Lumpenroman

Buchseite und Rezensionen zu 'Lumpenroman' von Roberto Bolaño
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4 von 5 (1 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Lumpenroman"

Wenn Bianca ein Fisch wäre, dann wäre sie gerne ein Köderfisch. Einer von denen, den es nur in Anglergeschäften gibt und die dazu benutzt werden, ihre im See lebenden Eltern zu fangen. Das jedenfalls gibt die Ich-Erzählerin von Roberto Bolaños fulminantem Lumpenroman im Fragebogen einer Zeitschrift an, die an ihrem Arbeitsplatz herumliegt. Bianca arbeitet in einem Friseurladen in Rom. Und tatsächlich wird sie, ohne es zu wollen, schließlich selbst zum Köderfisch.

Seit ihre Eltern bei einem Autounfall starben, ist Bianca Waise. Gemeinsam mit ihrem Bruder, der in einem Fitnessstudio aushilft, lebt sie ein sinnleeres Leben zwischen TV-Shows und Pornofilmen. Dann ziehen zwei ebenso farblose wie zwielichtige Gestalten in ihre Wohnung, ein Bologneser und ein Nordafrikaner, besetzen das Ehebett und nehmen die Rolle der Eltern und der Liebhaber ein. Und Biancas Bruder macht über das Fitnessstudio Bekanntschaft mit dem ehemaligen Bodybuilding-Meister und Sandalenfilmstar Maciste, einem inzwischen erblindeten Ungeheuer, das Minotaurus gleich in einer labyrinthischer Villa haust und dessen sagenumwobenen Tresor Bianca ausfindig machen soll. Aber Bianca verliebt sich in den traurigen Mann – und sorgt am Ende doch fast dafür, dass er in einer Katastrophe ums Leben kommt.

Seit dem sensationellen Erfolg des Nachlassromans 2666 gilt Roberto Bolaños auch hierzulande als einer bedeutendsten spanischsprachigen Autoren an der Schwelle zum 21. Jahrhunderts. Lumpenroman bestätigt diesen Ruf. So zauberhaft hoffnungslos, so märchenhaft desillusionierend und sprachlich schön hat schon lange keiner mehr über die verlorene Jugend, sexuelle Leere und Erlösungsphantasien geschrieben.

Lumpenroman ist ein dünnes Buch. Und doch ersetzt es ganze Bibliotheken. -- Thomas Köster

Format:Taschenbuch
Seiten:112
EAN:9783596187850

Rezensionen zu "Lumpenroman"

  1. 4
    25. Jan 2016 

    Eine kleine Novelle der Einsamkeit...

    "Jetzt bin ich Mutter und auch eine verheiratete Frau, aber vor gar nicht langer Zeit war ich eine Kriminelle" - so beginnt Biancas Bericht. Nach dem tödlichen Unfall der Eltern leben Bianca und ihr Burder allein in Rom, ohne Trost und Ziel, und schlagen sich mit schäbigen Jobs durch. Bis eines Tages der Bruder zwei sinistre Kumpane mitbringt, die sich bei den Geschwistern einnisten und sie in ihren Plan einweihen: Sie wollen den sagenumwobenen Tresor von Maciste knacken, einem erblindeten Bodybuilder und Star aus den Gladiatorenfilmen der fünfziger Jahre. Bianca soll den Köder spielen und in seiner riesigen abgedunkelten Wohnung den Safe ausfindig machen. Eine Nacht nach der anderen gibt sich Bianca gegen Geld dem glatzköpfigen Muskelprotz hin, der aussieht wie ein 'kaputter Kühlschrank'. Aber der ursprüngliche Plan scheint nicht aufzugehen...

    "Von dem Moment an veränderten sich die Tage, oder vielmehr veränderte sich der Lauf der Tage. Oder vielmehr das, was den einen und den anderen Tag verbindet und zugleich eine klare Grenze zwischen beiden zieht. Auf einmal gab es keine Nacht mehr und war alles ein Dauerzustand von Sonne und Licht."

    Eine kleine Novelle der Einsamkeit präsentiert Roberto Bolaño hier. Er lässt Bianca erzählen von der Zeit nach dem Unfalltod ihrer Eltern, der alles anders werden ließ, die Sprache kühl und reduziert, die Ausweglosigkeit der Situation pragmatisch und nüchtern vor Augen führend. In einer nahezu emotionslosen, dokumentierenden und nicht wertenden Art lässt Bolaño das noch nicht volljährige Mädchen berichten von den Nächten voller Licht - und dennoch sieht sie niemand im überfüllten Rom in ihrer Einsamkeit und Trostlosigkeit. Selbst in der gemeinsamen Wohnung gibt es keine Nähe, nur Distanz, jeder kreist um sich selbst, und Bianca hört zunehmend auf, sich um sich selbst zu scheren.

    " Was hatten sie gesehen? fragte ich mich. Was für ein Gesicht, was für Augen hatten sie gesehen? Ich frage mich das nicht oft, aber irgendwann hatte ich mich das sicher gefragt. Jetzt weiß ich, dass es keine Nähe gibt. Irgendwer hat immer die Augen zu. Wenn der eine sieht, dann der andere nicht. Wenn der andere sieht, dann der eine nicht. Nur eine Mutter kann nah sein, aber das war damals das Unbekannte. Nicht Vorhandene. Es gab bloß die Illusion von Nähe."

    Trotz des nüchternen und distanzierten Schreibstils hat mich die Erzählung gepackt und sie bis zum Ende nicht mehr aus der Hand legen lassen. Immer wartend auf das, was da geschehen mochte, etwas, das einen Schnitt in die trostlose Einsamkeit zog, gespannt sein ließ auf das Ende - so oder so. Flüssig lesen ließ sich der Text, trotz der vordergründigen Emotionslosigkeit oftmals poetisch und im Hintergrund durchzogen von tiefer Traurigkeit. Für mich eine überzeugende Mischung.

    "Ich wartete auf etwas. Auf eine Katastrophe. Auf einen Besuch der Polizei oder der Frau vom Sozialamt. Auf die Ankunft eines Meteoriten, der den Himmel verdunkelte. Mein Bruder lieh sich Filme (...) aus und ich wusch Köpfe und nichts geschah."

    Für mich ein Zufallsfund, der sich als kleine Perle entpuppte...

    © Parden

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