Maifliegenzeit: Roman

Buchseite und Rezensionen zu 'Maifliegenzeit: Roman' von Matthias Jügler
5
5 von 5 (10 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Maifliegenzeit: Roman"

Für Katrin und Hans wird der Alptraum aller Eltern wahr: Nach der Geburt verlieren sie noch im Krankenhaus unweit von Leipzig ihr erstes Kind – und kurz darauf auch sich als Paar. Denn Katrin quälen Zweifel an der Darstellung der Ärzte, Zweifel, von denen Hans nichts wissen will. Als Katrin Jahre später stirbt, wird klar, dass sie mit ihren Befürchtungen womöglich Recht hatte. Bei seinen Recherchen, die ihn tief in die Geschichte der DDR führen, stößt Hans auf Ungereimtheiten und eine Mauer des Schweigens. Klären kann er all seine Fragen in Zusammenhang mit dem Tod des Säuglings nicht, doch der Gedanke daran, in einem entscheidenden Moment seines Lebens versagt, etwas versäumt, einen Fehler begangen zu haben, lässt ihn künftig nicht mehr los. Da klingelt eines Tages das Telefon und sein Sohn ist am Apparat. Aufgewachsen in einer Adoptivfamilie, unterscheidet sich seine Vorstellung von der Vergangenheit grundlegend von dem, was Hans ihm erzählt. Wird sich die Kluft, die das Leben in einem Unrechtsstaat und vierzig fehlende gemeinsame Jahre gerissen haben, wieder schließen lassen? Matthias Jügler zeichnet das bewegende Porträt eines traumatischen Verlustes, erzählt von folgenschweren Zweifeln, von der Kraft des Neubeginns und dem heilsamen Erleben der Natur. Ein feinsinniger Familienroman über ein dunkles Kapitel ostdeutscher Geschichte.

Format:Gebundene Ausgabe
Seiten:160
EAN:9783328602897

Rezensionen zu "Maifliegenzeit: Roman"

  1. 5
    25. Jun 2024 

    Wenn die Hoffnung überlebt

    Jedes Jahr um Pfingsten herum beginnt am Oberlauf der Unstrut die Maifliegenzeit. Für Hans ist dies jedes Mal ein aufregendes Erlebnis, ein wundervolles Naturereignis, das er gerne betrachtet. Es ist aber auch die Zeit, in der er besonders an den Verlust seiner Frau und seines Sohnes gedenkt.
    Es war eine sehr schwere Zeit vor fast 40 Jahren. Katrin, im Halbwachstadium der Kaiserschnittnarkose, hat den Jungen kräftig schreien hören und doch ist er während der notwendigen Einlieferung in ein anderes Krankenhaus verstorben. Die junge Mutter hat das nie geglaubt und er, anstatt sich aufzurappeln und etwas zu unternehmen, duckte sich einfach weg.
    So begann er lange Zeit den Gedanken an sein Kind und Katrin zu unterdrücken. Er wusste sich nicht anders zu helfen und es schien, wenn schon nicht gut, doch für ihn zumindest in Ordnung zu sein.
    Als 40 Jahre später das Telefon klingelt und sein Sohn am Apparat ist, versucht Hans sich auf ein erstes Treffen vorzubereiten. Es läuft alles anders, als er es sich hätte jemals vorstellen können.

    Meine persönlichen Leseeindrücke zu „Maifliegenzeit“
    Es müssen nicht immer dicke Wälzer sein, die eine gewaltige Geschichte erzählen. In diesem Fall sind etwa 160 Seiten genug und ich habe über ein Schicksal erfahren, das mich mein Leben lang begleiten wird.
    Die Umstände, die Katrin und Hans von ihrem Sohn getrennt hatten, begründen ein unfassbar schmerzliches Schicksal, das aus der Sicht des Ich-Erzählers Hans geschildert wird. Trauer überwiegt, Hoffnungslosigkeit entkräftig die Lebensfreude, es erdrückt mich fast selbst. Wären da nicht die Unterbrechungen, die der Angelleidenschaft Hans zu verdanken sind, würde die Resignation die Oberhand gewinnen. Ich frage mich, welche Bedeutung der Autor dem Angeln beimisst, denn die zahlreichen Einlagen nehmen fast die Hälfte des Buches ein. Vielleicht will er einen biblischen Bezug herstellen – was auch immer: die Angelszenen beruhigen mich ungemein und lassen die sehr intensiven Schilderungen dieser fassungslosen Geschichte erträglich erscheinen.
    Doch wer glaubt ein todtrauriges Buch zu lesen, irrt sich gewaltig. Es ist die überaus ruhige und bedachte Erzählstimme, die durch ein lebensbejahendes Klangspiel die Stimmung des Romans vor der Tristesse rettet. Etwas Ähnliches hatte ich schon einmal gelesen, eine ähnliche Thematik wenngleich aus umgekehrter Sichtweise, erzählt auch Przemek Zybowski in „Das pinke Hochzeitsbuch“. Vielleicht ist es die höchst emotionale Authentizität, die auf eine wundersame Weise eine Verbindung zu mir herstellt und mich an das Buch fesselt.
    Eine unerwartet harte aber unglaublich intensive Wendung erfährt die Geschichte, als sich der Sohn nach fast 40 Jahren meldet. Der totgeglaubte lebt und was immer Hans sich hat denken können oder wollen, niemals wäre er auf die Idee gekommen, dass es eine andere Realität als seine geben kann.
    Der Bruch, kurz nach dem Kennenlernen, das Misstrauen des Sohnes und der Charakter des Vaters, schließen vermeintlich die Geschichte. Ein mögliches Ende, ich kann Martin (Anm. der Sohn „Daniel“) durchaus verstehen und hätte vermutlich genauso gehandelt.
    Doch nun wieder eine Wendung, überraschend und ganz kurz vor dem Ende, aber gerade deshalb umso schöner, die nur der Sohn möglich machen konnte. Bis dahin vergeht ein Jahr.

    Fazit
    „Maifliegenzeit“ von Matthias Jügler beschäftigt sich mit der staatlich organisierten Säuglingsentführung in der ehemaligen DDR. Ein schweres Thema, das in einer Atmosphäre der Hoffnung unglaublich einfühlsam geschrieben ist.

  1. Mein erstes Jahreshighlight

    Maifliegenzeit" war mein erster Roman aus der Feder von Matthias Jügler, aber sicher nicht mein letzter. Was für ein tolles Buch! Auf ca. 160 Seiten erzählt Jügler hier sehr einfühlsam vom organisierten Kinderraub zur Zeit der SED-Diktatur in der ehemaligen DDR. Ich hatte davon zuvor kaum etwas gehört und bin erstaunt und schockiert, dass dies tatsächlich, wie Jüglers Recherchen ergaben, bei weitem kein Einzelfall war. Ich kannte vergleichbare Geschichten bislang eher aus entfernteren Diktaturen und habe dazu einige sehr bewegende Romane zur Zeit der argentinischen Diktatur gelesen. Literarisch gesehen, steht Jüglers Roman diesen in nichts nach. Das Buch hat mich regelrecht gefesselt und emotional tief bewegt. Ein erstes Lesehighlight in diesem Jahr!

    Jügler setzt sich in "Maifliegenzeit" mit der Frage auseinander, was es mit einem macht, wenn ein tot geglaubtes Kind nach mehreren Jahrzehnten einfach auf der Bildoberfläche auftaucht- mit einer völlig anderern Version des Geschehenen im Gepäck. Der 65 jährige passionierte Angler Hans kehrt eines Tages vom Angeln in der Maifliegenzeit zu seiner Partnerin Anne nach Hause zurück, wo diese ihm eröffnet, sein Sohn Daniel habe angerufen und bitte um einren Rückruf. Hans glaubt seinen Ohren nicht zu trauen. Er erinnert sich an die Zeit damals, wo er noch mit Katrin zusammen war und ihnen im Krankenhaus nach der Geburt ihres Sohnes mitgeteilt worden war, ihr Sohn sei gestorben. Es war eine sehr harte Zeit, erinnert er sich selbstkritisch. Katrin zweifelte und haderte mit dem Schicksal, konnte und wollte nicht glauben. Er selbst versuchte die bittere Pille zu schlucken und wäre gerne zur Tagesordnung zurück gekehrt. Die Beziehung scheiterte letztlich aufgrund der unterschiedlichen Wege mit dem Geschehenen umzugehen.

    Hans erinnert sich, dass Katrin ihn kurz vor ihrem Krebstod bat, die Augen aufzubehalten und ggfs. die Chance zu ergreifen, aktiv zu werden. Und nun war diese Chance plötzlich da. Jetzt ergeht es ihm selbst wie vielleicht damals Katrin: Er möchte Gewissheit, was damals vorgefallen ist. Das Wiedersehen mit dem verloren geglaubten Sohn- alles erscheint plötzlich so einfach. Aber es ist dies natürlich nicht. Die gehegten Erwartungen sind zu hoch, die Sichtweisen auf und die Interpretationen vom Geschehen damals zu unterschiedlich. Doch dann, als Hans sich bereits in diesem Scheitern wieder einzurichten beginnt, meldet sich Daniel, der ein anderes Leben als Martin lebt. Gemeinsam gehen Vater und Sohn in der Maifliegenzeit angeln...

    Was für ein Buch! Und welch düsteres Kapitel der ostdeutschen Geschichte, dem sich Jügler hier mit sehr viel Fingerspitzengefühl widmet. Atemlos habe ich das schmale Büchlein gelesen und habe mit Hans mitgefiebert. Der Schreibstil Jüglers hat mich begeistert und mitgenommen, mit Hans erlebte ich ein Wechselbad der Gefühle. Ich bin froh, dass das Buch kein Happy End im engeren Sinne bereithält und doch findet die Geschichte ein hoffnungsvolles Ende. Sehr stimmig, wie Jügler die Naturmetaphorik einsetzt; das Angeln in der Maifliegenzeit wird wunderbar und gekonnt zur Metapher des Verhältnisses zwischen Vater und Sohn. Blut ist dicker als Wasser, sagt man, und hier bekommt diese Redewendung ihre eigene, auch Generationen verbindende Bedeutung. "Maifliegenzeit" ist ein absolutes Lesehighlight für mich gewesen und verdient eine Höchstbewertung und eine hoffentlich große Leserschaft.

  1. Dunkle Historie einfühlsam erzählt

    Der 65-jährige Hans lebt in der Brandenburgischen Provinz im Haus seiner Eltern, das unweit des Flüsschens Unstrut gelegen ist. Die Leidenschaft zum Angeln hat er von seinem Vater übernommen. Schon oft hat ihm die intensive, fast meditative Beschäftigung am Wasser Ruhe und Trost in bewegten Zeiten beschert, der eigentliche Fang spielt für Hans eine untergeordnete Rolle. Eines Tages überrascht ihn seine Lebensgefährtin mit der Nachricht, dass sein Sohn Daniel angerufen habe und um Rückruf bittet. Hans ist wie vom Donner gerührt. Daniel? So hieß sein kleiner Sohn, der seit über 40 Jahren tot ist. Hans war damals mit Katrin zusammen, beide studierten auf Lehramt und freuten sich sehr auf den Nachwuchs. Nachdem die Schwangerschaft völlig problemlos verlaufen war, wurde dem Paar im Kreißsaal mitgeteilt, dass ihr kleiner Sohn kurz nach der Geburt plötzlich und unerwartet gestorben sei. Welch ein Schock!

    Der Anruf führt Hans zurück in seine Vergangenheit. Das Ehepaar verarbeitete den tragischen Tod des Kindes völlig unterschiedlich. Katrin vermutete eine Intrige, lief innerlich Amok, konnte sich mit dem Schicksalsschlag nicht abfinden. Hans fügte sich in das scheinbar Unausweichliche, versuchte es zu akzeptieren, hob sogar das kleine Grab allein aus – und nun dieser Anruf…

    Matthias Jügler verarbeitet in seinem nur 160 Seiten starken Roman ein trauriges Kapitel DDR-Geschichte, in dem Eltern der Säuglingstod ihres Kindes nur vorgetäuscht wurde, um das Kind anderweitig zu vermitteln. Wie der Autor diesen ernsten Stoff präsentiert, ist große Schreibkunst. Gegenwarts- und Vergangenheitsebenen fließen perfekt ineinander, die Figuren werden vielschichtig ausgeleuchtet. Der ruhige Text vermittelt eine unaufgeregte Intensität. Der Protagonist Hans findet immer wieder Zuflucht an der Unstrut, die die Konstante seines Lebens darstellt. Er kennt die Tier- und Pflanzenwelt genau, die Laichgebiete der Fische, ihre langen, verschlungenen Wege dorthin, ihr Paarungs- und Laichverhalten. Jährlich beobachtet er den spektakulären Tanz der Maifliegen, während sie von den Fischen gejagt werden. Völlig organisch flechtet Jügler informative Fischgeschichten ein, bei denen man spürt, dass der Autor auch in diesem Bereich enorme Expertise besitzt. Was auf den ersten Blick irritierend wirken könnte, legt auf den zweiten eine höchst emotionale Authentizität frei, sobald sich die Bezüge zur Hauptgeschichte offenbaren. Grandios konzipiert!

    Bei mir hat sich der Roman von der ersten Zeile an verfangen. Der eindringliche Schreibstil, der an keiner Stelle ins Kitschige oder Sentimentale abdriftet, die poetischen Naturbeschreibungen, die konsequent verfolgte Spannungslinie, Figurenzeichnungen sowie Tiefe und Komplexität des Themas – hier stimmt einfach alles.

    Ein großer kleiner Roman, den man kaum aus der Hand legen kann und der ungemein neugierig auf weitere Werke des talentierten Schriftstellers macht. Für mich ein absolutes Highlight, das ich mit fünf hell leuchtenden Sternen bewerte.

  1. 5
    12. Mai 2024 

    Ein weiteres dunkles Kapitel DDR- Geschichte

    Matthias Jügler, noch in der DDR geboren, und zwar 1984 in Halle, hat sich schon in seinem zweiten Roman „ Die Verlassenen“ mit der Vergangenheit seines Landes beschäftigt. Und das, obwohl er das DDR- Regime kaum bewusst erlebt hat; schließlich war er zur Wendezeit noch ein Kindergartenkind. Trotzdem lässt ihn das Thema nicht los. Bei Recherchen zum unrühmlichen Kapitel der Zwangsadoptionen, bei denen man Eltern, die als „ Staatsfeinde“ galten, ihre Kinder weggenommen und zur Adoption freigegeben hatte, stieß er auf eine noch unglaublichere Geschichte. Ein realer Fall wurde dann zur Grundlage seines neuen Romans .
    Der 65jährige Rentner Hans wird nach seiner Heimkehr vom Angeln von seiner Lebensgefährtin Anne mit einer Nachricht überrascht. Sein Sohn Daniel habe angerufen. Dabei ist Daniel doch vor vierzig Jahren schon gestorben, gleich nach seiner Geburt. Eigenhändig hatte Hans das Grab für sein Kind ausgehoben.
    Wie glücklich waren Hans und Katrin, beides Lehramtsstudenten, über die Schwangerschaft. Sie machten Pläne für die Zukunft, Heirat, ein gemeinsames Haus, ein zweites Kind. Doch dann, als Katrin 1978 nach einem Kaiserschnitt einen Jungen zur Welt bringt, zerbrechen alle Wünsche und Hoffnungen. Das Baby wird der Mutter sofort weggenommen, es müsse dringend behandelt werden. Und dann der Schock: das Kind ist tot.
    So ein Schicksalsschlag kann Paare noch fester aneinander binden, wenn beide sich in ihrer Trauer Trost und Stütze sind. Nicht aber hier. Während Hans wie erstarrt sich in das Unabänderliche fügt, zweifelt Katrin an den Aussagen der Ärzte. Sie ist überzeugt, dass ihr Kind gesund ist, dass es lebt. Hans erträgt ihre Zweifel nicht, er will, dass Katrin den Verlust akzeptiert. Die Beziehung zerbricht.
    Die beiden sehen sich erst wieder neun Jahre später, Katrin ist an Krebs erkrankt. Vor ihrem Tod nimmt sie Hans noch das Versprechen ab, er möge die Augen offenhalten, falls sich irgendwann eine Möglichkeit ergibt, Genaueres zu erfahren.
    Nach dem Mauerfall unternimmt Hans mehrere Versuche, Einblicke in die alten Krankenhausakten zu erhalten. Dabei stößt er zunächst auf erheblichen Widerstand, doch später erhält er geschwärzte Dokumente. Etwas scheint tatsächlich vertuscht worden zu sein.
    Und dann kommt der Anruf von seinem Sohn.
    Nur knapp 160 Seiten braucht Matthias Jügler um diese unwahrscheinliche Geschichte zu erzählen. Aus Hans‘ Perspektive und in der Rückschau erfahren wir vom Geschehen. Ohne Pathos und ohne Sentimentalitäten, beinahe nüchtern schildert Hans das Erlebte. Dabei lernen wir einen stillen, introvertierten Menschen kennen. Kraft und Trost findet Hans beim Angeln, ein Hobby, das schon sein Vater pflegte. Hier, in der Einsamkeit der Natur, kann er seinen Gedanken nachgehen. Lange hatte er die Erinnerung an Katrin und seinen Sohn verdrängt. „ Heute weiß ich, dass der Versuch, die Ereignisse der Vergangenheit unter den Teppich zu kehren, um das zu führen, was man ein normales Leben nennt, von Anfang an zum Scheitern verurteilt war.“
    Schuldgefühle plagen ihn. Katrin gegenüber, weil er sich damals so empathielos verhalten und ihre Zweifel nicht ernstgenommen hat und auch, weil seine Versuche, die Wahrheit herauszufinden, anfangs nur halbherzig waren. Fragen quälen ihn. Wie wäre sein Leben verlaufen ohne dieses Verbrechen? Wie das von Katrin und seinem Sohn?
    Wie der Autor Vergangenes und Gegenwart, Reflexionen und Erlebnisse miteinander verknüpft, spricht für sein literarisches Können. Ruhe verströmen die zahlreichen Passagen übers Angeln. Jügler versteht es durch leise Andeutungen und viele Metaphern aus dem Naturbereich Stimmungen und Gefühlslagen spürbar zu machen.
    Die titelgebenden Maifliegen verharren monatelang auf dem Grund der Flüsse und Bäche und steigen nur zur Paarung nach oben. „ Aber nur, weil sich etwas dem Blick so konsequent entzieht, heißt das nicht, dass es nicht existiert.“
    Das Angeln lehrt auch Geduld und das Loslassen - Können, beides Eigenschaften, die Hans brauchen kann.
    Jügler lässt vieles im Ungefähren, in der Schwebe, lässt Raum für eigene Gedanken, und trotzdem ergibt das eine runde, stimmige Geschichte.
    In der Nachbemerkung lesen wir, dass so etwas kein Einzelfall war. „ Aufgeklärt sind bis zum heutigen Zeitpunkt drei solcher Verbrechen, die Zahl der Verdachtsfälle liegt jedoch bei 2000.“ Die „Interessengemeinschaft gestohlene Kinder der DDR“ kümmert sich um diese.
    Der Leipziger Autor hat unlängst für diesen Roman den Rheingau- Literaturpreis erhalten, völlig zu Recht.
    Dieses stille, aber umso eindringlichere Buch verdient alle Aufmerksamkeit, weil es jeglicher Ostalgie entgegenwirkt, in dem es ein weiteres Kapitel des Unrechtsstaates DDR aufzeigt.

  1. Sehr viel Tiefe und Seele auf wenigen Seiten

    „Maifliegenzeit“ ist ein wunderbares Beispiel dafür, dass ein Roman auch dann eine große Tiefe und Kraft entfalten kann, wenn er nicht sehr umfangreich ist. Matthias Jüglers Text befasst sich mit einem düsteren und bedrückenden Thema: Hans und seine Frau bekommen zu DDR-Zeiten ein Kind, das bei der Geburt völlig gesund erscheint; kurze Zeit nach der Entbindung wird den Eltern jedoch mitgeteilt, dass ihr Baby leider verstorben sei. Während Hans sich passiv in sein Schicksal fügt, begehrt die Mutter auf und vermutet, dass ihr das Kind auf Betreiben höherer Stellen entzogen wurde. Da das Paar so unterschiedlich mit dem Verlust umgeht, zerbricht schließlich die Beziehung daran.

    Die Auseinandersetzung mit diesem schmerzhaften Erlebnis erfolgt in „Maifliegenzeit“ Jahrzehnte später aus der rückblickenden Perspektive von Hans. Neben der Rückschau setzt sich der Roman auch mit Hans‘ Leben in der Gegenwart auseinander. Bereichert wird dieser Blick auf den Ich-Erzähler durch zahlreiche Angelszenen, die in die Handlung eingeflochten sind und als Metapher bestimmte Szenen aus der Vergangenheit ergänzen und erläutern und Hans‘ Charakter zusätzlich illustrieren. So wird die Aussage des Textes vervollkommnet. Dazu strahlen die Szenen in der Natur eine überaus große Ruhe, Zufriedenheit und Gelassenheit aus - selbst als Leser kann man den Frieden spüren, den Hans in diesen Momenten des Fischens findet. Trotz der belastenden Thematik des Romans – und das ist tatsächlich eine ganz große Kunst – beschwert der Roman nicht, im Gegenteil: er lässt gerade in den Naturszenen viel Raum für Wohlbefinden.

    Dieses Wohlgefühl entsteht nicht zuletzt dadurch, dass Jügler eine außerordentliche Gabe hat, Sprache hervorragend und gut überlegt einzusetzen. Er schreibt zwar klar und eingängig, seine Wortwahl und sein Sprachfluss haben aber deutlich poetische Anklänge, ohne jedoch übertrieben, dramatisch oder verschwurbelt daherzukommen. Stattdessen treffen seine Sätze in die Seele und seine Sprache ist von einer solch besonderen Ästhetik, dass auch sie zum Wohlbehagen beiträgt. Neben dieser Sprachbeherrschung gelingt es dem Autor außerdem, sich perfekt in Hans‘ Figur hineinzuversetzen. Hans, seine Sprache, sein Charakter und sein Verhalten wirken an keiner einzigen Stelle konstruiert oder artifiziell, der Protagonist ist einfach durch und durch stimmig. Ebenso überzeugend herausgearbeitet sind die angesprochenen potenziellen Mechanismen in der DDR und obwohl die Ausgangslage der Geschichte die Vorlage für Anklage und Wut bietet, weigert sich der Roman bei aller Tragik jemals ins Künstliche, Dramatische oder Sensationsheischende abzugleiten. Stattdessen bleibt der Text lebensnah, authentisch und auf eine stille Art erschütternd und entzieht sich jeder Entwicklung, die man aufgrund gemachter Leseerfahrungen als „erwartbar“ bezeichnen würde – er bleibt einfach ganz nah an der menschlichen Empfindung und am Verhalten „durchschnittlicher“ Menschen und entfaltet so eine ganz besondere Wirkung.

    „Maifliegenzeit“ ist ein außergewöhnlicher Roman, der trotz der Trauer, des Verlusts und des Kummers glücklich macht, weil er seine Figuren versteht, weil er die Natur ohne großes Aufheben als überaus geglückte Metapher verwendet, weil er literarisch anspruchsvoll ist, dabei aber stets lesbar und verständlich bleibt und weil er auf stille und wohlwollende Art eine besondere Sprache verwendet und feiert. Ein großes Leseglück und eine absolute Leseempfehlung.

  1. Was man nicht sieht

    40 Jahre liegen zwischen den beiden zentralen Ereignissen des Romans "Maifliegenzeit" von Matthias Jügler. Der Ich-Erzähler Hans, ein 65-jähriger pensionierter Lehrer und Hobbyangler, hat 1978 seinen angeblich nur Stunden nach der Geburt verstorbenen Sohn Daniel in einem selbst ausgehobenen Grab auf dem Größnitzer Friedhof im heutigen Burgenlandkreis in Sachsen-Anhalt begraben. Mit dem Tod ihres Wunschkinds zerbrach die Beziehung zwischen Hans und Katrin. Statt gemeinsam zu trauern und sich Halt zu geben, entfernte das schreckliche Ereignis die verhinderten Eltern immer weiter voneinander. Während Katrin sich aufbäumte und zweifelte, verstummte Hans in Schockstarre, akzeptierte die Tragödie und forderte dasselbe von ihr. Schuldgefühle verfolgen ihn deshalb bis heute:

    "Heute weiß ich, dass der Versuch, die Ereignisse der Vergangenheit unter den Teppich zu kehren, um das Leben führen zu können, was man ein normales Leben nennt, von Anfang an zum Scheitern verurteilt war." (S. 10)

    Leben mit dem Verlust
    Wie einst sein Vater findet Hans Trost beim Angeln in der Unstrut. Erst 1987 sieht er die von ihrer Krebserkrankung gezeichnete Katrin in Erfurt ein letztes Mal wieder, wo sie ihn bittet, zum richtigen Zeitpunkt die Augen offenzuhalten.

    Wiederholt unternimmt Hans nach der Wende Versuche, Katrins Verdacht nachzugehen, unterstützt von seiner klugen, warmherzigen und einfühlsamen neuen Partnerin Anne. Er trifft auf Ablehnung, Misstrauen und Zurückweisung: Zwangsadoptionen, ja, aber vorgetäuschten Kindstod hätte es wohl in Francos Spanien, nicht aber in der DDR gegeben!

    Doch dann geschieht das Unglaubliche: Nach 40 Jahren ruft Daniel, der nun Martin heißt, an:

    "Ich war am Ende einer unwahrscheinlichen Geschichte angelangt. Dabei fing es, wie ich heute weiß, eigentlich erst richtig an." (S. 82)

    Wie ein sicher geglaubter Fisch an der Angel sich manchmal losreißt, droht auch der wiedergefundene Sohn abzutauchen, wenn Hans nicht größtes Geschick beweist:

    "Geduld, das hatte mir mein Vater vor Jahrzehnten beigebracht, brauchte man als Angler gleich zweimal: bevor der Fisch beißt – und danach." (S. 143)

    Ein phantastischer Erzähler
    Maifliegenzeit ist der dritte Roman des 1984 in Halle geborenen Autors Matthias Jügler, sehnsüchtig von mir erwartet, da mich bereits die beiden Vorgänger "Raubfischen" von 2015 und "Die Verlassenen" von 2021 begeistert haben. Alle drei Bücher sind schmal und extrem verdichtet. Die Sprache ist reduziert und unpathetisch, die Metaphern passgenau und bleibt genau die richtige Menge Raum für Ungesagtes. Der leise, von Melancholie und Nachdenklichkeit getragene Erzählton, die sensiblen Naturschilderungen und die schmerzlichen Themen erinnern an Skandinavier wie Per Petterson.

    Unsichtbar und doch existent
    Man muss nicht die Begeisterung des Autors für das Angeln teilen, um die Szenen an der Unstrut und die Geschichten über Karpfen, Barbe, Aal, Forelle und Hecht zu lieben, die nicht nur Hans, sondern auch die Leserinnen und Leser in den unerträglichsten Momenten trösten. Nie stehen diese Passagen für sich, immer findet sich ein direkter Bezug zur Romanhandlung. Besonders eindrücklich gelingt das beim titelgebenden Maifliegenfischen mit jenen Eintagsfliegen, die erst nach mehrjährigem Larvenstadium auf dem Grund ihres Gewässers einzig zur Fortpflanzung an die Oberfläche kommen:

    "Aber nur, weil sich etwas dem Blick so konsequent entzieht, heißt das nicht, dass es nicht existiert." (S. 79)

    Obwohl wissenschaftliche Beweise für systematisch vorgetäuschten Säuglingstod in der DDR, wie ihn auch die empfehlenswerte ARD-Fernsehserie Weißensee thematisiert, bisher fehlen, sind inzwischen drei solcher Fälle belegt. Wie viele der etwa 2000 Verdachtsfälle begründet sind, ist unbekannt, jedoch ist jeder einzelne eine nicht wiedergutzumachende Katastrophe für die Betroffenen.

  1. Einfühlsam erzählt

    Ich muss gestehen, dass ich vor der Lektüre zu "Maifliegenzeit" noch nie etwas vom Autor Matthias Jügler gehört habe. Doch nachdem ich nun diesen einfühlsamen Roman kennengelernt habe, werde ich garantiert weitere Bücher von ihm lesen.

    Das erschreckende an dieser Story ist, dass dieses Schicksal so oder ähnlich stattgefunden haben könnte.
    Hans, der auch durch die Handlung führt, ist mittlerweile 65 und lebt mit seiner Lebensgefährtin Anne in der Nähe der Unstrut, er ist leidenschaftlicher Angler. Dieses Hobby hat er vom Vater übernommen, die Märchen, wie es andere belächeln, die sich ums Fischen drehen, haben einen herrlichen Bezug zu den Ereignissen in Hans Leben. Auch der Titel wird in so eine wundervolle Geschichte eingebettet.

    In den 70er schien Hans Welt perfekt. Er war mit Kathrin verheiratet, sie erwartete das gemeinsame Kind. Das ehemalige Elternhaus von Hans war schon für den neuen Erdenbürger eingerichtet, doch dann die schreckliche Nachricht: Das Kind ist tot!
    Für die beiden bricht eine Welt zusammen, Hans ist kaum in der Lage die Unterlagen zu unterschreiben die ihm im Krankenhaus vorgelegt werden. Doch Kathrin ist überzeugt, dass ihr Sohn Daniel lebt. Hans schreibt es dem Kummer zu, ist selbst überfordert, und als Kathrin sich von dieser Idee nicht abbringen lässt, entfernen die zwei sich voneinander. Kathrin zieht aus.

    Fast 40 Jahre später geschieht dann das unglaubliche, Daniel ruft an. Hans hatte mittlerweile nachgeforscht, glaubte inzwischen, dass Kathrin doch Recht hatte, doch ihm wurden Steine in den Weg gelegt. Seine Nachforschungen wurden von mehreren Stellen behindert, die alten Akten größtenteils geschwärzt, was seinen Verdacht, dass Kathrin sich nicht nicht getäuscht hat, erhärtete. Nach dem Anruf steht fest, die zwei werden sich sehen.
    Doch natürlich läuft es im Leben nicht immer nach unseren Erwartungen…..auch hier werden Vorwürfe laut, genährt durch Missverständnisse und Fehlinformationen.

    Der Autor transportiert die Gefühle des jungen Mannes ebenso gut wie die des Vaters. Die Angst, die Selbstvorwürfe, alles hat seinen Platz. Als Leser leidet man mit den Charakteren mit, ist entsetzt über diese ungeheuerlichen Ereignisse die damals in der DDR verantwortlich waren für das Leid vieler Eltern.
    Das Ende ist ganz nach meinem Geschmack! Unbedingt zurücklehnen und lesen!

  1. Eine umstrittene Rekonstruktion

    ..., der Versuch ein dunkles Kapitel der DDR-Geschichte anzusprechen, die Fiktionalisierung von Verdachtsmomenten, macht dieses schmale Büchlein zu einem wahren Schwergewicht und ruft die Geister der Literaturpolizei auf den Plan. Eine Besprechnung seines Romans im Rahmen der Leipziger Buchmesse 2024 sollte nur unter der Bedingung der Vorlage von Belegen zur Wahrhaftigkeit von Jüglers Aussagen stattfinden. Ein Roman ist keine eidesstattliche Aussage, Herr Jügler fühlte sich nicht verpflichtet und so kam es zu keiner Lesung. Stattdessen muss sich Jügler des Vorwurfs, der Retraumatisierung von sich als Opfer fühlenden Eltern durch die ehemalige Beauftrage des Landes Sachen-Anhalt zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, Birgit Neumann-Becker, stellen... ei der Daus, was ist denn da los?

    Und um was geht es eigentlich?

    Hans und Katrin sind ein glückliches Paar und erwarten ihr erstes gemeinsames Kind. Es kommt 1978 zur Maifliegenzeit in Naumburg an der Saale zur Welt. Doch einen Tag später wird den Eltern mitgeteilt, dass der Säugling auf dem Transport in ein Kinderkrankenhaus verstorben sei. Es hätte ein zu schwaches Herz gehabt. Katrin ist zutiefst verstört, hat sie ihr Baby doch kräftig schreien hören. Sie merkt, dass etwas nicht stimmt. Hans hingegen ergibt sich still in seine Trauer und kann sich nicht mit Katrins unruhigem, fragenden Verhalten abfinden. Die Beziehung zerbricht. Hans bleibt im elterlichen Haus nah der Unstrut in Sachsen-Anhalt. Er ist passionierter Angler, wie schon sein Vater. Er findet am Wasser Trost. Katrin erliegt 1987 einem Krebsleiden, nimmt Hans aber noch das Verprechen ab, den Tod des gemeinsamen Sohnes Daniel zu recherchieren, sollte dies jemals möglich werden. 2 Jahre später ist es soweit, die Mauer fällt, Krankenakten werden zur Einsicht freigegeben. Doch auch jetzt stößt Hans auf Mauern. Erst 2018 verkündet seine neue Lebensgefährtin Anne, dass Daniel angerufen habe!

    Was anfänglich wie ein Anglerroman anmutet und den Leser auf eine spannende Reise in die heimische Fischwelt entführt, entpuppt sich aber bald zu einer dramatischen Geschichte um einen vorgetäuschten Säuglingstod. Das lebenslange Trauma der leiblichen Eltern, das "geraubte" Kind, dem plötzlich der Boden seiner festgefügten Wahrheiten entzogen wird... da scheint eine Annäherung schwierig, gar eine behördliche Hilfestellung, wegen Verleugnung solcherart Vorkommnisse, nicht in Sicht.

    Jügler lässt sein tendenziell postives Ende offen, doch hinterlässt er zumindest ein dickes Ausrufezeichen beim geneigten Leser. Es darf und muss diese Art der Literatur geben, zumal wenn sie so behutsam, ohne Anklage und Schlagzeilen auskommt. Aber den Klägern sei gedankt, das Wichtige wurde somit unterstrichen, das Interesse gesteigert.

    In einer Nachbemerkung stellt Jügler klar, dass es inzwischen 3 bestätigte Fälle von vorgetäuschtem Säuglingstod zwecks Weitergabe an fremde Eltern gibt. 2000 Verdachtsfälle harren ihrer Aufklärung und der Nachfolger von Frau Neumann-Becker, Johannes Beleites, sagt allen Betroffenen die Hilfe seiner Behörde zu. Eine Gratwanderung krempelt sich zu einer Kehrtwende um. Wozu Bücher doch alles gut sein können! Bitte lesen!

  1. Sag mir, wo die Kinder sind

    Als der 65-jährige Hans einen Anruf erhält, glaubt er, seinen Ohren nicht zu trauen. Es ist Daniel, sein Sohn, der kurz nach dessen Geburt vor 40 Jahren im Krankenhaus von Naumburg an der Saale für tot erklärt wurde. Ohne vorherige Warnung, ohne irgendwelche Anzeichen von Krankheiten. Seine Frau Katrin hatte von Beginn an Zweifel an dieser Geschichte, doch mittlerweile ist auch Katrin seit langer Zeit tot. Wie geht ein Vater damit um, wenn er erkennt, dass er nicht genug getan hat, um das Schicksal seines Kindes zu verfolgen? Und wie reagiert ein Sohn, wenn er nach so langer Zeit eine ganz neue Identität aufgezwängt bekommt? Davon und von so viel mehr erzählt Matthias Jügler in seinem neuen Roman "Maifliegenzeit", der jüngst im Penguin Verlag erschienen ist.

    Ursprünglich wollte Jügler über das Thema "Zwangsadoptionen in der DDR" schreiben, über Eltern, die vom Unrechtsstaat aus verschiedensten Gründen als untauglich eingestuft wurden, ein Kind zu erziehen. Ohne es gegeneinander aufwiegen zu wollen, wirkt das Sujet von "Maifliegenzeit" ungleich dramatischer. Es geht um Eltern, deren Kinder unmittelbar nach der Geburt für tot erklärt wurden, um offenbar linientreue Elternpaare mit deren Erziehung zu beauftragen. Es geht aber auch um Väter und ihre Söhne, um ihre komplizierten Beziehungen und um verschiedene Generationen von Eltern. Und es geht um die Liebe zur Natur und zur Region und nicht zuletzt um das Angeln.

    Denn "Maifliegenzeit" ist auch eine warmherzige Liebeserklärung an die Unstrut, einen Nebenfluss der Saale, und ihre Bewohner: die Fische. Detailliert und voller Respekt erzählt Jügler von diesen Tieren. Von der Barbe, die sich am liebsten ihr Leben lang versteckt hält, von der goldschimmernden Rotfeder und vom Karpfen, der aus Mitleid vom jungen Hans kurzerhand mal eben zurück ins Wasser geworfen wird. Und tatsächlich sind diese Naturbeschreibungen, die liebevollen Details, das große Plus dieses Romans. Jüglers Sprache ist einfach bezaubernd. Wer gedacht hat, dass ein Roman über das Angeln langweilig sein muss, der möge dieses gerade einmal 150 Seiten umfassende kleine Werk vorurteilsfrei zur Hand nehmen und sich eines Besseren belehren lassen.

    Doch auch auf der Handlungsebene weiß der Roman zu überzeugen. Wie Ich-Erzähler Hans nicht nur in seine Kindheit zurückblickt, sondern auch, wie er sich auf die langjährige Suche nach seinem Sohn und nach der Wahrheit begibt, liest sich für ein so stilles Buch bemerkenswert spannend. Zwischenzeitlich wähnt man sich fast in einem Krimi. Dabei gelingt es Jügler hervorragend, die Bilder der Fische mit den skandalösen Ereignissen rund um die Suche nach Daniel kongenial zu verknüpfen. Scheinbar spielend umgeht er dabei sogar eine möglicherweise drohende Kitschgefahr. Wenn beispielsweise Hans in einer unglaublich anmutenden Szene dazu gezwungen wird, eigenhändig das Grab seines Sohnes zu schaufeln. Oder wenn mehrere Seiten lang die titelgebende Maifliegenzeit hinreißend schön erklärt wird. Jügler erzählt poetisch und bildhaft, aber niemals übertrieben. "Maifliegenzeit" ist von vorn bis hinten anrührend, aber niemals rührselig.

    Da stört es letztlich auch nicht, dass man nach dem Zuschlagen des Buches ein wenig das Gefühl hat, dass das Finale im Vergleich zu den vorangegangenen 140 Seiten vielleicht nicht der Höhepunkt des Romans ist und dass einige Fragen offen bleiben. Schließlich setzt der Autor auf durchaus mündige Leser:innen - anders als es das DDR-Regime mit seinen Bürger:innen tat.

  1. 5
    14. Mär 2024 

    Sehr eindringliche Aufarbeitung

    Katrin und Hans haben ihren Sohn, wenige Tage nach seiner Geburt, verloren. Jetzt liegt Katrin in ihrem Bett und weint. Die Suppe, die Hans ihr brachte, hat sie nicht angerührt, den Tee nicht getrunken. Er weiß, dass er mit Katrin reden muss, ihr Trost schenken, sie festhalten, aber er verlässt das Haus, geht zügig runter zum Fluss.

    Am siebten Mai 1978 begräbt Hans seinen Sohn. Der Feuerwehrmann, dessen Aufgabe das eigentlich war, ist in Urlaub. Der Einfall des Sonnenlichts setzt alles ihn Umgebende grell in Szene. Die weißen Blüten des Apfelbaums, die pastelgelbe Kirche, den roten Traktor. Nachdem er auf die Erde eingehackt hat, mit der ganzen Kraft des fünfundzwanzigjährigen, bricht er zusammen und weint.

    Der Tod eines Neugeborenen gehört zu den Dingen, die am äußersten Rand unserer Vorstellungskraft liegen. Er widerspricht dem natürlichen Ablauf des Lebens auf so ungeheuerliche Weise, dass mich auch heute noch, der leiseste Gedanke daran aus dem Gleichgewicht bringen kann. S. 22

    Katrin wollte nicht wahrhaben, dass unser Sohn verstorben war. Sie hielt Monologe darüber, wie er laut geschrien hatte, als sie ihn von ihr fortbrachten, dass er nicht geklungen habe, wie ein Säugling mit schweren Herzproblemen. Der Arzt, der uns habe die Papiere unterschreiben lassen, habe ihr nicht in die Augen gesehen. Hans kann es nicht mehr hören, er schreit Katrin an, sie solle ihn endlich ruhen lassen und dann schüttelt er sie, wie man ein unwilliges Kind schütteln möchte. Danach ist Katrin weg, sie hat ihn verlassen.

    Vierzig Jahre später bringt seine Lebensgefährtin Anna ihm einen Zettel.

    Daniel hat angerufen, sagt sie, mit trockener und brüchiger Stimme. S. 15

    Daniel, mein einziges Kind, das seit vierzig Jahren tot ist.

    Fazit: Der Autor drückt sich sehr präzise aus. Er weiß genau, was er sagen will und das macht er, nicht mehr, nicht weniger und damit erzielt er die Essenz von Trauer, der Unfähigkeit zu Trösten, des Weglaufens, der Angst vor der eigenen Erschütterung und des Kontrollverlusts, wie sie Männern zuzutrauen ist. Seine Sprache ist eindringlich, durchzogen von Erinnerungen an den eigenen Vater, der als manisch-depressiver Mann, die Flucht nach vorn antrat, um seinen Dämonen zu entkommen. Er saß die meiste Zeit am Fluss, und angelte. Die Geschichte spricht über die Verletzlichkeit durch einen Verlust, der einen ein Leben lang begleitet. Wundervoll verbindend, eine solche Geschichte aus Sicht eines Mannes zu lesen. Und eine gelungene Aufarbeitung eines der dunkelsten Kapitel in der Vergangenheit Ostdeutschlands. So war die Geschichte von Karin S. aus Sachsen-Anhalt Grundlage für dieses Buch. Sie sucht noch heute nach ihrem Kind.