Mama

Rezensionen zu "Mama"

  1. »Weißt du denn nicht, dass eine Mutter nichts ist ohne ihr Kind?

    Es ist ein klassisches Märchen, mit Jägern, Wölfen, bösen Hexen.

    Es ist die Geschichte eines zunächst einseitigen, obsessiven Kinderwunsches.

    Es ist das Drama einer Mutter, die das jahrelang innig ersehnte Kind zunächst nicht lieben kann, und sich später besitzergreifend, grenzüberschreitend an ihren Lebenssinn klammert.

    Dieser Roman ist so vielschichtig, so voller Symbolik, dass sicher keine zwei Leser:innen ihn auf dieselbe Art und Weise interpretieren werden. Traum und Realität verschwimmen, Zeitabläufe verschieben sich, Protagonistin Amira begegnet buchstäblich sich selbst, ein Märchen scheint Wirklichkeit zu werden – auf nur allzu reale Art und Weise. Alles, was Amira träumt, wahrnimmt, erlebt, hat mehrere Bedeutungsebenen, was ihr selber erst nach und nach vage bewusst wird.

    »Der Wald hat der Mutter das Kind geschenkt« – so geht das Märchen.

    Ihr Kind wurde im Wald gezeugt, und ein Großteil des Romans spielt auch dort. Eine düstere Spannung überlagert zunehmend jeden Anflug von Idylle, der Wald scheint ein Eigenleben zu entwickeln. Amira und Vater Josef versuchen, sich in seinem Schatten an ein harmonisches Familienleben anzunähern, während ein Jäger das Haus beobachtet und ein Hund/Wolf es umkreist. Eine stete Bedrohung, die sich widerspiegelt in Ehe und Mutterschaft.

    Sie fragt sich, ob sie ihren Mann überhaupt jemals wirklich geliebt hat, ist eifersüchtig auf seine Beziehung zur gemeinsamen Tochter. Wenn er alleine mit der Kleinen Zeit verbringen will, manifestiert sich prompt eine scheinbar reale Gefahr. Es ist ihr Kind und ihr Kind alleine, denn was wäre sie ohne ihre Rolle als “Mama”? Gleichzeitig fühlt sie sich gefangen – im Wald, in eben dieser Rolle. Sie erstickt daran, will dies jedoch nicht wahrnehmen. Das Märchenhafte der Geschichte stellt diese Gefühle bildlich dar.

    Der Wald ist Schutz und Heimat, aber er ist auch ein Ort der Gefahr und wird im Laufe der Handlung im wahrsten Sinne des Wortes zum Gefängnis. Für mich ist er im Grunde ein Bild für Mutterschaft in allen möglichen Facetten und insbesondere für Schwangerschaftsdepression und postpartale Psychose.

    »Als das Kind noch eine Möglichkeit war, war da so eine unbändige Liebe in ihr.«

    Die Erzählerin hat die Rolle der Mutter ihr ganzes Leben lang idealisiert, dem Zeitpunkt entgegengefiebert, wenn sie endlich selber ein Kind haben wird. Auf mögliche Schwierigkeiten war sie nicht vorbereitet – geschweige denn darauf, dass sie selber während ihrer Schwangerschaft den Fötus nur als Wurm, als schmarotzenden Parasiten empfindet. An dieser Stelle macht die Handlung einen Sprung, die Realität zersplittert. Eben war sie noch hochschwanger, jetzt ist das Kind auf einmal schon ein paar Jahre alt. Ein goldiges kleines Mädchen. Ein Schock, aber endlich scheint sie im ersehnten Mutterschafts- und Familienglück angekommen zu sein. Alles gut? Nur auf den oberflächlichen Blick. Da sind tausend kleine und große Zeichen, dass diese Idylle scheinbar von außen (auf der Märchenebene) bedroht wird, aber immer wieder wird nur allzu klar, dass diese Gefahr in Wirklichkeit von innen kommt.

    Wenn Amira kurz davor steht, dies selber zu erkennen, ihre eigenen widerstreitenden Gefühle anzunehmen, fragmentiert die Handlung. So begegnet sie zum Beispiel am Anfang, offensichtlich noch hochschwanger, im Wald einem kleinen Mädchen, das sie erst viel später, im Rückblick, als ihre eigene Tochter erkennt. Sie packt es an den Händen und drückt so fest zu, dass die Knochen knacken. Da verbirgt sich eine unterdrückte Aggression, ein Ressentiment gegen die als Gefängnis empfundene Rolle. Viel später, wir sind inzwischen im vermeintlichen Familienglück angekommen, beginnt die kleine Tochter jäh zu weinen und die Hände merkwürdig zu halten, läuft dann vor ihrer Mutter davon und verkriecht sich unter dem Bett. »Mama, nein, aua!« Was ist Traum, was Wirklichkeit? Ist die Erzählerin so überfordert, dass sie ihr Kind tatsächlich misshandelt?

    »Was ist mit ihr? Wird sie sich auflösen? Sie ist bereit zu verschwinden.«

    So surreal die Geschichte sich auch mehr und mehr präsentiert, so klar sind doch die Themen. Die Erzählerin hat das Gefühl, sie habe sich selbst verloren – gar kein eigenes Leben, kein eigenes Ich mehr. Auch wenn sie es sich nicht eingesteht, wünscht sie sich doch insgeheim, sie könnte ausbrechen aus ihrem Dasein als Mutter. Gleichzeitig kann sie nicht lassen von der Vorstellung, dieses müsse ihr Lebenssinn sein. Ja, sie liebt ihre Tochter, ohne jeden Zweifel, würde für sie sterben wie die Mutter im Märchen, aber da ist auch dieser Groll, dieses langsame Ersticken …

    Ein Dilemma, für das es keine perfekte Lösung gibt, und so bietet der Roman meines Erachtens auch nur ein eindringliches Panorama dieser Konflikte, aber letztendlich keinen konkreten Ausweg. Obwohl man das Ende sicher sehr unterschiedlich interpretieren kann!

    Ich konnte mich der Geschichte von der ersten Seite an nicht entziehen. Sie hielt mich gepackt mit einem Gefühl der dräuenden Verdammnis und gleichzeitig dem Wunsch nach einer Versöhnung der Erzählerin mit sich selbst. Das ist spannend und ruft viele Assoziationen hervor, die man als Leser:in erstmal sortieren muss. In meinen Augen habe ich nie zuvor etwas gelesen, in dem Mutterschaft so kafkaesk symbolisch-bedrohlich dargestellt wurde, und zugleich so glaubhaft und emotional überzeugend. Jessica Lind nutzt Depersonalisation und Derealisation, schafft einen Abstand durch die Ebene der Märchenerzählung, um ihre Geschichte in einer Vielzahl von Farben zu malen und dabei doch subtil zu bleiben. Die Sprache ist einfach, schlägt aber gekonnt die Brücke zwischen den märchenhaften und den realistischen Elementen.

    Fazit

    Ihr ganzes Leben lang träumt Amira schon davon, Mutter zu werden. Sie sammelt Babynamen, stellt sich ihre Tochter vor, ist mit hundertprozentiger Sicherheit davon überzeugt, in der Mutterschaft ihr Lebensglück zu finden. Dass ihr Mann Josef mit der Vorstellung hadert, Vater zu werden, ändert nichts an dieser Überzeugung. Als sie endlich schwanger wird, zerbricht diese jedoch – der Fötus ist für sie kein Baby, sondern ein wurmartiger Parasit. Dies behält sie jedoch für sich, in der Hoffnung, dass die Geburt alles wieder ins Reine bringen wird. Und das tut sie, aber gleichzeitig auch nicht, denn die Wirklichkeit gerät aus den Fugen.

    Mutterschaft, postpartale Depression oder gar Psychose, Eheprobleme – Jessica Lind verpackt diese nur zu realistischen Themen in eine Geschichte, die die Genregrenzen überschreitet. Raum und Zeit verschwimmen, ein Märchen scheint auf surreale Weise zum Leben zu erwachen, die Protagonistin verliert vollkommen den Halt, und doch steht im Zentrum stets das Thema Mutterschaft. Als Traum, als Albtraum, als Weg zum Lebenssinn oder als vollkommener Verlust der Selbstbestimmung…

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  1. Interessant, beklemmend, verwirrend

    „Und da ist dieses vertraute Gefühl, gemeinsam einen Augenblick zu erleben, den sie gleich empfinden, anstatt Menschen auf zwei verschiedenen gedanklichen Kontinenten zu sein.“ (Zitat Pos. 100)

    Inhalt
    Josef und Amira verbringen einige Tage in einer einsamen Hütte im Wald. Josef hat dort die Sommer seiner Kindheit verbracht. Drei Tage Urlaub in der Natur, völlig abgeschieden, Zeit füreinander. Der Zeitpunkt ist von Amira bewusst gewählt, sie hofft, dass es endlich mit dem lang ersehnten Kinderwunsch klappt. Tatsächlich wird Amira schwanger und sechs Wochen vor der Geburt fahren die beiden wieder zur Hütte, Babymoon, der letzte Urlaub ohne Kind. Die nächsten Ferien folgen mehr als drei Jahre später, diesmal mit Tochter Luise, ihr Vater will ihr die Natur zeigen. Doch immer öfter gleitet Amira in unterschiedliche Zeit- und Wahrnehmungsebenen ab, die Grenzen zwischen Einbildung und Realität verschwinden.

    Thema und Genre
    In diesem Roman mit starken psychologischen Themen wie Ängsten, Realitätsverlust und Zwängen, geht es im die Veränderungen im Leben einer Frau, wenn sie Mutter wird, um den Schritt von Beziehung und Partnerschaft zur Familie. Im Laufe der Geschichte gleiten die Ereignisse durch übernatürliche, unerklärbare Wahrnehmungen ins Horrorgenre ab.

    Charaktere
    Amira ist keine sympathische Figur. Sie ist besessen von ihrem Kinderwunsch, was auch die Beziehung zu ihrem Ehemann Josef belastet. Dann wird sie zur Übermutter, will eine perfekte Mutter sein, gleichzeitig belasten sie Zweifel und Ängste, Andeutungen weisen auf das Gegenteil hin. Ständig hinterfragt sie sich selbst zwanghaft in ihrer Mutterrolle, ihre Tochter wird zum Mittelpunkt ihres Lebens, um den sich alles dreht.

    Handlung und Schreibstil
    Die Geschichte wird in vier übergeordneten Teilen erzählt. Im personalen Mittelpunkt steht immer Amira; ihr Ehemann Josef und ihre Tochter Luise bleiben Nebenfiguren. Weitere Hauptprotagonisten sind eine einsame Hütte am Waldesrand, der Wald selbst, ein altes Märchenbuch, das Josefs Vater vor vielen Jahren geschrieben hat, und eine Hündin, vor der Amira panische Angst hat. Was zunächst leise und alltäglich beginnt, wird rasch durch kurze Episoden und viele unterschiedliche Andeutungen surreal und beklemmend. Wir folgen der Hauptfigur Amira durch einige Jahre, wobei sie selbst immer öfter hinterfragt, in welcher Zeit- und Wahrnehmungsebene sie sich befindet, und wir Lesende fragen uns das ebenso. Das Leben ein Traum, der Traum ein Leben, die Autorin lässt uns mit dieser etwas wirren, unglaubwürdigen Geschichte und vielen losen Enden zurück, gibt uns damit jedoch viel Stoff zum Nachdenken. Ich habe diesen Roman mit dem Gefühl beendet, dass sich nicht nur die Hauptfigur Amira im dichten Gedankenwald dieser Geschichte verirrt hat, sondern irgendwann auch die Autorin.

    Fazit
    Eine beklemmende, packende, etwas wirre Geschichte, ein Beziehungsroman mit starken psychologischen Themen und Elementen aus dem Horrorgenre.

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