Macht: Roman

Buchseite und Rezensionen zu 'Macht: Roman' von Heidi Furre
4.5
4.5 von 5 (4 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Macht: Roman"

Liv ist Pflegerin, Mitte dreißig und führt ein scheinbar perfektes Leben in einem Osloer Einfamilienhaus. Sie liebt ihren Mann Terje und ihre beiden Kinder Rosa und Johannes. Aber was kaum jemand weiß, nicht einmal ihr Mann: Liv ist vor Jahren vergewaltigt worden. Der Gang zum Zahnarzt ist für sie eine Herausforderung, wenn sie nachts von der Bushaltestelle nach Hause läuft, muss sie Terje anrufen. Überall lauert die Angst. Liv bemüht sich, die Oberfläche frei von Kratzern zu halten. Auch wenn sie hinter der Fassade damit beschäftigt ist, ihr Trauma zu bewältigen: Sie will die Opferrolle nicht annehmen. Der Vorfall liegt ein halbes Leben zurück, warum soll er immer noch bestimmen, was sie im Hier und Jetzt tut? Doch als eine neue Patientin ins Pflegeheim eingeliefert wird, deren Bruder vor Jahren wegen einer Vergewaltigung angeklagt worden ist, muss Liv ihr mühsam aufgebautes Leben verteidigen. Bei ihrer Familie und ihrer Freundin Frances findet sie Kraft und Trost: Sie wagt die Konfrontation und übt den Befreiungsschlag – denn sie will unbedingt die Macht über sich selbst zurück. Heidi Furres Roman ist ein Buch mit großer Schlagkraft, ein Text, der sich mit dem Thema sexualisierter Gewalt auseinandersetzt, aber nicht die Tat, sondern die Frau, die sie erlebt hat, in den Mittelpunkt stellt. Eindringlich schildert Heidi Furre das Nebeneinander von Zweifel und Selbstbestimmtheit, Empathie und Wut.

Autor:
Format:Gebundene Ausgabe
Seiten:176
EAN:9783832182229

Rezensionen zu "Macht: Roman"

  1. 5
    24. Mär 2023 

    Umgang mit sexueller Gewalt

    Laut Statistik wird jede 10. Frau vergewaltig! Und wie gehen diese Frauen damit um?

    Bei Liv (verheiratet, 2 Kinder, in Oslo lebend) fand ‚es‘ vor ca. 15 Jahren statt! Und sie versuchte ‚die Erinnerung weg zu rationalisieren‘: außer einer Freundin aus dem Studium erfuhr es niemand (und die durfte es nicht weitererzählen)! Livs Plan: ‚sie würde es aushalten, es mit aller Macht hinkriegen, weiterzulaufen‘.

    Das war/ist aber nicht so einfach, wie sie sich das vorstellte: „Ich wurde von einem Werwolf gebissen. Es ist irreversibel, der Biss geht nicht weg, egal was ich tue. Ich habe alles versucht, ich habe die Wunde gesäubert, ich habe sie ignoriert, ich habe sie verheilen lassen, ich habe sie wieder aufgekratzt.“

    Auf Seite 70 führt sie einen Katalog auf, der sie ‚zurückwerfen könnte‘:
    ‚alles, was um die Handgelenke strammt, alles, was um den Hals strammt, zu warm angezogen sein, öffentliche Toiletten, zu viele Menschen im Bus, den Körper einer anderen Person im Bus zu berühren, vereinzelte Blicke, vereinzelte Gestalten, Spannbettlaken, das Geräusch einer Gürtelschnalle……………. (und etliche mehr, die insgesamt eine knappe Seite füllen!)

    Das Buch von Heidi Furre, ist das das erste von ihr, das 2023 auf Deutsch erschien, übersetzt wurde es von Karoline Hippe. Vielleicht empfinden manche Leser*innen das Buch als ein Aneinanderreihen von banalen Alltagssituationen - ich sah darin Livs Versuch, den Alltag zu bewältigen und das ging bei mir gewaltig unter die Haut!

    Interessant fand ich auch die Erwähnung von ‚Il Giardino die Tarocci‘, mit der Niki de Saint Phalle ihr persönliches Trauma versuchte, zu verarbeiten. (Und ich werde definitiv diesen ‚Tarot-Garten‘ besuchen, wenn ich in der Provinz Grosseto bin!)

    Fünf Sterne gebe ich diesem beeindruckenden Umgang mit einem schweren, aber (nach meiner Meinung) höchstwahrscheinlich ewigen Thema und empfehle es allen, die sich stark genug fühlen, sich damit zu beschäftigen!

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  1. "Vom Werwolf gebissen"

    Heidi Furre hat ein Buch geschrieben, das nicht dem reinen Lesevergnügen dient, dazu ist das Thema zu verstörend und zu präsent.
    Die Macht sich eines anderen Menschen zu bemächtigen, gewaltsam in ihn einzudringen, ist eine furchtbare Macht, die keinem Menschen gegeben sein sollte. Ein nur einmaliges Ausüben dieser Macht, kann ein ganzes langes Leben zerstören.

    Liv ist mittleren Alters, lebt mit ihrer Familie in ihrem Heim in Norwegen. Sie beschreibt ihr tägliches Leben zuhause, auf ihren Wegen und ihrer Arbeit in einem Pflegeheim.
    Mit scharfem Blick analysiert und reflektiert sie ihre detaillierten Beobachtungen, präzise sieht sie die menschlichen Stärken und Schwächen, ihr Tun und Trachten.
    Verfolgt wird sie von dem Unfreiwilligen, dem Ekligen, so nennt sie es, die Vergewaltigung. Alles was sie gerne tat, wurde durch sie verdorben, alle Leichtigkeit ist dahin. "Denn es ist allgegenwärtig, das was ich suche zu vergessen."
    "Ich wurde von einem Werwolf gebissen, der Biss geht nicht weg, egal was ich tue, es ist irreversibel", sagt sie.
    Ihr ist eine Vergewaltigung widerfahren, von der man von außen betrachtet nicht genau weiß, ob es eine war. Liv weiß nicht, ob sie nein dazu gesagt, oder nur gedacht hat, groß gewehrt hat sie sich auch nicht, sie hat es über sich ergehen lassen. Seit dem vergiftet dieses Geschehen ihr Leben.
    Wird sie Heilung und Vergessen finden?

    Das Cover des Buches hat hohen Symbolcharakter, zerbrochenes Porzellan in rosa, rosarot sind die Träume der Mädchenträume, der Unschuld, zerbrochen, nicht mehr zu heilen.
    Kintsugi ist die japanische Kunst, Kostbares, das zerbrochen ist zu veredeln, etwas noch schöneres daraus zu gestalten.
    Ob das nach einer Vergewaltigung möglich ist?

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  1. 5 Sterne!

    Klappentext:

    „Liv ist Pflegerin, Mitte dreißig und führt ein scheinbar perfektes Leben in einem Osloer Einfamilienhaus. Sie liebt ihren Mann Terje und ihre beiden Kinder Rosa und Johannes. Aber was kaum jemand weiß, nicht einmal ihr Mann: Liv ist vor Jahren vergewaltigt worden.Der Gang zum Zahnarzt ist für sie eine Herausforderung, wenn sie nachts von der Bushaltestelle nach Hause läuft, muss sie Terje anrufen. Überall lauert die Angst. Liv bemüht sich, die Oberfläche frei von Kratzern zu halten. Auch wenn sie hinter der Fassade damit beschäftigt ist, ihr Trauma zu bewältigen: Sie will die Opferrolle nicht annehmen. Der Vorfall liegt ein halbes Leben zurück, warum soll er immer noch bestimmen, was sie im Hier und Jetzt tut? Doch als eine neue Patientin ins Pflegeheim eingeliefert wird, deren Bruder vor Jahren wegen einer Vergewaltigung angeklagt worden ist, muss Liv ihr mühsam aufgebautes Leben verteidigen. Bei ihrer Familie und ihrer Freundin Frances findet sie Kraft und Trost: Sie wagt die Konfrontation und übt den Befreiungsschlag – denn sie will unbedingt die Macht über sich selbst zurück.“

    Autorin Heidi Furres spricht in ihrem Roman „Macht“ Themen an, über die man nicht so ohne weiteres spricht. Es geht um den Umgang mit sexueller Gewalt, vielmehr geht es darum wie eine Frau der dies widerfahren ist, damit umgeht. Protagonistin Liv hat dies erlebt und sie erzählte es so gut wie niemanden. Selbst ihr Mann hat davon keine Ahnung. Einerseits ist es ihr Schutzschild damit irgendwie umzugehen aber ihrer Familie gegenüber ist es doch auch ungerecht da sie sie in vielen Situationen im Leben sie immer und immer wieder braucht. Einigen erscheint dies komisch, andere denken es ist ein Tick, aber die Wahrheit kennt nur Liv. Liv hat ihre Gewohnheiten und lebt damit, ihre Mitmenschen stellen dazu kaum Fragen aber dennoch. Sie gehört halt nicht zu der Spezies die sich offen hinstellt und ihre Lebensgeschichte in die Welt hinausposaunt. Schlussendlich stellt sich immer wieder die Frage wer hier die Macht über wem hat! Hat das Trauma Liv voll im Griff oder Liv das Trauma? Genau diese Entwicklung beschreibt Furres brillant in diesem Buch. Der Leser wird auf eine rasante und äußerst emotionale Achterbahnfahrt mitgenommen. Man würde so gern mit Liv reden, ihr Mut machen endlich alles zu erzählen, damit ihre Seele zu erleichtern aber auch andere Frauen bzw. Menschen Mut zu machen diese Schandtaten öffentlich zu machen denn keiner ist damit allein! Liv ist mittlerweile so verbissen in diesem Trott das es schon selbst beim lesen weh tut. Sie muss ihren Weg selbst finden! Anders geht das nicht! Eine Wendung tritt ein als eine Patientin ins Pflegeheim eingeliefert wird, ja, aber hier gilt es auch Grenzen einzuhalten und diese zu wahren. Furres erzählt die Geschichte brillant! Sie reibt viele Themen auf bis sie schmerzen. Ihr Wortwahl ist passend und der Ausdruck ebenfalls. Selbstredend ist die Geschichte keine leichte Kost aber es ist ein Meilenstein wenn auch über solche Opfer berichtet wird!

    Ein gewaltiges Werk mit passendem Titel! 5 Sterne!

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  1. 5
    30. Jan 2023 

    Ein kleiner, aber mächtiger Roman

    In diesem Roman der norwegischen Schriftstellerin und Fotografin dreht sich alles um Macht. Aber eben nicht um politische Macht, sondern um die Macht über den eigenen Körper. Denn die namenlose Ich-Erzählerin hat vor 15 Jahren eine Vergewaltigung erleben müssen und kämpft seitdem um diese Macht, nachdem sie sie an einem Abend komplett verloren hatte.

    Mit lakonischer Sprache schildert uns die Erzählerin ihre aktuelle Lebenswelt. Sie ist Krankenpflegerin, verheiratet und hat zwei Kinder, einen Jungen und ein Mädchen, ist mittlerweile gut situiert. Diese finanzielle Unabhängigkeit nutzt sie, um durch luxuriöse Kleidung sowie teure Pflege- und Kosmetikprodukte ihren Körper nach den eigenen Vorstellungen formen zu können. Alles muss perfekt sein. Oder zumindest so scheinen. Denn sie meint auf der Straße anderen Frauen ansehen zu können, ob sie in ihrem Leben auch schon vergewaltigt worden sind. Eine von zehn Frauen in Norwegen hat diese Erfahrung machen müssen. Nun möchte Sie mit aller Macht die Kontrolle über ihren Körper zurück, hätte sie am liebsten nie abgegeben.

    Anhand kleinster, alltäglicher Situationen macht Furre deutlich, wie sich die Vergewaltigung ganz ohne Verfallsdatum noch viele Jahre nach dem Vorfall auf das Leben ihrer Protagonistin auswirkt. Der Gang zur Zahnärztin, das damit verbundene an die Decke starren und warten, dass es endlich vorbei ist. Einmal Angst gehabt zu haben, durch die Hand eines Mannes zu sterben und nun jede Nacht neben einem solchen im Ehebett zu liegen. Ständig der Bedrohung einen Schritt voraus sein zu wollen, ob beim Weg nachhause vom Bus oder bei der Krebsvorsorge. Immer die Kontrolle, die Macht behalten. „Ich bügele meine Blusen und reinige meine Haut. Das ist mein Überlebensmodus.“

    Der eigentliche Akt der Vergewaltigung wird dabei nicht detailliert von Furre geschildert. Das braucht es nicht, um den Horror einer solchen Tat zu verdeutlichen. Dabei hadert die Protagonistin doch auch stark mit sich selbst. Zweifelt in Gedanken noch Jahre später an, ob es überhaupt „definitionsgemäß“ eine Vergewaltigung war, ob sie sich nicht hätte mehr wehren sollen, ob es nicht doch ihre eigene Schuld war. Ganz meisterhaft lotet die Autorin mithilfe der Gedanken ihrer Erzählerin aus, was in unzähligen #metoo-Debatten seit dem Herbst 2017 zur Sprache kam. Sie ermöglicht es dabei ihrer Erzählerin den Vorfall und die Konsequenzen aus verschiedenen Blickwinkeln zu sehen. Wobei uns Leser:innen durchaus bewusst wird, dass diese Abwägungen für die Erzählerin mitunter eher Vermeidungsstrategien darstellen und sie in ihrer Heilung behindern. Sie berichtet uns von ihren mal mehr, mal weniger adäquaten Bewältigungsstrategien und wir dürfen sie ein Stück auf ihrem Weg der Bewältigung begleiten.

    Sprachlich ist der Roman sehr nüchtern aber dadurch auch immer unglaublich präzise formuliert. Auf den nur 170 Seiten finden sich unzählige prägnante Sätze, die lange nachhallen. Ebenso wie die ganze Geschichte dieses Romans, oder besser: dieser Frau. Denn es ist leider die Geschichte von so vielen Frauen (und weniger, aber auch Männern). Jede Person hat eigene Bewältigungsstrategien, hier bekommen wir eine Auswahl davon zu lesen. Das ist unglaublich aufschlussreich und einprägsam. Und letztlich vielleicht sogar aufgrund der lakonischen Sprache besonders erschütternd.

    Auch wenn die Autorin zum Ende hin ein wenig diese knackige Art der Beschreibungen aus den Augen verliert, finde ich den Roman einfach nur großartig. Dünn aber ungemein gehaltvoll, weshalb ich die Lektüre dieses Buches nur dringend empfehlen kann.

    Zum Abschluss noch ein Wort zur Gestaltung des Buches. Die Covergestaltung ist wirklich überwältigend treffend in seiner Mehrdeutigkeit. Erwähnenswert sind aber auch die beiden Fotografien auf dem Vor- und Nachsatz. Diese stammen von der Künstlerin Niki de Saint Phalle aus dem Jahre 1961. Eine Künstlerin, die sich Zeit ihres Lebens mit den Folgen einer Vergewaltigung auseinandergesetzt hat. Und sie spielt auch eine gewisse Rolle für die Erzählerin, sodass bei dieser Ausgabe des DuMont Buchverlags wirklich von vorn bis hinten alles durchdacht gestaltet wurde. Toll!

    4,5/5 Sterne

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