichter nachzuvollziehen.

    Neben der recht misslungenen Figurenkonzeption, die wohl darauf hindeuten soll, dass es in Chile keine intakte Gesellschaft und keine Normalität mehr gibt, versucht sich der Roman an sehr schwerer Symbolik: der Feigenbaum verdorrt, die Ratten sind im Haus, die Dürre kommt über das Land. Das sind alles durchaus valide Metaphern, in diesem Roman wirken sie jedoch bedeutungsschwanger und überzogen, da sie von Estela in den Kontext gesetzt werden und auch hier die Erzählerin ein weiteres Mal nicht überzeugt.

    Abschließend stelle ich fest, dass noch nicht einmal richtig deutlich wird, was der Roman eigentlich will – und das hat nichts damit zu tun, dass ich mich in der Politik Chiles nicht ausreichend auskenne, denn auch das muss hier konstatiert werden: Chiles Realität wird fast ausschließlich über Estelas Fernsehkonsum in den Roman eingebunden und bleibt ein Hintergrundrauschen, eine richtige Kontextualisierung findet nicht statt, der Roman könnte wahrscheinlich in jedem südamerikanischen Land spielen. Da Estela als Mitglied der Unterschicht so unsympathisch in ihrer Selbstdarstellung ist, kann der Roman eigentlich nicht um soziale Gerechtigkeit werben, vermutlich soll Chiles Gesellschaft und Politik insgesamt kritisiert werden, doch dieses Anliegen ist zu weit und für solch ein Ansinnen bleibt der Roman einfach zu schwammig. Selbst wenn ich die letzten Abschnitte als gelungenen Verweis darauf werte, dass es hier um die eigene Stimme, die im Leeren verklingt, geht, so kann ich nur sagen, dass ich von Estela auch nicht mehr hören wollte.

    Leider ein Roman, der alle Chancen dazu hatte, eine bereichernde Lektüre zu werden, aber an der Konzeption seiner Erzählerin scheitert.

  1. 4
    28. Mär 2024 

    Das Hausmädchen sagt aus - ein Sittengemälde Chiles

    Das Hausmädchen Estela lebt und arbeitet in einem wohlhabenden Hausstand in Chile. Mann (Arzt) und Frau (Rechtsanwältin) sind kühl und distanziert und schwer beschäftigt mit ihren ausfüllenden Berufen. Die Tochter, mit deren Geburt Estelas Job in der Familie beginnt, wächst unter enormem Leistungsdruck und der Gefühlskälte ihrer Eltern auf. Nach sieben Jahren wird die Tochter Julia tot aufgefunden. Estela sitzt im Verhörraum und erzählt die Geschichte.

    Diese Geschichte wird ausführlich bis ins letzte Detail von Estela offen gelegt. Ich hänge Estela durchaus größtenteils an den Lippen, bin fasziniert von den Dingen - den Zuständen in solch einem chilenischen Haushalt. Das Hausmädchen Estela wird ausschließlich als solches gesehen und behandelt. Kein Funken Persönlichkeit oder gar Wärme wird spürbar. Was dies mit ihr macht, wird anhand ihres Verhaltens sehr deutlich. Auch fließen Erinnerungen an ihre Mutter und ihre eigene Kindheit mit in das Erzählte ein, was mir sehr gefallen hat., weil auch hier Erklärungen für Estelas Verhalten zu finden sind. Estela ist zuweilen eine sehr unzuverlässige Erzählerin - so kommt es mir vor. Psychologisch ist der Roman supergekonnt in Szene gesetzt und hat mich gefesselt.

    Hinzu kommen die gesellschaftlichen Umstände in Chile in einer Zeit der Unruhen und Proteste gegen die Regierung. Diese erfahren wir im Roman nur nebenbei, wenn bspw. tagelang darüber im TV berichtet wird, der ununterbrochen im Haus angeschaltet ist. In welch einer Klassengesellschaft sich das Leben dort abspielt, wird zudem deutlich im Haushalt spürbar, in welchem das Hausmädchen nur ein "Werkzeug" zu sein scheint. Ganz selbstverständlich für alle Beteiligten.

    Der Roman - die Erzählerin Estela - verspricht zu Beginn die Aufklärung des unglückliches Todesfalls der kleinen Julia. Dieses Versprechen ist ein starkes Zugpferd und macht den Roman deshalb sehr soghaft.

    Mit dem Ende hadere ich persönlich ein wenig, es ist alles etwas schwammig und unklar. Verschiedene Aspekte treffen aufeinander, es gibt eine Menge an Interpretationsspielraum. Für mich ist es nicht ganz passend gewesen.

    Trotzdem habe ich den Roman sehr gern gelesen. Ein Blick in eine andere Kultur und ein Sittengemälde Chiles, verbunden mit einer psychologisch spannend erzählten Geschichte. Empfehlenswert!

  1. 3
    12. Mär 2024 

    Nicht überzeugend

    Die chilenische Autorin Ali Trabucco Zeran, 1983 geboren, war schon mit ihrem Debut sehr erfolgreich. Der Roman „ Die Differenz“ war für den International Booker Prize nominiert und erhielt den Anna Seghers- Preis. Auch ihr neuer Roman „ Mein Name ist Estela“ wird von der Kritik hochgelobt.
    „ Hausmädchen gesucht, gepflegtes Erscheinungsbild, Vollzeit.“ Auf diese Anzeige bewirbt sich die 33jährige Estela. Die Suche nach Arbeit hat sie nach Santiago de Chile getrieben, weg von der Insel im Süden, weg von ihrer Mutter. Estela bekommt den Job, denn die Senora ist hochschwanger und sucht nicht nur eine Haushaltskraft, sondern auch eine „ Nana“ für ihr Kind.
    Sieben Jahre wird Estela bei dieser wohlhabenden Familie bleiben, wird waschen, putzen, kochen, einkaufen und sich um Julia, das kleine Mädchen, kümmern. Eine Privatsphäre hat sie dort kaum, ist sie doch in einem kleinen Zimmer mit Schiebetür und Glasfenster gleich neben der Küche untergebracht.
    Dafür bekommt sie hautnah mit, was sich in der Familie abspielt . Die Eltern, er Arzt, sie Rechtsanwältin, arbeiten hart und den allgemeinen Leistungsdruck geben sie schon sehr früh an ihre Tochter weiter. Zeit haben sie wenig für das Mädchen, es soll funktionieren und Erfolge vorweisen. Der Umgang miteinander ist kühl, distanziert, von Liebe wenig zu spüren. Doch das Kind wehrt sich gegen die an sie gestellten Erwartungen, wird überängstlich und rebellisch.
    Estela versucht der empathielosen Erziehung der Eltern entgegenzuwirken, doch dem steht die Ermahnung ihrer Mutter entgegen, sich nicht emotional an seine Arbeitgeber zu binden.
    Als Julia größer wird, lässt sie dann auch immer mehr ihre Wut und ihre Launen an Estela aus. Und dann geschieht das Unfassbare: Eines Morgens treibt das Mädchen tot im Pool.
    Ist Estela schuld am Tod des Kindes? Oder warum sitzt sie in der Eingangsszene in einer Art Verhörraum?
    „ Mein Name ist Estela, können Sie mich hören?“ so beginnt der Roman. Estela richtet ihre Anrede an imaginäre Verhörbeamte, doch sie und wir wissen nicht, ob hinter der Wand tatsächlich jemand ist, der zuhört. Nur wir, die Leser, hören sie. Diese ungewöhnliche Erzählstimme schafft zu Beginn gleich eine starke Verbindung zwischen der Ich- Erzählerin und dem Leser. Doch leider strapaziert sie im Verlauf des Gesprächs unsere Geduld, zu sehr schweift sie ab und wiederholt sich. Außerdem nervt zusehends ihr Gejammer, obwohl sie zugeben muss, dass sie gut bezahlt und korrekt behandelt wurde. Sie beobachtet, äußerst kritisch zwar, doch ohne Konsequenzen zu ziehen. Ihre Unzufriedenheit mit der immer gleichen, öden Arbeit, ihre Wut auf ihre Arbeitgeber führen nicht dazu, sich eine andere Stelle zu suchen oder zurück auf ihre Insel zu gehen. Ihre knappe Freizeit verbringt sie in ihrem Zimmer und telefoniert stundenlang mit ihrer Mutter, statt raus zu gehen.
    Zwar entgeht Alia Trabucco Zeran der Versuchung, aus Estela eine aufrechte Frau aus dem Volk zu machen, die unter den Missständen und den Demütigungen leidet und sich am Ende dem heroischen Kampf gegen die Unterdrücker anschließt. Das wäre zu plump gewesen. Estela ist keine Sympathieträgerin, keine Frau, die Mitleid und Empathie hervorruft. Dazu ist sie zu larmoyant und ihr Verhalten zu widersprüchlich und unberechenbar. Auch sind der Senor und die Senora keine Unmenschen, sondern leiden selbst unter einem System, das enormen Druck auf alle ausübt.
    Aber hätte dann die Kritik an der chilenischen Gesellschaft nicht an anderer Stelle greifbarer gemacht werden müssen? Einzig durch den Fernseher dringen Bilder von den Unruhen auf den Straßen, den Umweltkatastrophen im Land. Für Estela und den Roman spielen sie ansonsten keine Rolle.
    Aber mein wichtigster Kritikpunkt ist die Charakterzeichnung von Estela. Auf mich wirkt sie keineswegs glaubwürdig , sondern mehr wie eine ausgedachte Figur, die das Anliegen der Autorin transportieren soll. Hier schreibt eine feministische Schriftstellerin, die sich eine unterdrückte Frau aus der Arbeiterschicht vorstellt.

    Die Autorin ködert den Leser mit dem Versprechen auf eine vermeintliche Krimihandlung. Wer nun aber darauf vertraut, wird enttäuscht werden. Doch das wäre noch nicht das Problem, allerdings muss die Autorin dem Leser nun etwas Gleichwertiges oder Besseres bieten. Aber auch hier enttäuscht sie. Denn das Buch überzeugt weder als Krimi noch als sozialkritischer Roman, allenfalls als das Psychogramm einer Frau mit psychischen Problemen.
    Bei diesem Roman drängt sich ein Vergleich mit Leila Slimanis Buch „ Dann schlaf auch du“ direkt auf. Allerdings hat es die französische Schriftstellerin geschafft, anders als Alia Trabucco Zeran, sowohl einen spannenden Krimi als auch eine eindeutige Gesellschaftskritik zu schreiben.
    Ich kann mich also dem oben angeführten Lob der Rezensenten nicht anschließen; mich ließ der Roman unzufrieden zurück.

  1. 3
    08. Mär 2024 

    „Hört Ihr mich? Ist da wer?“

    Santiago: Ein Mädchen ist umgekommen. Das Hausmädchen sitzt in einer Zelle und erzählt einem unsichtbaren Gegenüber ihre Geschichte. Damit suggeriert der Romananfang, dass nun die Hintergründe zum Tod des Mädchens aufgeklärt werden. Estela, die Erzählerin, führt ihre Zuhörer jedoch an der Nase herum: der Tod des Mädchens bleibt nach wie vor unklar. Stattdessen erleben wir das tägliche Leben der Familie, wie Estela es als Hausmädchen wahrnahm.

    Eine schöne Perspektive! Endlich bekommt ein Hausmädchen eine Stimme, und der selbstbewusste Titel betont auch diese Absicht. Der Blick Estelas aber bleibt im Haus stecken. Die äußeren Ereignisse – v. a. Verelendung der unteren Schichten aufgrund des Klimawandels und aufgrund mangelnder staatlicher Fürsorge - werden zwar via Fernseher in die Wohnung transportiert, aber sie bleiben ohne jede Auswirkung. Estela entwickelt kein politisches Bewusstsein. Sie lässt zwar keine Gelegenheit aus, sehr reflektiert auf ihre Eloquenz und zugleich ihre Schichtzugehörigkeit zu verweisen, um damit die Vorurteile ihrer vermuteten Zuhörer bloßzustellen, aber diese gesellschaftskritischen Ansätze zünden nicht.

    Ein anderer Ansatz zündet jedoch und zeigt Wirkung. Estela gibt das Bild einer bürgerlichen Familie wieder, die gefangen ist im Leistungsdenken ihrer kapitalistisch orientierten Gesellschaft. Die Erziehung der einzigen Tochter mag dem Leser kaltherzig erscheinen, aber die ganze Erziehung hat das Ziel, die Tochter frühzeitig für die Anforderungen der Gesellschaft zu wappnen. Das Mädchen aber verweigert sich diesen Erwartungen, und dieses verzweifelte Aufbegehren führt zu einer emotionalen Annäherung Estelas an ihren Schützling. Hier gelingen der Autorin sehr schöne Szenen, wenn sie die ambivalente Haltung Estelas zur Tochter in wenigen und nur kurz aufleuchtenden Schlaglichtern schildert.

    Am diesen Stellen gewinnen die Figuren auch Tiefe, während sie sonst eher im Klischee verharren. Zum Beispiel wird die Mutter des Mädchens als gefühlskalte, leistungsorientierte und tablettensüchtige Städterin geschildert, während Estelas Mutter das Klischee der abgearbeiteten und weisen, naturverbundenen alten Frau bedient.

    Dennoch zeigen sich auch in diesen Klischees Ansätze zur Kritik an der chilenischen Gesellschaftsstruktur – aber eben leider nur Ansätze. Estela hätte zu einer Protagonistin der Klassen- bzw. Schichtgegensätze werden können, aber diese Gegensätze bleiben buchstäblich im Fernseher stecken und bilden nur eine Hintergrundfolie für das Geschehen.

    Trotz dieser Schwachstellen: die junge Autorin kann schreiben, sie ist unbestritten ein Talent, und als Leser freut man sich auf den nächsten bzw. ihren ersten Roman.

    3/5*

  1. Ungewöhnlich, aber gut

    Estela möchte allen etwas wichtiges erzählen: “Das Mädchen ist tot”. Mehr bekommt man erstmal nicht aus hier heraus. Sie rollt die Geschichte von hinten auf. Doch einfach macht diese Ich-Erzählerin es dem Leser dabei wahrlich nicht. Sie sitzt in einem geschlossenen Raum, allein, ist sich aber der Leute, die sie von außen beobachten, sehr bewusst. Direkt drängt sich beim lesen die Frage auf, ob es sich um eine Verhörzelle handelt, sie zum Tod des 7 jährigen Kindes befragt wird, gar als Schuldige gilt.
    Estela erzählt sehr nüchtern wie sie mit 33 Jahren ihre Mutter verlässt, sie haben in ärmlichen Verhältnissen gelebt, wie es in so vielen anderen Lateinamerikanischen Städten ebenso vorkommt. Hier ist es Chile! Estela will Geld verdienen, um später wiederzukommen, dass Haus ausbauen, der Mutter einen sorglosen Lebensabend zu bescheren.

    Das Ehepaar, das sie anstellt, stellt sie ohne zögern ein. Sie laden Estela alles auf, sind zwar höflich aber definitiv nicht herzlich zu ihr. Schnell merkt man, dass auch unter dem Paar eher Kälte vorwiegt, vorausgesetzt man glaubt Estela. Ob man dies kann, ist sie eine zuverlässige Erzählerin?

    Als das Kind geboren wird, schiebt die Mutter das meiste Estela zu, sie ist anscheinend froh, wenn sie es abgegeben kann.
    Als Baby ist die kleine Julia normal, doch je älter sie wird, um so schwieriger wird sie. Sie verweigert meist ihr Essen, hat Wutanfälle, steht unter Druck, da die Eltern ihr viel abverlangen, vor allem ihr Vater hat hohe Ziele an und für seine Tochter, ob sie Klavier spielen lernen möchte, steht dabei im Hintergrund.

    Estela versucht nicht aus diesem Gefüge auszubrechen, auch wenn man merkt, dass es ihr nicht gefällt dort zu arbeiten. Sie verrichtet stoisch aber auch freudlos ihre Arbeiten, wirkt aber oft an, dass sie korrekt behandelt wurde.
    Einige Rückblicke zeigen wie es für Estela als Kind war.

    Das Ende wirft ein interessantes Bild, weg vom Fokus der sich die ganze Zeit um den Tod des Mädchens drehte. Ich habe nicht damit gerechnet auf so viel Sozialkritik zu stoßen, aber es passt rückblickend alles gut hinein.
    Und nun sollten Sie sich die Geschichte von Estela anhören, um sich selbst ein Bild zu machen, und um zu erfahren, warum das Mädchen tot ist!

  1. Warum musste Julia sterben?

    Das Kind ist tot. Sieben Jahre lang hat sich das Kindermädchen Estela um Julia gekümmert, ihr das Essen gemacht, ihre Wäsche gewaschen. Wie konnte es zu dieser Katastrophe kommen? Davon erzählt Estela in einem Verhör - und Alia Trabucco Zerán in ihrem neuen Roman "Mein Name ist Estela", der jüngst in der deutschen Übersetzung aus dem chilenischen Spanisch von Benjamin Loy bei Hanser Berlin erschienen ist.

    Es ist ein merkwürdiger Roman. Das liegt zunächst einmal an der ungewohnten Erzählform, bei der Estela sich direkt an ihr Publikum richtet. Das ist einerseits die Zuhörerschaft beim Verhör, offenbar versteckt hinter einer nur einseitig einsehbaren Glasscheibe und andererseits ist es natürlich die Leserschaft. Wenn Estela also im ersten Satz fragt "Mein Name ist Estela, können Sie mich hören?", so fühlt man sich direkt von ihr angesprochen. Und auf den nächsten 240 Seiten wird man keine andere Erzählstimme vernehmen.

    Grundsätzlich ist es eine originelle Erzählstimme, schließlich kommt es in der Literatur immer noch selten vor, von der Hauptfigur so unmittelbar konfrontiert zu werden. Allerdings ist die Umsetzung ein wenig holprig. Ständig unterbricht Estela sich selbst, um sich an die Zuhörerschaft zu wenden. Fast hat man das Gefühl, als existierte diese nur als Mittel zum literarischen Zweck. Das Erstaunliche daran ist, dass Estela die Schwächen ihrer Erzählung - und somit des Romans - selbst bemerkt. "War das ein Gähnen?", fragt sie an einer Stelle, "das ist reines Gelaber", befindet sie später. Und man kann ihr durchaus zustimmen, denn der Roman hat merkliche Längen. Hinzu kommt, dass diese Ausbrüche recht stark den Erzählfluss stören. So, als müsste Zerán die Leser:innen immer und immer wieder daran erinnern, dass Estela gerade verhört wird.

    Dabei ist die Ausgangssituation durchaus spannend. Natürlich möchte man wissen, warum das Hausmädchen verhört wird. Hat sie den Tod des ihr anvertrauten Kindes verschuldet? Ist sie gar eine Mörderin, wie das Kindermädchen in Leïla Slimanis "Dann schlaf auch du"? Zerán gelingt es in diesen Momenten gut, die Spannung subtil aufzubauen. Die Abschweifungen, die Estela unternimmt, sind nachvollziehbar, werden aber zu häufig eingesetzt. Immer wieder gibt sie Hinweise darauf, dass die folgenden Aussagen sehr wichtig für die Aufklärung des Todesfalls seien. Letztlich entpuppen sich diese im Finale aber als leere Versprechungen, ohne genauer darauf eingehen zu können.

    Was der Autorin misslingt, ist die Mischung aus Kriminalfall und Gesellschaftskritik. Letztere wird im Roman überdeutlich und bisweilen plakativ dargestellt. Julias Eltern - der Vater ist Arzt, die Mutter arbeitet in einem führenden Holzunternehmen - glänzen einerseits durch Abwesenheit, andererseits durch ihre Oberflächlichkeit. Zwar behandeln sie ihre Angestellte gut, wie Estela hinreichend erklärt, doch sowohl ihr, als auch ihrer Tochter gegenüber mangelt es an Empathie. Passend zum Beruf der Mutter wirkt die Zusammenführung der beiden Stränge im Finale hölzern und nicht konsequent. Zwar muss nicht alles auserzählt werden, aber 240 Seiten lang, etwas zu versprechen, was nicht eingehalten wird, ist dann doch recht enttäuschend.

    Sprachlich ist der Roman vor allem dann interessant, wenn Estela aus ihrem Dienstmädchen-Alltag ausbricht und sich beispielsweise an ihre Kindheit erinnert. Plötzlich wirkt die Sprache berauschend und frei, so wie es Estela als Kind zu dieser Zeit wohl auch noch war. In das Korsett des Verhörs eingeschnürt, erzählt die Protagonistin ansonsten oft recht nüchtern, manchmal philosophisch. Wenn man sich über mangelnde Authentizität beklagen möchte, dass eine Angestellte eines eher niederen Ranges so daherreden kann, liefert die Autorin nach einigen Seiten gleich die Erklärung dazu: Estela hat als Kind Unmengen an Büchern gelesen.

    Insgesamt ist "Mein Name ist Estela" ein nur in Ansätzen gelungener Roman, der in seiner Mischung aus Krimi und Gesellschaftskritik vielleicht zu viel will und letztlich daran scheitert. Ambitioniert ist das Ganze aber in jedem Fall, so dass man das Buch zuschlägt und der Protagonistin zurufen möchte: "Ja, Estela, wir haben dich gehört!"

    2,5/5

  1. Mehrere Anfänge, ein Ende

    "Was eine Tragödie ausmacht, sagte die Frau, ist, dass wir immer wissen, wie sie endet. […] Und trotzdem lesen wir, warum auch immer weiter. Wir leben weiter, als wüssten wir nicht, was am Ende passiert." (S. 185)

    Vom tragischen Ende erfahren wir im Roman der 1983 geborenen chilenischen Autorin Alia Trabucco Zerán gleich zu Beginn:

    "Das Mädchen ist tot." (S. 8)

    Aufklärung über die Hintergründe der sich durch viele warnende Vorzeichen anbahnenden Tragödie verspricht uns die Hausangestellte einer bürgerlich-wohlhabenden Familie in Santiago de Chile. Estela García, wahrscheinlich indigener Herkunft, sitzt in einem Gefängnis und weiß nicht, wer sich hinter der Spiegelwand befindet. Aber endlich hört ihr, wie sie vermutet, jemand zu, endlich hat sie einen Namen. Die Frau, die auf dem sehr gelungenen Cover ohne Kopf abgebildet ist, holt weit aus, erzählt die Geschichte mit mehreren Anfängen und fordert immer wieder die Aufmerksamkeit ihres vermeintlichen Publikums ein.

    Von Chiloé nach Santiago
    Gegen den Rat ihrer Mutter verließ die 33-jährige Estela ihre Heimatinsel Chiloé im Süden Chiles, um als Hausangestellte in Santiago zu arbeiten. Unmittelbar vor der Geburt ihrer Tochter Julia stellten ein Arzt und eine Rechtsanwältin sie ein, fortan lebte sie bis zum Tod des Mädchens sieben Jahre später in einem Hinterzimmer der Küche und kümmerte sich rund um die Uhr an sechs Tagen die Woche um alle Belange des Haushalts und das Kind. Ihre freien Sonntage verbrachte Estela meist im Bett und telefonierte nur mit ihrer Mutter.

    Estela war keine duldsame oder gar dankbare, ihren Arbeitgebern freundlich ergebene Angestellte, obwohl sie deren korrektes Verhalten mehrfach betont. Sie kämpfte mit psychischen Problemen, war hin- und hergerissen zwischen Wut, Verzweiflung, Auflehnung, Hass, Rachegedanken und doch auch Zuneigung, zumindest zu Julia, obwohl ihre Mutter sie davor immer gewarnt hatte. Als Einzige sah sie, wie unglücklich das überforderte Mädchen war, wie sie unter den rigiden Leistungsanforderungen ihrer neoliberalen Eltern litt, schon im Kindergarten den gnadenlosen Konkurrenzkampf ihrer Gesellschaftsklasse aufnahm und mit Gewaltausbrüchen sowie ihrem Hang zur Selbstverletzung nach Hilfe schrie. Gleichzeitig kopierte Julia früh das Verhalten ihrer Eltern gegenüber Estela: Distanziertheit bis zur Ignoranz, strenge Hierarchie und Reduktion der Hausangestellten auf ihre Funktion.

    Schattenseiten der Leistungsgesellschaft
    Wer "Mein Name ist Estela" als Krimi oder gar Thriller liest, wird mit dem Ende hadern. Gleichzeitig war das Buch für mich aber auch kein Manifest gegen die Unterdrückung der unteren chilenischen Klasse, denn dazu taugt die offensichtlich unzuverlässige, mit psychischen Problemen kämpfende und auf die Wirkung ihrer Worte bedachte Ich-Erzählerin Estela nicht, die trotz ihrer eloquenten Schilderungen kein Interesse für die politische Lage im Land erkennen lässt. Ich habe den Roman trotzdem gern gelesen, wegen seiner schwebenden, soghaften Erzählweise einerseits, andererseits wegen der Einblicke in eine neoliberale Gesellschaft von unten. Niemand ist hier glücklich, weder die prekär beschäftigte Hausangestellte, noch die von starken Ängsten beherrschte bürgerliche Familie. Für mich ist "Mein Name ist Estela" daher vor allem ein psychologischer Roman über eine labile, mit ihrem Leben hadernde Frau und die Schattenseiten einer gnadenlos auf Erfolg getrimmten Leistungsgesellschaft, deren Bedrohung als Hintergrundrauschen via Fernsehen ins Haus kommt.

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    05. Mär 2024 

    Das Mädchen

    Meist nennt sie sie nur das Mädchen. Estela arbeitet als Dienstmädchen bei einer gut situierten Familie in einer Stadt in Chile. Sieben Jahre war sie für die Familie tätig. Und nun ist das Mädchen, das eigentlich Julia heißt, nicht mehr am Leben. Estela ist festgesetzt worden. Und sie redet, erstmals redet sie durch die Scheibe mit ihren vermeintlichen Bewachern. Endlich erzählt sie von den sieben Jahren mit dem Mädchen, mit der Señora, mit dem Señor. Wie es zuging in der Familie, wie sie ihre Dienstkleidung, eine Kittelschürze mit falschen Knöpfen, zugewiesen bekam, wie das Mädchen immer mehr verwöhnt wurde.

    Warum übernimmt Estela eine Stelle, die für sie eher belastet? Ihre Familie ist nicht reich, sie unterstützt ihre Mutter, die im Süden des Landes lebt. Sie ist also auch noch fremd in der Stadt. Ihre Arbeitgeber sind ihr nicht wirklich sympathisch. Wie sie ihr einziges Kind behandeln, ist schon erstaunlich. Zwar wird die Kleine verwöhnt, aber manchmal besonders vom Vater geradezu brutal wird sie geradezu brutal behandelt. Und die Mutter strömt manchmal eine Kälte aus, die einen schaudern lässt. Estelas einzige Freude ist ein Hund, der durch die Gegend streunt. Erst hat sie keinen Namen für das Tier, doch sie findet immer ein Wort, einen Happen oder eine sanfte Berührung.

    Ein Roman, der einen in eine Welt führt, die einem so nicht bekannt ist. Nicht genau klar ist, wann die Handlung angesiedelt ist. Es werden Masken erwähnt, so dass einem der Gedanke kommt, es könne die Gegenwart sein. Oder gab es auch andere Zeiten oder Gelegenheiten, wo Masken opportun waren? Wie ihre Arbeitgeber Estela behandeln, lässt den Wunsch entstehen, es möge doch die Vergangenheit sein. Allerdings scheint es in dieser Familie keine Güte zu geben, auch nicht dem Kind gegenüber. Und Estela, die Fremde, die Dienstbotin, hält es irgendwie aus. Tja, und das Mädchen ist tot, damit fängt es an und dann startet die Erzählung von Beginn. Was man vermisst, ist eine Erläuterung zum Kontext. Ansonsten fesselt diese Erzählung einer Frau, die nur ein verspiegeltes Fenster als Gegenüber hat, sehr. Der Vortrag des Hörbuchs durch Heike Warmuth unterstreicht die Handlung. Sie verleiht Estela eine Stimme, der man gerne zuhört, auch wenn einem die Geschichte den Atem stocken lässt.

    Auffällig ist auch das Cover, das durch seine Farbgestaltung sehr auffällt, aber gleichzeitig auch die Anonymität der Dienstbotin widerspiegelt.

  1. Beeindruckendes Zeugnis eines Dienstmädchens

    Santiago de Chile nahe der Gegenwart. Das Dienstmädchen Estela befindet sich in einem Verhörraum. Ihr gegenüber steht eine verspiegelte Wand, hinter der sie ihre Zuhörer vermutet, die sie immer wieder direkt anspricht, wodurch Unmittelbarkeit zum Leser hergestellt wird. Dabei provoziert sie gezielt und scheint es zu genießen, dass ihr jemand Aufmerksamkeit schenkt.

    Estela ist seit sieben Jahren bei einer wohlhabenden Familie als Dienstmädchen angestellt. Damals stand die Geburt von Tochter Julia unmittelbar bevor, jenes Mädchens, das nun gestorben ist und dessen Tod Estela umfassend zu erklären versucht. „Ich schweife nicht ab, keine Angst, wir befinden uns im Randbereich der Geschichte. Und es ist notwendig, ihn zu umkreisen, bevor wir weiter ins Innere vorstoßen. Damit Sie verstehen, wie ich hier gelandet bin, welche Taten mich in diese Zelle gebracht haben.“ (S. 9) Estela bewohnt ein kleines Zimmer neben der Küche, das nur durch eine Milchglasscheibe vom Rest der Wohnung getrennt ist. Sie muss sechs Tage der Woche rund um die Uhr zur Verfügung stehen. Dabei wird sie primär auf ihre Funktion reduziert, man gesteht ihr keine eigene Identität zu. Darunter leidet Estela sehr. Fixpunkte in ihrem Leben sind die wöchentlichen Telefonate mit ihrer geliebten Mutter, die im Süden des Landes lebt. Estela hat sie ursprünglich nur auf Zeit verlassen, um Geld für die notwenige Sanierung des kleinen Hauses zu verdienen. Ansonsten lebt die Vierzigjährige sehr zurückgezogen als Fremde in der Stadt.

    Gebannt habe ich mich auf Estelas Bericht eingelassen, der seine subjektive (und damit unzuverlässige) Perspektive nie verlässt. Das erfolgreiche Ehepaar, Arzt und Anwältin von Beruf, steht sehr unter Stress, hat kaum Zeit für die gemeinsame Tochter. Die Atmosphäre ist kalt, liebevolle Fürsorge sucht man vergebens. Stattdessen werden Höchstleistungen vom Kind verlangt. Bereits vor Schulbeginn muss es Lesen und Schreiben lernen, um zu den Besten zu gehören. Die Erwartungen sind riesig. Ein Klavier wird gekauft. Der Vater setzt entwürdigende gesundheitliche Untersuchungen in Gang. Er bringt dem Kind das Schwimmen bei – Prozeduren, die die innere Grundhaltung gnadenlos offenlegen. Auch Estela versucht, das Mädchen auf Distanz zu halten, keine Gefühle zuzulassen. Diese Gemengelage führt dazu, dass sich das Mädchen trotz aller Intelligenz zu einem launischen, aufmerksamkeitsheischenden und unglücklichen Kind entwickelt, das schon sehr früh selbstzerstörerische Tendenzen aufweist. Geringe Nahrungsaufnahme, stumpfes Haar, dicke Augenringe und abgekaute Fingerkuppen sind äußere Zeichen davon, die offenbar aber nur Estela auffallen. „Im Herzen der Geschichte befinden sich Dreck, Blut und eine unglückliche Familie.“ (vgl. S. 31)

    Tatsächlich schildert uns das Dienstmädchen drastische Szenen aus dem Familienalltag. Auch ihre eigene, nicht immer vorteilhafte Rolle wird dabei beleuchtet, ebenso wie das Hamsterrad der niederen dreckigen Arbeiten, des aufwändigen Kochens, der sich ständig wiederholenden Routinen – alles ohne jede Anerkennung. Allerdings schimmern auch Widersprüche und Unzulänglichkeiten durch den Text, die leise Zweifel an den Schilderungen Estelas aufkommen lassen. Mit jeder Episode bröckelt die glänzende Fassade des Hauses mehr, unterstrichen wird dies mit deutlicher Symbolik. Das häufig laufende Fernsehen bringt die gesellschaftlichen Probleme Chiles als Hintergrundrauschen in den Text mit ein. Man muss sich stets vor Augen halten, dass man die Zustände in Chile nicht mit denen Mitteleuropas gleichsetzen darf. Die Gesellschafts- und Sozialkritik wird offenkundig, ohne dominant zu sein.

    Mich hat dieser Roman von der ersten bis zur letzten Zeile unglaublich gefesselt. Er stellt ein von großen Unterschieden geprägtes soziales System dar, in dem es fast nur Verlierer gibt, denn niemand ist wirklich glücklich. Im Mittelpunkt steht für mich tatsächlich die Frage, wie das Mädchen, dessen Name nur selten genannt wird, zu Tode kommt und wer dafür die Verantwortung trägt. Estela ist eine einfache, aber sehr belesene Frau, die sich auszudrücken weiß. Vor diesem Hintergrund habe ich ihre gestochen scharfe, manchmal ins Philosophische neigende und leicht zynische Rhetorik als authentisch empfunden. Auf mögliche Schwächen ihres Berichtes weist sie selbst hin, sie wurden bewusst eingestreut. In zarten Szenen darf man erleben, wie Estela sehr wohl Gefühle für das kleine Mädchen entwickelt, das in seinen renitenten Verhaltensweisen Parallelen zur jugendlichen Estela aufweist. Die Hausangestellte hat eine feine Beobachtungsgabe, man kann sich ein sehr genaues Bild der Zwänge und Belastungen machen, unter denen die Hauptfiguren leiden. Dazu hat mich die Psychologie der unzuverlässigen Erzählerin fasziniert. Wie sie den Kern der Geschichte immer wieder umkreist, die Zuhörer direkt anspricht und Aufmerksamkeit fordert, wie sie scheinbar nebenbei und doch gezielt Erlebnisse ihrer eigenen Kindheit einstreut, die eindeutig im Zusammenhang mit der Haupthandlung stehen. “Ich habe von Beginn an gewarnt, dass diese Geschichte mehrere Anfänge hat. (…) Aber jeder Ausgangspunkt läuft unvermeidlich auf das gleiche Ende zu. Wie Fäden eines Spinnennetzes treffen sie sich alle in der Mitte.“ (S. 74)

    Ich empfehle diesen Roman allen Lesern, die sich gerne auf psychologisch intensive Texte einlassen. Wer eine umfassende soziale Gesellschaftskritik erwartet, die zudem politische Hintergründe ausleuchtet, könnte enttäuscht werden. Hier steht eindeutig ein am Rande der gesellschaftlichen Hierarchie stehendes Dienstmädchen im Vordergrund, das über einen tragischen Todesfall berichtet und dabei komplexe Familien- und Sozialstrukturen enthüllt, die natürlich exemplarisch für Chile sein können. Estela ist eine beeindruckende Persönlichkeit, an die ich noch oft denken werde. Wie bei guter Literatur üblich, lohnt es sich, am Ende des Romans noch einmal zum Anfang zurückzukehren, um die sorgfältige Konstruktion des Geschriebenen wertzuschätzen.

    Große Leseempfehlung für diesen eindrucksvollen Roman, der von Benjamin Loy makellos aus dem chilenischen Spanisch übersetzt wurde. Es wundert mich nicht, dass die Autorin bereits für den International Booker Preis nominiert wurde. Ich werde ihr weiteres Werk interessiert verfolgen.