Mein drittes Leben
……genau dies passiert der Protagonistin Linda aus Daniela Kriens neuem Roman " Mein drittes Leben".
Sonja, die 17 jährige Tochter von Linda und ihrem Mann Richard wird Opfer eines Verkehrsunfalls. Richard schafft es nach einiger Zeit der Trauer wieder Fuß zu fassen, doch Linda versinkt immer tiefer. Schließlich fasst sie den Entschluss in ein abgelegenes Haus zu ziehen und dort mit dem alten Hund der verstorbenen Vorbesitzerin und den Hühnern zu leben, lediglich Richard kommt sie alle 14 Tage besuchen. Ihm liegt noch sehr viel an seiner Grau, doch auch erträgt es nicht, dass Linda das Leben ausschließt.
Als Natascha und ihre behinderte Tochter Nine ins Spiel kommen, regte sich Hoffnung bei mir, dass Linda den Weg hinaus schaffen kann. Doch dieser Weg ist lang und steinig und das verpackt die Autorin in einer eindrucksvollen Geschichte.
Krien trifft nicht nur die richtigen Worte, sie schafft es die Emotionen so gut einzufangen, dass man sich das Leid beider Ehepartner sehr gut vorstellen kann. Der Prozess, der bei ihnen unterschiedlich abläuft, zeigt auf, dass jeder Mensch sein eigenes Tempo und auch seine eigenen Erfahrungen sammeln muss, bis der Tod eines geliebten Menschen soweit aufgearbeitet ist, dass der Trauernde das Leben wieder einziehen lassen kann. Sicher lässt sich dies nicht von außen steuern wie es so oft von Mitmenschen suggeriert wird.
Ein trauriges Buch, welches aber auch am Ende ein wenig Hoffnung spendet, dass die Zeit wirklich Wunden heilen kann. Irgendwann überwiegen die schönen Erinnerungen!
Dies war nicht mein erstes Buch der Autorin, die anderen haben mir ebenfalls gut gefallen, dies hat mich persönlich am nachhaltigsten beeindruckt.
Der Roman hat mich sofort eingesogen, liest sich gut und wechselt zwischen der Gegenwart, in der Linda, die Ich-Erzählerin ihr Leben auf einem abgelegenen Hof in einem kleinen Dorf schildert - an diesen Ort hat sie sich ein ihrer Trauer zurückgezogen, nachdem ihre 17jährige Tochter Sonja bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen ist und sie selbst eine Krebserkrankung durchgestanden hat - und Lindas Erinnerungen.
Erinnerungen, daran, wie sie und ihr Mann Richard sich kennenlernten, daran, dass er bereits aus erster Ehe zwei Kinder hat, Ylvie und Arvid, mit denen Linda nicht warm geworden ist. Umso größer ihr Wunsch ein eigenes Kind mit Richard zu haben: Sonja.
Und da ist auch noch der Wunsch nach einem zweiten Kind.
"Warum bist du nicht auf die Welt gekommen?", flüsterte ich, und es antwortete: "Du weißt, warum." (S.44) Richard wollte nicht noch ein weiteres Kind, als er es dann doch in Erwägung zieht, ist Sonja bereits 6 Jahre alt und Linda nicht mehr bereit dafür und fühlt sich verraten.
"Er hatte uns aus dem Takt gebracht, unseren harmonischen Tanz jäh unterbrochen." (S.57)
Aber auch zuvor stellt Linda fest, dass sie nicht vollständig mit Sonja glücklich ist, da sie das Leben mit Baby zwar zum ersten Mal erlebt, Richard aber bereits zwei Kinder hat - sie wird immer die Zweite sein.
Auch als Sonja älter wird, ist sie "enttäuscht" von der harmoniebedürftigen Tochter, die kaum Ehrgeiz entwickelt und weniger Ecken und Kanten aufweist als ihre Halbgeschwister und zudem noch eine aus der Sicht der anderen problematische Esserin.
Heute macht sich Linda deswegen Vorwürfe, dass sie von Sonja enttäuscht war - kann sich selbst nicht verzeihen.
Richard hat zwei Jahre auf Linda gewartet - so lange lebt sie schon in dem abgelegenen Dorf, bevor er wieder am Leben teilnehmen will.
Natascha, die Linda mit ihrer autistischen Tochter Nine besucht, bringt es auf den Punkt:
"Sie wollen, dass er sich ebenso aufgibt, wie Sie es tun. Aber er lebt weiter. Und das nehmen Sie ihm übel." (S.70)
"Er hat sich gerettet. Auf dem schmalen Grat zwischen Leben und Tod hat er sich für das Leben entschieden, während sie versucht haben, ihn zu den Toten rüberzuziehen." (S.71)
Der Roman wirft die schwierige Frage auf, wie weiterleben, wenn man das Kostbarste im Leben verloren hat. Kann und darf man jemals wieder glücklich werden, wenn das geliebte Kind gestorben ist? Wie lange darf Trauer dauern, wie viel Zeit in Anspruch nehmen? Dürfen wir uns anmaßen, darüber zu urteilen?
Linda kämpft sich in winzigen Schritten ins Leben zurück und das schildert Krien authentisch und sehr emphatisch. Beeindruckend!
Lindas Tochter kam bei einem Unfall ums Leben. Mit dem Moment, da diese Nachricht sie erreicht hat, hat sie den Boden unter den Füßen verloren. Nach einer Weile findet ihr Mann Richard wieder ins Leben zurück. Damit kann Linda nicht umgehen und sie zieht sich nach einer Krankheit auf einen kleinen heruntergekommenen Bauernhof nahe Leipzig zurück, da sie das Mitleid anderer Menschen nicht ertragen kann.
Diese Geschichte wird aus der Perspektive von Linda erzählt. Somit ist man sehr nahe an ihr dran und kann ihre Gedanken und Emotionen mitverfolgen.
Der Autorin Daniela Krien hat einen ruhigen und empathischen Schreibstil. Die Charaktere sind feinfühlig und sehr menschlich gezeichnet.
Linda hat Richard, der zwei Kinder aus der ersten Ehe hatte, kennengelernt und sie haben sich von Anfang an bestens verstanden. Richard hätte nicht unbedingt weitere Kinder gebraucht, doch Linda hat ihm zugesetzt. So kam Sonja zur Welt. Sie bekam kein Geschwisterchen mehr und die Erwartungen Lindas in sie waren enorm. Linda hat ihre Tochter stets mit den Stiefgeschwistern verglichen. Daher setzen ihr neben der unaufhörlichen Trauer auch Schuldgefühle zu. Außerdem erinnert sie in Leipzig alles an Sonja. Daher zieht sie sich auf den Hof zurück. Das Kümmern um die Tiere und die Arbeit im Garten geben ihrem Leben Struktur. Richard besucht sie regelmäßig, aber die beiden finden keinen gemeinsamen Weg. Richard ist lange geduldig, doch dann geht er eine neue Beziehung ein und Linda verspürt sogar Eifersucht. Mit der Zeit findet Linda Kontakte im Dorf. Die Trauer bleibt, aber Linda lernt mit dem Verlust zu leben. Dann muss sie den Hof verlassen und zieht zurück nach Leipzig. Als Richard krank wird, ist Linda für ihn da.
Es ist schwer, einen geliebten Menschen zu verlieren und jeder geht mit der Trauer anders um. Linda stößt alle von sich und überlässt sich voll ihrem Leid. Tabletten tragen sie durch die Nächte. Am Tag arbeitet sie auf dem Hof, um nicht nachdenken zu müssen. Niemand versteht, dass sie Zeit braucht und nicht weiß, wann sie sich dem Leben wieder zuwenden kann.
Ein empfehlenswerter Roman, der zeigt, dass jeder nach einem solchen Verlust Zeit braucht, um wieder zurück ins Leben zu finden. Dafür gibt es keine Fristen.
“Mein drittes Leben” erzählt die Geschichte von Linda, die nach dem Tod ihrer Tochter Sonja versucht, ihr Leben neu zu ordnen. Wieder einmal wirft Krien eine Figur in eine existenzielle Krise – ihrer Überzeugung folgend, dass das wahre Wesen von Menschen und Beziehungen erst im Extremfall zutage tritt. Schon der Einstieg in den Roman packt einen sofort und vermittelt mit wenigen Sätzen eine kraftvolle Charakterstudie ihrer Protagonistin.
Anfangs trauert Linda gemeinsam mit ihrem Mann Richard, doch die ständigen Erinnerungen an ihre Tochter in Leipzig treiben sie auf´s Land. Auf einem heruntergekommenen Hof östlich von Leipzig versucht sie, durch körperliche Arbeit und die Gesellschaft ihrer Tiere einen neuen Lebenssinn zu finden.
Krien erzählt die Geschichte aus Lindas Perspektive. Zwei Jahre lang folgen wir ihr Schritt für Schritt in einen Abgrund aus Trauer und Schuld. Wie konnte sie sich jemals wünschen, die sensible Sonja möge robuster sein? Ehrgeiziger? Talentierter? Lindas unaufhörliches Elend wird zu einer Belastung für ihr Umfeld, Freundschaften zerbrechen. Nur Natascha, Mutter einer behinderten Tochter, bleibt mit ihrer ungefilterten Art für Linda erträglich – ein Zeichen dafür, wie schwer es ist, inmitten von Trauer authentische Verbindungen aufrechtzuerhalten. Bis zur Hälfte des Romans ist kein Happy End denkbar. Kleine Fortschritte, wie das Wiederentdecken des Lesens, geben zwar kurz Hoffnung, doch muss man kurz darauf fürchten, dass Linda ihrem Leben ein Ende setzen könnte. Anrührend die Geschichte von Lindas Ehe im Spannungsfeld von Ur-Sehnsüchten, Gleichberechtigungsansprüchen und patriarchaler Denkmuster. Mit Richard, der zweiten Hauptfigur des Romans, zeichnet Krien das Idealbild des modernen Mannes - ohne Machtansprüche, idealistisch, zugewandt. Aber auch Richard kämpft mit seinen Widersprüchen - seine halbherzige Beziehung zur neuen Liebe Brida und die gleichzeitige Weigerung, sich von Linda scheiden zu lassen, geben der Geschichte zusätzliche Komplexität.
Ab der Hälfte des Romans dann scheint es aufwärts zu gehen. Kann es so etwas wie Glück in Lindas drittem Leben geben? Selten habe ich eine solche Nähe zu einem fiktiven Charakter empfunden. Krien gelingt das Kunststück, uns mit einer Figur zu fesseln, deren Verhalten man manchmal weder verstehen noch billigen kann und der man ständig zurufen möchte: Tu´s nicht!
Mir gefiel auch der Kunstgriff, durch die Augen dieser lebensmüden, desillusionierten Frau auf unsere kranke Gesellschaft zu schauen. Die beißende Ironie, mit der sie zum Beispiel das arrivierte Bildungsbürgertum vorführt, gefiel mir gut - all diese Bemühungen um Individualität, die nur zu einer anderen Konformität innerhalb der eigenen Blase führen. Besonders eindrucksvoll fand ich eine Passage, die auf weniger als einer Seite die Misere der neuen Bundesländer nach der Wiedervereinigung zusammenfasst. Diese Klarheit und Tiefe machen den Roman nicht nur emotional, sondern auch intellektuell packend.
Dazu trägt Kriens präziser, klarer und zugleich feinfühliger Stil entscheidend bei. Ihre Sprache ist schnörkellos und verzichtet auf übermäßige Metaphorik oder poetische Ausschmückungen. Das macht die extremen Gefühlszustände, die der Roman uns zumutet, überhaupt erst erträglich. Kriens Erzählton ist durchgängig ruhig und nachdenklich und wirkt dadurch umso eindringlicher.
All das macht „Mein drittes Leben“ zu einer zwar sehr düsteren, aber auch ungemein lohnenden Lektüre. Ich habe den Roman mit großem Gewinn gelesen. Nachdrückliche Empfehlung!
„ Mein Name ist Linda. Linda bedeutet die Milde, die Freundliche, die Sanfte. Dieser Name hat nichts mehr mit mir zu tun.“ So stellt sich die Ich- Erzählerin im neuen Roman von Daniela Krien vor. Die Linda von früher, eine kultivierte und gepflegte Frau, glücklich verheiratet mit dem Maler und Kunstlehrer Richard, diese Linda gibt es nicht mehr. Ein einziger Moment hat alles verändert.
Die 17jährige Tochter Sonja ist mit ihrem Rad unterwegs und wird von einem abbiegenden LKW überfahren.
Auch zwei Jahre nach dem Unfalltod hat Linda aus ihrer tiefen Trauer noch nicht herausgefunden. Nach ihrer Krebserkrankung hat sie ihren alten Job in einer Kulturstiftung gekündigt und sich auf einen heruntergekommenen Bauernhof in einem kleinen Dorf zurückgezogen. Sie braucht Abstand, braucht Zeit für sich selbst. In der früheren Wohnung in Leipzig erinnert alles an die verstorbene Tochter.
Ihr Mann Richard besucht Linda regelmäßig und versucht, sie zur Rückkehr zu bewegen. Vergeblich! Auch er trauert, doch er will endlich wieder nach vorne schauen, will weiterleben. Irgendwann wird er in der Schriftstellerin Brida eine neue Partnerin finden. ( Sie ist uns schon in Daniela Kriens Roman „ Die Liebe im Ernstfall“ begegnet.)
Mit sehr viel Sensibilität und Einfühlungsvermögen beschreibt die Autorin die Gefühlswelt ihrer Protagonistin, einer Frau, der das Schlimmstmögliche zugestoßen ist. Dabei zeigt sie, wie lange es brauchen kann, aus einem solchem Tiefpunkt herauszufinden.
Was Linda dabei hilft, ist die körperliche Arbeit auf dem Hof und im Garten. Diese Arbeit gibt ihrem Tag Struktur und Sinn. Und der Kreislauf der Natur vom Wachsen und Vergehen hat etwas Tröstendes.
In der Erinnerung durchlebt Linda die Zeit mit ihrer Tochter. Dabei macht sie sich Vorwürfe, ihr Kind mit zu kritischen Augen betrachtet zu haben, stellt sich auch die sinnlose Frage, ob sie das Unglück nicht hätte verhindern können.
Dazwischen gibt es immer wieder Phasen, wo der Schmerz unerträglich wird und der Gedanke an Selbstmord verlockend erscheint.
Während Linda sich beinahe ganz von ihrem früherem Umfeld gelöst hat, findet sie langsam neue Kontakte im Dorf. Das sind Menschen, die weit weg sind von dem gutbürgerlichen Milieu, in dem sie sich früher bewegt hat. Solche wie Nachbar Klaus und seine Frau, die sich als Wendeverlierer sehen und trotzdem nicht resignieren. Oder Natascha, die ein Leben mit einer behinderten Tochter meistern muss.
Es ist ein langer Weg raus aus der Trauer, langsam, oft mit Rückschritten verbunden, bis Linda gelernt hat, mit dem Verlust zu leben.
Dass sie mit ihrer Mutter über die gemeinsame Vergangenheit reden konnte, Verdrängtes ansprechen, war ebenso hilfreich wie der Bruch mit einer früheren Freundin, mit der sie nichts mehr verbindet.
Der Roman ist aber nicht nur die Geschichte über einen unerträglichen Schmerz, sondern auch die Geschichte einer großen Liebe.
Denn dass Richard ihr „ Lebensmensch“ ist, weiß Linda schon lange. „ Nicht die Liebe ist Richard und mir abhandengekommen, nur die gemeinsame Blickrichtung.“
Und als Richard sie braucht, ist sie für ihn da.
Obwohl der Roman tieftraurig ist, entlässt er den Leser mit einem Gefühl der Hoffnung.
Selten treffen die Adjektive „ berührend“ und „ bewegend“ so gut auf einen Roman zu wie hier. Daniela Krien findet die richtigen Worte , nie gleitet sie ins Sentimentale ab. Und obwohl der Leser sehr nah bei Linda ist, hat er großes Verständnis und Sympathie für Richard. Das spricht für die sensible Figurenzeichnung der Autorin. Auch die Nebenfiguren werden nuancenreich beschrieben.
Gleichzeitig ist das Buch eine Lehrstunde in Sachen Empathie. Linda hat früh gespürt, wie sich Freunde und Bekannte abwenden. „ Menschen ermüden vom Leid anderer Menschen. Sie verlieren die Lust, Rücksicht zu nehmen, wollen wieder selbst klagen dürfen. Sie sind heimlich wütend darüber, dass vor meinem Problem jedes ihrer eigenen Probleme verblasst. Meine Anwesenheit zwingt sie, ihr Glück zu begreifen.“
Im Roman erfahren wir, was Trauernde brauchen. Keine gut gemeinten Sprüche, keine Ungeduld! Jeder trauert anders, jedem steht die Zeit zu, die er dafür braucht.
Der Roman findet sich völlig zu Recht auf der Longlist für den diesjährigen Buchpreis. Es ist das bisher beste Buch der Autorin. Klug, einfühlsam und realistisch.
Daniela Krien beschäftigt sich in ihrem neuen Roman mit einem Thema, über das man gar nicht nachdenken möchte: Mit dem Tod des eigenen Kindes. Ein dünnes Eis, denn wie schnell kann eine dermaßen schmerzhafte und hochemotionale Thematik ins Sentimentale abdriften? Nicht jedoch bei Krien, die ihr Metier beherrscht und ihr Können erneut unter Beweis stellt.
Linda und Richard haben vor über zwei Jahren ihre 17-jährige Tochter Sonja durch einen tragischen Verkehrsunfall verloren. Während es Richard, der zwei weitere Kinder aus erster Ehe hat, gelang, das Tal der Trauer wieder zu verlassen, steckt Linda noch tief drin. Sie hat sich vor der Welt zurückgezogen, indem sie einen kleinen Bauernhof im Umfeld von Leipzig bewirtschaftet. Der Rhythmus der Jahreszeiten, die Sorge für Garten, Hühner und die Schäferhündin Kaja geben Lindas Leben Sinn und Struktur. „Arbeit rettet vor Einsamkeit, Trauer, abwärts führenden Gedankenspiralen, dem Gefühl der Sinnlosigkeit, vor Schlaflosigkeit und Angst.“ (S. 67)
Im Rückblick lässt uns Ich-Erzählerin Linda an den wesentlichen Stationen ihres Lebens teilhaben. Sie reflektiert ihre Herkunft, ihre Ehe mit Richard, sie bewertet getroffene Entscheidungen und grübelt über das Zusammenleben mit Tochter Sonja nach. Hat sie vielleicht Fehler gemacht? Richard wartete lange auf die Rückkehr seiner Frau. Er besucht sie regelmäßig und sorgt sich um sie. Letzten Endes entscheidet er sich aber für eine neue Beziehung mit der Schriftstellerin Brida. Linda leidet indessen noch massiv. Es gibt schlechte und weniger schlechte Tage, die Nächte übersteht sie nur mit starken Beruhigungsmitteln. Neben Richard lässt sie nur wenige persönliche Begegnungen zu. Ausnahmen sind wenige Nachbarn sowie Natascha mit ihrer gehandicapten Tochter Nine. Diese Begegnungen bereichern alle Beteiligten. Auf oberflächliche Bekanntschaften legt Linda keinen Wert mehr. „Wer auf Menschen nicht mehr vertraut, hält sich an Dingen fest – an einem Haus, einem Hof, einem Garten. Und wer in Menschen keinen Trost mehr zu finden glaubt, der steht, so wie ich, in einem Garten und hält sich fern vom Anblick der Kinder jenseits des Zauns.“ (S. 84)
Durch Ich-Erzählerin Linda ist man sehr eng an der Protagonistin, man kann ihre einfühlsam beschriebenen Gemütslagen sehr gut nachvollziehen. Ganz langsam, in kleinen Schritten, unter Selbstzweifeln und mit regelmäßigen Rückschlägen, gelingt es Linda sukzessive, das Tal der Trauer zu verlassen, um vorsichtig neuen Lebensmut zu schöpfen. Wie die Autorin diesen Prozess beschreibt, ist eine Meisterleistung. Jede Figur hat Charakter, jede ist sorgfältig komponiert, das Menschliche hat bei Krien hohen Stellenwert. Der Text ist fordernd, ohne je sentimental zu sein. Krien besitzt feine Antennen. Inhalt, Emotionen und Dialoge wirken authentisch und lebensecht. Zahlreiche Sätze möchte man herausschreiben, soviel Kraft, Empathie und Klugheit strahlen sie aus. „Mein drittes Leben“ ist ein Buch, das trotz des traurigen Themas Hoffnung macht. Es will sicher kein Trauerratgeber sein. Aber es sollte auf eine gute Art Mitgefühl und Sensibilität erwecken für Menschen, die vom Tod betroffen sind oder einen Verlust verkraften müssen. Die Zeit kann Wunden heilen. Doch hat niemand das Recht, Betroffenen vorzuschreiben, wie lange oder wie intensiv sie trauern dürfen.
Daniela Krien bringt ihren feinsinnigen, großartig geschriebenen Roman wunderbar mit der richtigen Dosis aus Hoffnung und Realismus über die Ziellinie.
Chapeau und eine riesige Leseempfehlung für dieses Buch!
Linda ist Kuratorin einer Kunststiftung und ihr Mann Richard Maler. Sie leben in einer Altbauwohnung in Leipzig, die mit Bildern dekoriert ist, die sie im Laufe ihrer Ehe ersteigert haben. Ihre gemeinsame Tochter Sonja ist eines Vormittags auf ihr Fahrrad gestiegen, um zu ihrem Frauenarzt zu fahren. Sie hatte ihren ersten festen Freund und Linda motivierte sie, sich die Pille verschreiben zu lassen. Der Anruf aus dem Krankenhaus brüllte sie aus ihrem Alltag. Als Linda und Richard in der Klinik ankamen, war Sonja tot. Sie habe nicht gelitten, sei schon im Rettungswagen ins Koma gefallen und dann noch vor der Ambulanz multiorganversagen.
Linda liebt ihren Mann, er hat nichts falsch gemacht, sich nur eines Tages umgedreht und den Blick nach vorn gewandt, während ihrer in die Vergangenheit gerichtet blieb. Linda zieht aus, hat eine Viertelstunde von ihrem alten Leben entfernt, einen kleinen Hof gefunden, mit Garten, Schafen, Hühnern und einem alten struppigen Hund.
Richard besucht sie regelmäßig, richtet Grüße von seiner Familie und ihren Freunden aus und sie erkundigt sich nach ihnen, missbraucht ihn als Brücke zur Welt.
Die Freunde verstehen es nicht. Sie fühlen sich bestraft, ohne sich schuldig gemacht zu haben. S. 30
Sie erträgt das Mitleid in ihren Augen nicht, wie sie sich abwenden, weil sie ihren Schmerz nicht fühlen können. Die aufmunternden Worte, „wird schon wieder!“. Nichts wird mehr, wie es einmal war, sie weiß das. Ihr Eremitendasein – oft trifft sie tagelang niemanden – hat ihr die Eitelkeit genommen, die Perfektion ist weitergezogen.
Fazit: Daniela Krien zeigt die Geschichte einer Frau, die alles verliert. Der Schmerz des Undenkbaren lässt sie in tiefe Depression versinken und im Niemandsland verharren. Alle Möglichkeiten, den Verlust zu verarbeiten, sind misslungen. Die Stimmung ist melancholisch gedrückt. Hund und Garten geben den Tagen der fragilen Protagonistin Struktur, Betäubungsmittel Schlaf. Ganz zart, mit den ersten Knospen im Vorfrühling, erwacht in der Trauernden ein Funke Gefühl, eine Anteilnahme an den Schicksalen anderer Menschen. Die Autorin hat die Gefühlswelten empathisch erfasst und die Schwere brillant ohne unnötige Übertreibungen gezeigt. Ich mag ihre nüchterne, unaufgeregte Schreibweise sehr, meine klare Leseempfehlung.
Linda tauchte ab! Vor 2 Jahren ist ihre Tochter bei einem Fahrradunfall in Leipzig ums Leben gekommen und seitdem trauert Linda: hat einen alten Hof im nördlichen Sachsen auf dem Land gemietet, versorgt die übernommenen Hühner, den Garten und den Hund Kaja. Ansonsten kommt sie mehr schlecht als recht durch den Tag.
Bei menschlichen Kontakten hat sie gewaltig ausgesiebt: nur Richard, ihr Mann, darf sie alle 14 Tage besuchen und Natascha mit ihrer 19jährigen, durch Autismus stark eingeschränkten, Tochter Nina. Die Ich-Erzählerin mag kein Mitleid, keine lauernden und prüfenden Blicke wegen ihrer überstandenen Schilddrüsenkrebs-Operation und dem Stand ihrer Trauerarbeit.
Wir begeben uns mit ihr in den Sog der Erinnerungen, angefangen mit ihrer Jugendzeit mit ihrer Mutter allein, die Wende, dann der Umzug mit ihrer Mutter in den Westen in den Taunus, das Kennenlernen von Richard, die Familienzeit mit Sonja und dann der tragische Unfall an einem schwülen Juli-Vormittag.
Aber nicht nur die Trauerarbeit ist Thema dieses Buches, sondern auch allgemein der Umgang mit Schicksalsschlägen, das Thema ‚Patchworkfamilien‘, das Verhältnis Mutter / Tochter, die Belastbarkeit von Freundschaften, die Herausforderungen für Lehrkräfte in der heutigen Zeit und vieles mehr.
Starke Sätze lassen uns mit Linda fühlen, aber auch mit Richard: „Warst du glücklich mit uns, vor Sonjas Tod? Wenn du wirklich glücklich gewesen wärst, dann wären wir jetzt nicht an diesem Punkt. Dann würden wir das gemeinsam durchstehen.“ Oder später: „…….und blickten auf jene Tage zurück, an denen wir beide gedankenlos gesund waren und die Unversehrtheit des eigenen Körpers für eine Selbstverständlichkeit hielten.“
Nachvollziehbar, dass auch das Thema ‚Unterschiede Ost / West‘ behandelt wird. Da hätte ich mir jedoch mehr Ausgewogenheit gewünscht. Ich weiß, dass Selbständige im Westen oft ein Feindbild für den Osten darstellen, wenn ich aber die Beschreibung von Konrad lese, muss ich einfach einwerfen, dass ich genauso viele Ostmänner kannte, die alles besser wissen, nur Monologe halten und auch von partnerschaftlichen Verhalten in der Ehe 0 Ahnung hatten/haben! (Ich hoffe, dass sich das inzwischen gebessert hat bzw. bessert!)
Aber das Leben geht weiter und ich fand es wunderschön beschrieben, wie sich aus vielen kleinen Mosaiksteinchen kleine Verbesserungen abzeichnen und ein Licht am Ende des Tunnels erscheint.
Ich war schon von mehreren Büchern von Daniela Krien begeistert, aber dieses empfinde ich als ihr bestes! (Gern bewegte ich mich auch mit der Autorin durch Leipzig, das ich Anfang der 2000 Jahre mehrmals pro Jahr kennenlernen durfte.) Völlig zurecht wurde der Roman auf die Longlist des Deutschen Buchpreises gesetzt – er beinhaltet einfach alles, was einen guten Roman ausmacht, auch Aktualität! 5 Sterne vergebe ich hier gerne und empfehle ihn allen wärmstens!
Trauer, Melancholie, Einsamkeit, Verzweiflung nach dem Unfalltod der Tochter, der langsame Weg heraus – gespickt mit klugen Sätzen
Linda und ihrem Mann Richard, beide in der Leipziger Kunstszene verhaftet, passiert so ziemlich das Schrecklichste, was man sich vorstellen kann: die 17-jährige Tochter Sonja wird auf dem Fahrrad von einem Lastwagen überrollt und stirbt.
Linda kann damit lange nicht fertig werden. Sie lässt ihren Mann Richard, den sie weiterhin liebt, alleine und zieht sich in ein heruntergekommenes Haus auf dem Land zurück, wo sie mit Hühnern, Hund und Garten ein zurückgezogenes Leben führt, wo sie nichts an Sonja erinnert, außer ihren eigenen Vorstellungen, die besonders nachts über sie herfallen, was sie mit Tabletten zu bekämpfen versucht.
Ihr Ehemann Richard wird sehr sympathisch dargestellt, sanftmütig und fürsorglich. Er besucht sie oft und versucht, sie zur Rückkehr zu überreden. Aber nach zwei Jahren Einsamkeit und nachdem Linda ihn immer wieder zurückstößt und nicht weiß, wann und ob sie wieder in ihr altes Leben zurückkehren wird, ist es verständlich, dass er menschliche Wärme sucht. Er verliebt sich in eine erfolgreiche Schriftstellerin, was Linda durchaus mit ein wenig Eifersucht erfüllt.
Ihr einziger sozialer Kontakt außer ihm sind die Nachbarn und Natascha, die eine behinderte Tochter hat und somit ein Mensch ist, der auch mit Problemen zu kämpfen hat. Sie ist die Einzige, die Linda ungeschminkt Fragen stellt und ihr einen Spiegel vorhält, während ehemalige Freunde kaum wissen, wie sie mit der langjährig Trauernden umgehen sollen. 'Menschen ermüden vom Leid anderer Menschen.' 113
'Auf dem schmalen Grat zwischen Leben und Tod hat er sich für das Leben entschieden, während Sie versucht haben, ihn zu den Toten rüberzuziehen.' (Natascha zu Linda, 71)
Ganz nebenbei verortet die Autorin die Geschichte in einem trostlosen Dorf in Sachsen, das auch den typischen Veränderungen unterworfen ist und dem Leser ein paar Einblicke in diese dörfliche Welt gibt.
Im Verlaufe von Lindas Erinnerungen tauchen auch Vorwürfe auf, die sie sich wegen ihrer Tochter macht: zu sehr behütet und doch nicht alles gewusst, aber auch Erinnerungen an ihre Kindheit, an die eigene Mutter und ihr Verhältnis nicht so gutes zueinander.
Dann gibt es eine Zäsur: Linda muss das gemietete Haus verlassen und zieht wieder nach Leipzig, allerdings nicht zu Richard in die gemeinsame Eigentumswohnung. Die wird verkauft und Linda ist zuerst einmal finanziell versorgt. Stück für Stück kehrt Linda anscheinend ins Leben zurück - sie geht 'Tag für Tag ein kleines Stück weiter' (169), sie zieht in eine Wohnung, strukturiert ihren Tag und erkundet ihre Umgebung. Nur nachts wird sie von den alten Ängsten gequält. Sie kümmert sich um den Garten von Natascha, 'die Rettung vor der Leere ihrer Tage' (177). Angesichts dieser kleinen Veränderungen schöpft auch der Leser Hoffnung, dass es für Linda einen Weg zurück ins Leben gibt.
Das Wichtigste aber: Richard. Er sei ihr 'Lebensmensch' sagt sie (250) und plötzlich kommt ihr die Erkenntnis, dass sie bereit wäre, zu ihm zurückzukehren (257). Und überhaupt sieht sie grundsätzlich eine Zukunft, wenn da auch noch nichts Konkretes erkennbar ist. Und plötzlich wird sie wieder gebraucht: sie kümmert sich um Richard, der sich einer Darm-OP unterziehen muss. Wie es letztlich weiter geht, bleibt offen; das darf man verraten. Aber zur großen Erleichterung des Lesers gibt es einen Hoffnungsschimmer.
Fazit
Es ist ein Buch mit den großen Themen des Lebens, das aber kein bisschen pathetisch oder übertrieben daher kommt und den Leser anrührt und mit tiefgehenden Gedanken und Überlegungen zum eigenen Nachdenken anregt, das alles in oft bildhafter Sprache und vielen Sätzen zum Markieren und Zitieren. Für mich eines der Highlights des Jahres und eine klare Leseempfehlung.
„Linda bedeutet die Milde, die Freundliche, die Sanfte. Dieser Name hat nichts mehr mit mir zu tun.“
Nach dem Unfalltod ihrer 17-jährigen Tochter zieht sich Linda aus dem Leben zurück. Sie verlässt Leipzig und ihren Mann Richard und hält sich nur noch mit Routinen und Ritualen über Wasser. Bis sie ihren Rückzugsort verlassen muss und ein neues Leben beginnt.
Daniela Krien hat mich von Anfang an in diese Geschichte hineingezogen und nicht mehr losgelassen. Ich habe mit Linda gelitten und mich über ihre treuen Begleiter (den Hund Kaja und die neue Freundin Natascha) gefreut. In besonders schwierigen Situationen ist sie sich selbst so entrückt, dass sie von sich in der dritten Person spricht. Manchmal denkt sie sogar über Suizid nach, doch dafür scheint sie noch zu sehr am Leben zu hängen. Doch das merkt sie erst, als sie gezwungenermaßen ihr Leben verändern muss. Da entdeckt sie Kleinigkeiten, die ihr Halt geben und fühlt sich nach und nach wieder gebraucht. Bald kommen Momente, in denen sie wieder so etwas wie Glück spürt.
Dieses Buch hat mich tief berührt. Daniela Krien ist ein weiteres Mal über sich hinausgewachsen. Für mich war es ihr fünftes Buch und keines davon hat mich enttäuscht. Sie schafft es wunderbar, sich in ihre Figuren hineinzufühlen. Jedes Wort sitzt nachvollziehbar. Und trotz all der vorhandenen Trauer hat mich das vorliegende Buch nicht in den Abgrund gezogen, sondern die Hoffnung auf eine veränderte Zukunft aufrecht erhalten. Man merkt, dass die Autorin aus einem vielschichtigen Leben heraus schreibt. Chapeau!
Zwischen 400 und 500 Radfahrerinnen und Radfahrer verunglücken jedes Jahr tödlich auf deutschen Straßen. An einige von ihnen erinnern inzwischen weiße, oft blumengeschmückte Gedenk- oder Geisterräder am Straßenrand. Hinter jedem Opfer stehen trauernde Angehörige, manche Hinterbliebenenfamilien zerbrechen an diesem Schicksalsschlag.
Gefangene der Todessekunde
Auch die Ehe der Mittvierzigerin und Ich-Erzählerin Linda hält der unterschiedlich gelebten Trauer nicht Stand. Waren sie und ihr Mann Richard nach dem Unfalltod ihres einzigen gemeinsamen Kindes, der 17-jährigen Sonja, zunächst gleichermaßen „Gefangene jener Todessekunde“ (S. 97), begann Richard sich allmählich zu befreien:
"Hat sich nur eines Tages umgedreht und nach vorn gesehen, während mein Blick in die Vergangenheit gerichtet blieb." (S. 14)
Linda dagegen konnte und wollte den Schmerz nicht loslassen. Nach überstandenem Schilddrüsenkrebs ließ sie ihren fassungslosen Mann in der Leipziger Wohnung zurück und zog etwa zwei Jahre nach Sonjas Tod allein in einen halbverfallenen, 40 Autominuten entfernten Dreiseithof am Rande eines unansehnlichen Straßendorfs, wo es keine „Erinnerungsfallen“ (S. 24) gibt:
"Das Niemandsland zwischen Leben und Tod, das ich bewohne, spiegelt sich in der Landschaft wider und verschmilzt mit ihr. Die Schönheit hat hier kein Recht." (S. 82)
Hier lebt die ehemals erfolgreiche Kuratorin und überzeugte Städterin zu Beginn des Romans "Mein drittes Leben" von Daniela Krien seit zwei Jahren alleine mit einer Hündin und Hühnern. Nach Abbruch fast aller Brücken besuchen sie nur noch die neue Bekannte Natascha mit ihrer schwerbehinderten Tochter Nine und 14-tägig Richard, den sie trotz allem noch liebt. Doch nun ist dessen Hoffnung auf eine gemeinsame Zukunft zerbrochen, seine Geduld aufgebraucht. Mit der Schriftstellerin Brida Lichtblau scheint für ihn ein Neubeginn möglich. Natascha erklärt es Linda so:
"Er hat sich gerettet. Auf dem schmalen Grat zwischen Leben und Tod hat er sich für das Leben entschieden, während Sie versucht haben, ihn zu den Toten rüberzuziehen." (S. 71)
Jedes Wort am richtigen Platz
"Mein drittes Leben" ist das fünfte Buch der 1975 geborenen, in Leipzig lebenden Autorin Daniela Krien. Während ich zwei ihrer früheren Romane, "Die Liebe im Ernstfall" und "Der Brand", mit kleinen Abstrichen gerne gelesen habe, hat mir dieser neueste sensationell gut gefallen. Wie sie den Absturz ihrer Protagonistin haarscharf beobachtend begleitet, einfühlsam und doch gänzlich ohne Kitsch Worte für das Unsagbare findet, ist überragend. Ebenso gelungen sind die zaghaften Anzeichen der Wende nach überschrittenem Tiefpunkt, über die Linda selbst am meisten staunt:
"Das Überraschende daran ist, dass ich überhaupt eine Zukunft sehe." (S. 279)
Mit glasklaren Formulierungen erfasst Daniela Krien alle Zwischentöne dieser Entwicklung, spiegelt sie am Wechsel der Jahreszeiten und macht aus dem schwierigen Stoff ein überraschend gut lesbares Buch, akribisch recherchiert bis in medizinische Details. Viele der Nebenhandlungen haben Potential für weitere Geschichten, bisweilen lassen sich Parallelen zum Leben der Autorin ausmachen. Kein Wunder, wenn man der Schriftstellerin Brida Lichtblau, die schon in "Die Liebe im Ernstfall" eine tragende Rolle spielte, glaubt:
"Alle Schriftsteller tun das. Wir beuten unser eigenes Leben und auch das Leben der anderen aus." (S. 246)
"Mein drittes Leben" von Daniela Krien gehört zusammen mit "Lichtungen" von Iris Wolff und "Maifliegenzeit" von Matthias Jüngler zu meinem Favoritentrio für den Deutschen Buchpreis 2024. Alle drei empfehle ich unbedingt zur Lektüre.
Auf das neue Buch von Daniela Krien habe ich mich sehr gefreut. Da mir bisher alles von der Autorin ausgesprochen gut gefallen hat, muss ich gestehen, dass ich da schon gewisse Erwartungen hatte. Glücklicherweise wurde ich nicht enttäuscht. Ich habe es - wieder einmal - geliebt.
Die Geschichte ist in zwei Teile gegliedert. Im ersten Teil steht Lindas Trauer im Vordergrund. Wie sie sich selbst von Familie, Freunden und dem Rest der Welt abkapselt, sich in eine selbstgewählte Einsamkeit zurückzieht. Im zweiten Teil erkämpft sie sich eine eigene, neue Realität. Zwar holt die Trauen sie auch hier immer wieder ein, aber sie entwickelt Strategien, um mit diesen Phasen besser umgehen zu können. Zudem findet sie einen Zugang zu ihrer eigenen Vergangenheit.
Mir hat das Buch ausgesprochen gut gefallen. Ich bin immer wieder hin und weg über den großartigen Stil der Autorin. Ich empfinde ihn als sehr gefühlvoll, einfühlsam und gleichzeitig sehr klar und filigran. Da fällt ein alltägliches Wort für "Hundescheiße" schon fast als unflätig auf. Sie schafft es, ein überaus trauriges und bedrückendes Thema so darzustellen, dass ich als Leserin jede Emotion nachvollziehen kann, ohne mich gleichzeitig von dem Geschehen bedrückt zu fühlen. Trotz all der Trauer, dem Verlust und durchaus auch Schwermütigkeit, hat der Text durchaus eine überraschende Leichtigkeit. Man fühlt wie Linda auf Distanz geht, ebenso wie sie Schritt für Schritt Veränderungen vornimmt, die langsame Öffnung, das Herantasten an das Leben und auch die Erkenntnis, dass manches nicht wieder aufgebaut werden kann oder gar nie so war, wie wahrgenommen.
Auch die Nebenfiguren fand ich sehr schön gestaltet. Sie haben der Hauptfigur in nichts nachgestanden, ich hatte auch hier das Gefühl an weiteren Leben teilzuhaben.
Dabei entstehen Sätze, die ich mehrfach lesen musste, weil ich sie als sehr stark und auch - für mich- wahr empfunden habe. Wie z.B. "All das Unerledigte, Unterlassene, Ungesagte in unserem Leben verschwindet nicht. Es sammelt sich in uns, gärt und brodelt, und manchmal bricht es heraus."
Sätze wie diese haben mich inne halten lassen und hallen auch nach dem lesen noch ziemlich intensiv in mir nach.
Für mich ein fantastisches Buch, dass mich sehr tief berührt und nachdenklich gemacht hat. Und es schürt auf jeden Fall meine Vorfreude auf das nächste Buch der Autorin.
Ein unvorstellbarer Verlust
Für Linda, einst eine erfolgreiche Kuratorin, ist die Zeit stehen geblieben. Seit dem Unfalltod ihrer 17-jährigen Tochter Sonja hat eine allumfassende Trauer sie fest im Griff. Schon zwei Jahre lang hat sich die Mittvierzigerin auf einen ehemaligen Bauernhof fernab von Leipzig zurückgezogen. Ihr Mann Richard, der sie dort sporadisch besuchen kommt, weiß nicht mehr, wie er ihr helfen könnte. So droht Linda jetzt auch noch, dass ihr die Ehe entgleitet.
„Mein drittes Leben“ ist ein Roman von Daniela Krien, der es auf die Longlist des Deutschen Buchpreises 2024 geschafft hat.
Die Struktur des Romans ist wohl durchdacht und schlüssig. Er besteht aus zwei Teilen mit insgesamt 31 kurzen Kapiteln. Erzählt wird im Präsens in der Ich-Perspektive aus der Sicht von Linda - in chronologischer Reihenfolge, aber mit mehreren Rückblicken. Die Handlung spielt in Leipzig und einem Dorf in Ostdeutschland, dessen Name nicht verraten wird. Sie umspannt mehrere Jahre.
Auf sprachlicher Ebene hat mich der Roman komplett überzeugt. Auf den ersten Blick wirkt der Text schnörkellos und unspektakulär, fast nüchtern. Dennoch wird viel Atmosphäre vermittelt. Die Beschreibungen sind wunderbar anschaulich. Die Autorin beweist eine feine Beobachtungsgabe und eine Menge Sprachgefühl. Viele Zeilen sind eindringlich formuliert, gehen unter die Haut. Trotz oder gerade wegen des unaufgeregten Schreibstils konnte mich der Text schnell für sich einnehmen.
Auch die Figuren sind ein Plus des Romans. Sie werden realitätsnah und mit psychologischer Tiefe dargestellt. Protagonistin Linda ist ein interessanter und sympathischer Charakter, in den ich mich gut hineinfühlen und deren Gedanken und Gefühle ich gut nachvollziehen konnte. Positiv aufgefallen ist mir, dass die Personen - wie im wahren Leben - zwar Schwächen und Widersprüchlichkeiten in sich tragen. Weil sie ihre eigenen Fehler und Unzulänglichkeiten eingestehen und reflektieren können, kommen Linda und Richard besonders menschlich und liebenswert rüber.
Die Geschichte widmet sich der Frage, wie man mit einem unvorstellbar großen Verlust, dem Tod des eigenen Kindes, weiterleben kann. Ihr gelingt es darzustellen, wie scheinbar endlos lange der Trauerprozess dauert, welche Rückschläge und Hindernisse auf diesem schweren Weg liegen und wie stark ein solcher Verlust uns lähmen kann. Das macht den Roman zu einer sehr berührenden, aber kitschfreien Lektüre. Immer wieder hatte ich beim Lesen einen dicken Kloß im Hals.
Obwohl auf den fast 300 Seiten stellenweise gar nicht so viel passiert, hat mich die Geschichte zu keinem Zeitpunkt gelangweilt. Die Handlung bleibt von Anfang bis Ende stimmig und glaubhaft.
Das Covermotiv, eine Hochspringerin, lässt sich vermutlich nur mit viel Fantasie in Bezug zum Inhalt setzen. Mir hat sich der Zusammenhang leider nicht erschlossen. Umso passender ist für mich allerdings der Titel.
Mein Fazit:
Mit „Mein drittes Leben“ hat mich Daniela Krien rundum begeistert. Obwohl es der Roman bedauerlicherweise nicht in die engere Auswahl für den Buchpreis geschafft hat, gehört er schon jetzt zu meinen Lieblingsbüchern 2024. Eine Lektüre, die nachhallt. Große Leseempfehlung!