Mein Abschied von Deutschland

Buchseite und Rezensionen zu 'Mein Abschied von Deutschland' von Matthias Politycki
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Inhaltsangabe zu "Mein Abschied von Deutschland"

"Deutsch sein heißt, eine Sache um ihrer selbst willen so gründlich zu betreiben, bis alle schlechte Laune haben." Im Frühjahr 2021 hatte Matthias Politycki genug vom deutschen Debattensumpf und zog nach Wien. In diesem fulminanten Buch begründet er seine Entscheidung und rechnet mit den Restbeständen unsrer Streitkultur ab – ein leidenschaftliches Plädoyer gegen die Restriktionen einer grassierenden Gegenaufklärung, vor allem aber auch eine Einladung zum wilden Denken über weltanschauliche Gräben hinweg. Als klassischer Linker steht Politycki für eine (fast) unbegrenzte Freiheit der Meinung, der Phantasie und der Literatur. Seine Verteidigung einer über Jahrhunderte gewachsenen Sprache gegenüber all jenen, die sie für ideologische Zwecke zu instrumentalisieren suchen, ist das Bekenntnis eines überzeugten Demokraten und Stilisten zugleich. „Nichts Geringeres wird gerade in der westlichen Welt verhandelt als unser Begriff von Freiheit. Wo manche noch glauben, es ginge lediglich um die Verbannung gewisser Wörter und Formulierungen, geht es in Wirklichkeit um die Art und Weise, wie wir in Zukunft leben wollen.“

Format:Gebundene Ausgabe
Seiten:144
EAN:9783455014396

Rezensionen zu "Mein Abschied von Deutschland"

  1. Eine treffende Analyse, ein eindrückliches Plädoyer für Freiheit

    „Die Alternative, vor der wir täglich aufs neue stehen, ist: mitmachen und uns von dieser oder jener Haltung anschließen – oder, trotz allem, erst mal selber denken, unabhängig denken.“ (Zitat Seite 19)

    Thema und Inhalt
    Seit einigen Jahren fühlt sich der Schriftsteller Matthias Politycki in Deutschland nicht mehr wohl, doch da er ohnedies meistens auf Reisen ist, bleibt es ein vages Unbehagen. Doch mit dem Corona-Lockdown im Frühjahr 2020 wird ihm klar, was er in den in Deutschland täglich präsenten Debatten zunehmend vermisst: die für ihn bisher selbstverständliche Freiheit der freien Meinungsäußerung und die damit verbundene Diskussionskultur. Damit steht sein Entschluss fest, im Frühjahr 2021 verlässt er Deutschland und zieht nach Wien. Dieses Buch vertieft seinen Standpunkt zu der heute gleichsam verordneten Wokeness, seine Argumente und Sorgen, die er zuvor in einem Artikel in der FAZ dargelegt hatte. Es ist ein überzeugendes Plädoyer für die Freiheit der Kunst, für die Freiheit des Schriftstellers, sich sprachlich auszudrücken und damit verbunden für die Vielfalt der Literatur. „Literatur, die sich absichert, ist überflüssig.“ (Zitat Seite 78)

    Umsetzung
    „Wovon ich rede, wenn ich von Freiheit rede“ lautet der Untertitel dieses Buches. In dreiundzwanzig Kapiteln mit ebenso vielen Themen und Stichworten, von „Freiheit“ über „Umbegreifung der Begriffe“, „Reduktion des Arbeitsmaterials: Wörter“, „Reduktion des Arbeitsmaterials: Stoffe“ „Zensur“, „Die neue Rolle des Schriftstellers“, „Gendern als zivilgesellschaftlicher Ungehorsam“, bis zu „Wovon ich rede, wenn ich von Sprache rede“ und „Wien“ setzt sich Politycki mit unserer Gesellschaft und den neuen, alarmierenden Entwicklungen auseinander, vor allem was die Diskussionen um Ausdruck, Sprache und Stoff für Schriftsteller und Leser bedeuten. „Betreutes Lesen fängt beim kuratierten Schreiben an.“ (Zitat Seite 77) Eindrücklich widersetzt sich der Schriftsteller, der sich als klassischer Linker sieht, allen Einschränkungen der Meinungsfreiheit, des wilden Denkens, der Phantasie und damit auch der Literatur. Im Anhang des Textes finden sich die Quellenangabe zu im Text angeführten Zitaten.

    Fazit
    „Gesetzt den Fall, ich müßte dieses Buch auf einen einzigen Satz zusammenstreichen, so würde er lauten: Laßt mir die Musik der Sprache!“ (Zitat Seite 114) Die beste Begründung, warum ich dieses Buch mit großem Interesse und Zustimmung gelesen habe und warum ich es empfehle, ist diese Aussage von Politycki selbst.

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  1. Zur Sache, Schätzchen! Eine Auseinandersetzung mit dem Wokismus.

    Kurzmeinung: Muss man gelesen haben.

    Matthias Politycki findet es gar nicht gut, was zur Zeit mit der deutschen Sprache passiert und daher hat er sich nach Österreich abgesetzt. Ich verstehe ihn. Politycki spricht Klartext. Er fühlt sich inmitten der deutschen Sprachpolizei nicht mehr wohl.

    Nichts weniger als eine Kulturrevolution nennt er den Versuch einer lautstarken Minderheit, der deutschen Sprache ihre Schönheit zu entreißen, ihre Klarheit zu zerstören und die Strukturen eines Sachtextes mit gegendertem Text so aufzublähen, dass das Erfassen des intendierten gedanklichen Zusammenhangs erschwert, wenn nicht gar unmöglich wird. Selbstverständlich aus den lautersten Motiven heraus. (Das macht es überhaupt nicht besser, eher schlechter).

    Als ich unlängst den Titel „Die Erwählten, wie der neue Antirassismus die Gesellschaft spaltet“ von John McWhorter vorstellte, das ich in der deutschen Übersetzung gelesen hatte, war ich bass erstaunt zu lesen, dass sich die Übersetzerin angemaßt hätte (möglicherweise auf Anweisung des Verlags?), einen englischen nicht gegenderten Text, der sich ausdrücklich gegen das Gendern richtet, bei der Übersetzung ins Deutsche nachzubessern, also zu gendern und politisch korrekt (in ihrem Sinne) die Worte Schwarze Menschen und weiße Menschen unterschiedlich groß / bzw. klein zu schreiben, etc. etc. was im Originaltext jedoch nicht so gestanden hat. Was für eine Übergriffigkeit! Wenn das wahr wäre!

    Wer bestimmt eigentlich über einen Sprachenwandel, fragt sich Politycki.

    Die Mehrheit. In einer Demokratie. Und die zuständige Institution „Der Rat für deutsche Rechtschreibung“. „Wer … Demokrat ist, holt sich für sein Handeln, sofern es die Interessen der Allgemeinheit berührt, ein Mandat, am besten auf Basis einer gesellschaftlichen Debatte, die möglichst viele einbezieht.“

    So aber läuft es nicht. Eine breite Debatte findet nicht statt und wo sich Andersdenkende positionieren, werden sie mit Hilfe der sozialen Medien ausgegrenzt und ausgebuht. Eine Streitkultur, ein Austausch über die Sache aufgrund von Argumenten, ist das nicht.

    Politicky schreibt:

    „Direkte Auseinandersetzungen mit Wokisten …verlaufen in der Regel wie Dialoge des absurden Theaters. Konfrontiert man sie mit Fakten, streiten sie diese rundheraus ab, präsentieren ihre alternativen Fakten. Im Namen der Diversität, stellen sie Meinungen, die im Vergleich zu ihren tatsächlich divers ausfallen, grundsätzlich in Frage und diskreditieren sie mit der drolligen Standardreplik, man habe das Problem offensichtlich nicht verstanden. Oder mit der Standarddiagnose, man sei „strukturell vorbelastet“ qua Hautfarbe, Geschlecht, Alter, ängstige sich offenbar vor Neuerungen; ärgere sich darüber, dass man Privilegien preisgeben oder Sprachroutinen aufgeben müsse; man sei „halt noch nicht so weit.“ Damit verlagern sie die Auseinandersetzung von der sachlichen auf die emotionale Ebene, wo man Gegenargumente als bloßen Reflex abtun kann. Oder sogar als Symptom einer psychischen Störung, als Transphobie, Islamophobie, Xenophobie, Misogynie.“

    Die Auseinandersetzung um die deutsche Sprache ist längst ein ideologisch geprägter Machtkampf geworden. „Wer Sprache vorschreibt, will damit auch die entsprechende Weltanschauung durchsetzen und die Menschen in Unmündigkeit halten.“ (Wenn man z.B. gegen die Worte "Vater" und "Mutter" vorgeht und sie zwingend gegen das blutleere "Elternteile" ersetzen möchte, dann will man das gängige Familienbild zersetzen).

    Um unsere Streitkultur ist es schlecht bestellt, meint Politycki, denn man kann nicht mehr offen oder gar kontrovers miteinander reden und diskutieren und um das Richtige oder Angemessene ringen, wenn man in diesem Diskurs dafür angepöbelt oder gemaßregelt wird, wie man schreibt (und redet) und missliebige Begriffe auf dem Index stehen. „Belehrungsimpertinenz von links wie Pöbelei von rechts“ nennt es Politycki und meint das seien „zwei Seiten derselben Bankrotterklärung“ deutscher Streitkultur.

    Politycki beklagt gesellschaftlich sowohl die horizontale Zensur, die rückwirkende Zensur (Geschichtsbereinigung: Klassiker müssen „bereinigt“ werden) wie auch die vorauseilende Zensur (bevor mir einer an den Karren fährt, passe ich mich halt an) und empfiehlt Stellung zu beziehen: „Demgegenüber steht eine schweigende Mehrheit, die eigentlich nicht schweigen müsste. Welche Folgen Opportunismus haben kann, weiß man als Deutscher. Schweigen aus Bequemlichkeit sollte hierzulande keine Option mehr sein.“

    Außerdem warnt er: „Eine kulturelle Revolution ist kein Spaß, und nichts Geringeres erleben wir derzeit: Eine vergleichsweise kleine Gruppe, die sich als Elite versteht, ist angetreten, uns im Zeichen der Wokeness das Sprechen, das Denken und den Umgang miteinander neu beizubringen und, um ihr moralisierendes Narrativ durchzusetzen, auch unsere Vergangenheit neu zu bewerten beziehungsweise gleich zu übermalen, vom Sockel zu stürzen oder umzuformulieren. Wokeness, das ist Ausweitung der Political Correctness auf alle Lebensbereiche.“

    Der Kommentar:
    Auch die RAF wollte die Dekonstruktion der Gesellschaft. Wenn ich „Dekonstruktion der Sprache“ höre, ein erklärtes Ziel der Wokisten, läuft es mir eiskalt den Rücken herunter. 1984 redet von „Neusprech“. Auch diese Assoziation ist beunruhigend. Ich hoffe sehr, dass die Verlage dieses Landes den Mut haben werden, sich dem deutschen Neusprech zu verweigern oder, soweit sie nachgegeben haben, zurückzurudern. Auch alle anderen öffentlichen Medien haben eine große Verantwortung, deren sie sich keineswegs bewusst sind. Sie beteiligen sich fröhlich an der Demontage der deutschen Sprache.

    Ich gebe eine Leseempfehlung für Polityckis berechtigten Aufschrei.

    Kategorie: Sachbuch.
    Verlag: Hoffmann & Kampe, 2022

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